Die Bilderwäscher der EM

von Sebastian Luther

Es ist ein Besuch der ganz besonderen Sorte. Zehntausende auf einem Fleck zusammengepfercht, es blitzt, qualmt, dampft und raucht, eine gewaltige Stimme donnert, gestützt von aberhunderten Kehlen. Es bietet sich das Panorama eines unglaublichen Gewusels, eines Ameisenbaus, das wir nicht restlos in seiner Gänze auffassen können. In schreiender Selbstvergessenheit scheint alles auf das Zentrum hingerichtet zu sein, auf das letzte wichtige Ereignis, ein schwarzes Loch der Aufmerksamkeit. Alles umweht ein Wind, ein Geruch – alkoholfreies Bier.

Ich glaube an das, was ich sehe

Das Bild, dass die Union of European Football Associations (UEFA) aus den Stadien der EM in Polen und der Ukraine zeichnet, bzw. sendet, ist von einer ebenso besonderen Sorte. Das Fernsehen wird hier seiner Rolle als Vermittler absolut gerecht, denn es vermittelt uns das Bild einer absolut heilen Fussballwelt. Die Spieler tragen den ‚Respect‘ nicht nur auf den Trikots, sondern auch in Kopf und Herz, wir sehen volle Ränge, hübsche Frauen, entzückte Fans und Trainer, die sich in scheinbar völliger Vergessenheit der nervenaufreibenden Partie sogar spitzbübische Späße erlauben. Was sehen wir da? Wir sehen das, was wir sehen wollen. Wir sehen Bilder einer friedlichen Europameisterschaft, die all diejenigen widerlegen, die immer noch behaupten, internationale Sportevents seien der Ersatz für Krieg. Es sind Sinnbilder der Völkerfreundschaft und -verständigung, vom friedvollen Miteinander von Trainern, Spielern und Fans aller Couleur. Es sind Bilder vom Planeten EM.

Bengalos? Politischer Protest? Leere Ränge? Nein.

Es sind Bilder vom Planeten EM und die UEFA überbringt uns die frohe Kunde von der Welt auf diesem Planeten. Und wie sehr sich diese Bilder von der EM unterscheiden, die tatsächlich stattfindet, zeigen die prominenten Beispiele: Bengalos beim Spiel Spanien gegen Kroatien, leere Ränge entgegen offizieller Verlautbarungen, die Stadien seien restlos ausverkauft, Protestplakate gegen Willkür und Einschränkung der Meinungsfreiheit, ein Flitzer, der den kroatischen Trainer herzt, oder dieses riesige Banner, das bei der Partie Polen – Russland für erhitzte Gemüter auf Seiten der Gastgeber gesorgt haben dürfte. Die Implikationen der russischen Fans sind eindeutig und verfehlen ihre Wirkung auf Seiten der Polen keinesfalls. Vor, während und nach dem Spiel kommt es zu massiven Ausschreitungen, wenn auch fast gänzlich außerhalb des Stadions, außerhalb des Blickwinkels der Kameras, fast schon am Rande des Bewusstseins. „Es ist die Philosophie der UEFA, ein neutrales Bild, das sich nur um den Sport kümmert, zu zeigen“, so Klaus Heinen, der während der EM der ARD-Programmchef im International Broadcast Center (IBC) ist. Das Bild des heilen, des fairen und neutralen Fussballs taucht hier wieder auf, wenn es auch ebenso wieder nicht zu kaschieren vermag, worum es vermutlich in Wirklichkeit geht.

Schneid den Altruisten, du wirst den Heuchler bluten sehen

Neben der Wahrheit versickert im Sumpf der UEFA vor allem eines: Geld. Bereits im Oktober 2010 berichtete die Phalanx der deutschen Printmedienlandschaft, FAZ, Spiegel, Süddeutsche und WELT, von einem Korruptionsskandal bei der Vergabe der EM an Polen und die Ukraine. Dass die UEFA als Antwort den „europaweiten Aufbau eines Netzwerk von Integritätsbeauftragten“ ankündigt, darf als indirektes Geständnis gewertet werden, warum sollte die UEFA schließlich auf völlig halt- und substanzlose Vorwürfe reagieren? Das fragwürdige Bild vom europäischen Fussballdachverband bereichert SZ Autor Thomas Kistner um eine weitere  ernüchternde Facette, indem er die Frage aufwirft, ob Partien überhaupt fair gepfiffen werden. „Ein Turnier mit Spaniern, Engländern und Deutschen im Viertelfinale ist schließlich viel attraktiver als eines mit Dänen, Ukrainern und Kroaten.“ Ist der Samen des Gedanken einmal gesät, so kann man ihn bestenfalls noch verdrängen, das Image der UEFA bleibt jedoch nachhaltig geschädigt. Welche Mannschaft auch immer am 1. Juli die Bessere sein möge, Europa als Fussballkontinent hat bereits kollektiv verloren.

Fotos: flickr/scottwills (CC BY-NC-ND 2.0), flickr/~Liliana (CC BY-NC 2.0)

Schwarz-Weiß-Malerei gegen vier Buchstaben

von Alexander Karl

Es ist (mal wieder oder immer noch) en vogue, gegen die BILD zu sein. Wer sich positiv äußerst, dem wird sofort vorgeworfen, mit dem Teufel zu paktieren. Gegen den Pakt-Deluxe, auch bekannt als die Verteilungsaktion der Jubliläums-BILD zum 60. Geburtstag an 41 Millionen Haushalte, konnte man sich wehren. 250.000 Deutsche taten dies und sagten im Vorfeld, dass sie kein Exemplar wollten – das war und ist ihr gutes Recht. Über 40 Millionen taten es demnach aber nicht, bekamen das Blatt und konnten damit tun und lassen, was sie wollten. Doch für BILD-Kritiker scheint diese Art der Meinungsfreiheit nicht genehm zu sein: Sie ziehen es vor, die BILD-Welt weiterhin in schwarz und weiß zu malen.

Ein Geburtstag nach Maß

Ob man die BILD zu ihrem 60. Geburtstag nun lesen wollte oder nicht, konnte tatsächlich jeder selbst bestimmen, auch bereits im Vorfeld. Viele Kritiker des Blatts haben es sich anscheinend nicht nehmen lassen und einmal in die verbotene Welt der großen Buchstaben und noch größeren Bilder geschaut und kamen zu schockierenden Erkenntnissen: Die BILD feiert sich in ihrer Gratis-Ausgabe zum 60. Geburtstag selbst! So heißt es etwa bei heise.de: „Denn das praktisch einzige Thema in dieser Bildausgabe ist die Bildzeitung selber. „The medium is the message“, prophezeite der kanadische Medienphilosoph Marshall McLuhan schon in den 1960er Jahren. Nie war der Satz wahrer als im Angesicht dieser selbstbezüglichsten aller selbstbezüglichen Zeitungsausgaben. „Oder auch der BILDblog. Da steht: „Es war noch viel weniger eine Zeitung, als wir im Vorfeld gedacht hatten, und noch viel mehr ein Werbeprospekt: In fast allen Geschichten ging es um „Bild“. Eine weitere Eintragung ins Guinness-Buch der Rekorde wäre also durchaus verdient: als selbstbezüglichste „Zeitung“ der Welt.“

Stellen wir uns den 60. Geburtstag von Tante Matthilde von nebenan vor. Wird sie Gäste einladen, die sie nicht mag und die sie nicht mögen? Wird sie gerne eine Runde schmutzige Wäsche waschen und sagen, was sie alles falsch macht? Sicherlich nicht. Ferner bedarf eine solche Sonderausgabe für 41 Millionen Leser einer gewissen Planung – seien es die redaktionelle Vorbereitung als auch der Druck der Zeitung. Wer hat wirklich erwartet, dass die Ausgabe einen Tag vorher angefertigt wird und aktuelle Themen behandelt? Zumal eine „normale“, also tagesaktuelle, BILD im Handel erhältlich war.

Wie blind die BILD-Gegner anscheinend auf beiden Augen sind, zeigt sich anhand der äußerst oberflächlichen Berichterstattung, etwa im BILDBlog. Da wird – haha! – ein Bild von einem weggeworfenen Exemplar verlinkt, anstatt sich das grandiose Interview mit Gerhard Schröder einmal genauer anzusehen. Schröder revidiert darin etwa seinen Satz „Zum Regieren brauche ich BILD, BamS und Glotze“. Er kritisert die Griechenland-Politik der BILD, wirft dem Blatt vor, seine Differenzierungen weggelassen und fernab der Realität berichtet zu haben. Zitat Schröder: „Das [die Berichterstattung über ein Portrait von Schröder] war das erste Mal, wo sich BILD – bezogen auf mich – ansatzweise der Realität angenähert hat!“

Wer dieses Interview aufmerksam liest, muss sich doch wundern, was es in diesem Sonderausgaben-Blatt macht. Denn die augenscheinliche Lobpreisung von BILD an BILD stößt in diesem Interview hart an ihre Grenzen und müsste die Frage nach sich ziehen, wieso das Blatt ein so BILD-kritisches Interview überhaupt bringt. Ansonsten ist die Jubiläumsausgabe tatsächlich etwas langweilig und enthält wenig Interessantes, dafür hat bild.de bereits Tage zuvor ins Archiv der Zeitung blicken lassen und Ex-Spiegel-Chefredakteur Stefan Aust die Geschichte der Zeitung schreiben lassen – und das durchaus kritisch. Vielen, selbst Günter Wallraff, ist aufgefallen, dass die BILD sich Stück für Stück wandelt und öffnet. Zwar sieht der Enthüllungsjournalist das Blatt noch immer in der Rolle des „gemeingefährlichen Triebtäters, der unter ständiger Beobachtung stehen muss“, aber hält dem Blatt etwa die Berichterstattung über den iranischen Musiker Shahin Najafi zu Gute und lobt sogar BILD-Chefredakteur Kai Diekmann.

Kritik ja, aber richtig

Watchblogs und medienkritsche Blogs sind nützlich für unsere Gesellschaft und die Medienlandschaft. Sie sind ein wichtiges Korrektiv. Aber es ist schade und kontraproduktiv, wenn die Gegner der BILD genau das tun, was sie dem Blatt eigentlich vorwerfen: Nämlich Schwarz-Weiß-Malerei, ohne auch einmal die Scheuklappen abzunehmen. Denn sonst erinnert die Aktion von Campact „Roter Umschlag oder Bild? Wir brauchen Ihre Rückmeldung!“ schnell an eine nette Mischung aus „BILD kämpft für Sie!“ und den 1414-Fotoreportern – nur eben mit anderen Vorzeichen. Übrigens – und das sollte man als Gegner der Zeitung eingesteht – beweist Chefredakteur Kai Diekmann in letzter Zeit viel Sinn für Humor und vielleicht sogar Verständnis: Campact-Aktivisten begrüßte er bei der Jahreshauptversammlung der Axel Springer AG im April mit Pseudo-Che Guevara-Shirt und Donuts, die er an die Demonstranten verteilte. Nun konterte er auf eine überdimensionale Rote Karte der Aktivisten mit einer Botschaft, die an jene Ansprache von Hans Leyendecker bei der Henri-Nannen-Preisvergabe erinnert. Man könnte das Gefühl bekommen, dass BILD die Augen nicht (mehr) verschließt. Ein Grund mehr für die BILD-Gegner, wach und offen zu sein.

flickr/mkorsakov (CC BY-NC-SA 2.0), flickr/campact (CC BY-NC 2.0)

Bücherliebe trifft Internetaffinität

von Alexander Karl, Sanja Döttling und Pascal Thiel

Köln im Juni 2012: Der Wind fegt entlang des Doms, wo sich media-bubble.de mit dem Gründer der literatur-community.de traf. Wie kommt man mit 16 Jahren auf die Idee, eine Literaturplattform zu gründen? Wie setzt man sich gegen die Konkurrenz ab? Und passen Internet und Bücher zusammen?  media-bubble.de im Gespräch mit Fabian Krott von literatur-community.de.

Facebook wählt die Cholera

von Sebastian Seefeldt

Die Bürger des Facebook-Staates hatten die Chance, über ein neues Grundgesetz in Sachen Datenschutz abzustimmen. Doch wer darin einen Fortschritt sieht, wird enttäuscht. Kritiker bemängeln: Die Wahl war eine bloße Farce.

Wahlbeteiligung gleich null

Facebook ist nicht irgendein virtueller Staat – in Bevölkerungszahlen ausgedrückt, ist Facebook das drittgrößte  Land der Welt. Mit seinen 900 Millionen „Einwohnern“ leben hier 11-mal mehr Menschen als in Deutschland. Umso skurriler, dass bei der Abstimmung über die neuen Datenschutzbestimmungen nur 0,0038 Prozent der Nutzer beteiligt waren – das entspricht in etwa der Einwohnerzahl der Stadt Wuppertal. Sind die Facebook-Nutzer nur uninteressierte Nichtwähler, oder steckt ein anderer Grund hinter der Wahlflaute?

Wahllokal unauffindbar

„Facebook ist stets bestrebt, ein transparenter und verantwortungsbewusster Dienstleister für unsere Nutzer zu sein, der schnell auf deren Anliegen reagiert. Deshalb suchen wir ständig nach neuen Wegen und Möglichkeiten, eine sinnvolle Nutzerbeteiligung in die Überprüfung unserer Richtlinien und Verfahren einzubringen.“

 

Dass diese Beschreibung , wie sie auf Facebook Site Governance zu lesen ist, weitestgehend unzutreffend ist, zeigt sich im Rahmen der Wahl: Wer das Dokument genau durchliest, stößt auf eine fragwürdige Passage: Das Ergebnis der Abstimmung ist erst dann verbindlich, „wenn mehr als 30% aller aktiven registrierten Nutzer daran teilnehmen. Sollten weniger als 30 % teilnehmen, so erhält die Abstimmung einen beratenden Charakter.“

Und Facebook sorgte dafür, dass diese 30 Prozent nicht erreicht werden. Wer sich, wie der Standarduser, auf Facebook einloggt, um ein wenig durch Timeline und Profile zu stöbern, wird von der Abstimmung nichts erfahren: Denn die Einladung bekam nur zu sehen, wer Facebook Site Governance abonniert hat – das sind gerademal 0,23 Prozent aller Facebook-Nutzer. Doch selbst diejenigen, die zum Kreis der Auserwählten gehörten und von der Facebook-Wahl erfuhren, konnten nicht viel ausrichten.

Pest und Cholera

„Welche Schriftsätze sollten die Nutzung von Facebook regeln?“ lautete die Frage, die zur Abstimmung stand. „Vorgeschlagene Dokumente“ oder „Bestehende Dokumente“ waren Antwortmöglichkeiten. Hinter den Dokumenten verbergen sich juristische Texte über die Datenschutzvereinbarungen, ohne Kommentare und ohne Angabe der Unterschiede. Für Nicht-Juristen also ellenlange Hieroglyphentexte. Was soll der Facebook-Normalo nun wählen? Gerademal eine Woche Zeit hatten die Facebook-Nutzer, um sich untereinander zu beraten und vor allem überhaupt auf die Abstimmung aufmerksam zu machen.

Schlussendlich blieb es eine Wahl zwischen Pest und Cholera, wie auch Facebook-Widersacher Max Schrems und seine Wiener Studentengruppe europe-v-facebook.org betonen. Kritiker bemängelten, dass sich Facebook durch die „vorgeschlagenen Dokumente“ mehr Rechte als bisher einräume. Europe-v-facebook.org kritisierte, dass aufgedeckte „Missstände“ beim Umgang mit Nutzerdaten mit den neuen Regeln legitimiert würden. Unter anderem sieht der neue Entwurf für die Datenschutzrichtlinien vor, dass Informationen länger als bisher aufgehoben werden können. In der neuen Ordnung heißt es dazu: „Wir werden Daten so lange einbehalten, wie dies erforderlich ist, um den Nutzern und anderen Dienstleistungen zur Verfügung zu stellen. Diese umfassendere Verpflichtung gilt für alle Daten, die wir über Dich sammeln und erhalten, einschließlich Informationen von Werbetreibenden.“

Facebook macht sich keine Freunde

Obwohl 87 % der Wählerschaft, wie von einschlägigen Blogs empfohlen, für das bestehende Dokument stimmten, kann der Konzern machen, was er will. Da die 30%-Hürde nicht überwunden wurde, erhält die Wahl nur einen „beratenden Charakter“. Das große Medienecho blieb aus – Facebook bleibt in seiner Handlungsfreiheit uneingeschränkt und wird die „vorgeschlagenen Dokumente“ als neue Richtlinien einsetzen. Der Datenschützer Thilo Weichert nannte die Abstimmung eine „Farce“, außerdem enthielten beide Alternativen rechtswidrige Klauseln.

Facebook zeigt, auf eine ganz eigene Art und Weise, wie gut sie das Social Networking verstehen. Und vor allem, wie sie es aushebeln können. Alle für Facebook typischen Eigenschaften wie Interaktivität, Multimedia, schnelle Klicks waren bei der Abstimmung nicht vorhanden – an echter Mitbestimmung hat der Konzern offenbar kein Interesse.

Bild: flickr/smemon (CC BY 2.0)

Große Bilder, wenig Worte – 60 Jahre BILD

von Nicolai Busch

Ein Boulevardblatt wird 60. Ein Leitmedium, eine Zeitung mit Machtanspruch, das sinnbildliche Megafon des deutschen Wutbürgers, der immerwährende Angriff auf Irgendetwas und Irgendwen – kurz – die BILD feiert Geburtstag. Wer BILD hört, denkt an landesweit einmalige, reißerische Schlagzeilen, die ein Entsetzen, eine Emotion, zumindest aber ein großes Gefühl heraufbeschwören. Wie kein zweites deutsches Printmedium hat sich BILD der Aufgabe verschrieben, der bürgerlichen Kollektiv-Fantasie, sei sie politisch-korrekt oder diskriminierend, geschmackvoll oder pervers, sinnvoll oder absurd, eine Stimme zu geben. Eine Stimme, die schreit, die laut ist und übertönt, die den Einen verstummen lässt und den Andren gar zur Stellungnahme nötigt.

BILD-Gegner klären auf

Für den Schriftsteller und Nobelpreisträger Günter Grass ist die Bildzeitung deshalb „ein Instrument des Appells an die niedrigsten Instinkte“ und „regelrecht widerlich“. Doch nicht allein Grass ist dieser Meinung. Die Liste der Bildgegner ist lang. Sie reicht von Hans Leyendecker, dem vielleicht profiliertesten, investigativsten Journalisten Deutschlands, über NGO’s wie Campact bis Günther Wallraff, der Mann, der bei Bild Hans Esser war, wie der Untertitel seines 1977 erschienen Buchs lautet, in dem der Enthüllungsjournalist seine Erfahrungen mit BILD-Redakteuren in der Lokalredaktion Hannover schildert. 60 Jahre BILD gehen Dank Wallfraff & Co. einher mit einer Bewusstseinsveränderung des BILD-Rezipienten sowie der Zeitung selbst. Niemals zuvor sind die journalistischen Fehler und ethischen Abgründe der BILD-Redaktion derart kritisch betrachtet worden, wie in den letzten Jahren. Vor allem die Gründung des mit Preisen überhäuften bildblogs im Jahr 2004 erwies sich als Meilenstein kritischer Medienbeobachtung im Netz. Auf bildblog.de wird auf Verstöße des 60 jährigen Geburtstagskindes gegen den Pressekodex aufmerksam gemacht. Hier wird der BILD ihr Status des Lustigen-Quatschblatts endgültig aberkannt.

Die Macht der BILD

In den letzten Jahren waren es die berühmten Feinde des berüchtigten Boulevardblatts, die im Rahmen ihrer investigativen Recherche und Aufarbeitung der in BILD ausgeschlachteten Inhalte auf einen stetigen Verlust von Macht, eine daraus resultierende Veränderung der redaktionellen Vorgehensweise und auf eine kulturelle Öffnung der Zeitung verweisen. In Bild.Macht.Politik, einer ARD-Dokumentation, die im April diesen Jahres erschien ist, erkennen Günter Wallraff und der Kommunikationsberater Wolfgang Storz, der 2010 und 2011 als Autor der Studie Drucksache.BILD der Otto Brenner Stiftung beteiligt war, klare Zeichen steigender Machtlosigkeit bei BILD innerhalb der letzten Jahre. „Auf der Ebene wichtiger poltischer Entscheidungen ist BILD heute ein zahnloser Tiger“, sagt Storz dort und begründet diese These u.a. mit der geplatzten Keinen-Cent-für-Griechenland-Aktion, in deren Rahmen BILD im November 2011 eine Volksabstimmung über die geplante Änderung europäischer Verträge gefordert hatte. Auch die geplatzte Blase um Karl-Theodor zu Guttenberg, den BILD vor dem Aufkommen des Plagiatsverdachts als möglichen Kanzlerkandidaten gehyped und während der Vorwürfe die Rückendeckung gesichert hatte, gibt Storz in diesem Punkt Recht.

Weg vom Schmuddelimage

Auch, wenn BILD zum Sturz des Bundespräsidenten Wulff entscheidend beitrug, hat das Blatt begriffen, dass heute Veränderungen nötig sind, um als Ausdruck von Volkes-Stimme auch politisch ernst genommen zu werden. BILD will seriöser werden. In dem 2011 im WDR gezeigten Film “Das Wallraff-Urteil und die Folgen“ bedauert Springer-Chef Mathias Döpfner die durch Wallraff aufgedeckten, schockierenden Recherchemethoden der Zeitung in den 1970ern und plädiert für eine Aufarbeitung damaliger Fehler.

Am 09. März, und damit ausgerechnet am Weltfrauentag, verabschiedet sich BILD nach 28 Jahren von zuviel nackter Haut auf Seite 1. BILD will weg vom Schmuddelimage. Und auch der Chefredakteur setzt auf Veränderung. Kai Diekmann trägt die Haare jetzt ungegelt. Die leicht verwegene Bartpracht und auch die schwarze, alternative Rundbrille stehen ihm gut. Der wohl mächtigste Journalist Deutschlands muss ein anständiger, gutmütiger und vertrauenswürdiger Mann sein. Das Image des rigorosen Geschäftsmanns passt nicht länger ins neue Konzept. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

Die digitale Zukunft der BILD-Zeitung

Anlässlich des 60. Geburtstags versendet BILD am 23. Juni 41 Millionen kostenlose Sonderausgaben an deutsche Haushalte. Eine teure Werbeaktion, die nicht überall auf Vorfreude stößt und sich bereits mit Gegeninitiativen zahlreicher BILD-Gegner konfrontiert sieht. Trotz solcher fragwürdigen Geburtstagsspäßchen im Stile des Print-Zeitalters gilt es, die Digitalisierungsstrategie des Springer-Konzerns nicht zu unterschätzen. Während das digitale Geschäft immerhin ein Drittel des Gesamtumsatzes bei Springer ausmacht, erweist sich bild.de bereits als das meistgelesene journalistische Angebot in Deutschland. Damit, dass sich BILD auch in Zukunft digitaler Trends bedienen wird, um weiterhin am Markt bestehen zu können, darf gerechnet werden. Gerade die anstehende, halbjährige “Forschungsreise“ Kai Diekmanns ins Silicon Valley, dem globalen Zentrum der Computer- und Internetindustrie, lässt für die nächsten Jahre eine voranschreitende Digitalisierung der BILD erahnen.

Im Alter von 60 Jahren begreift BILD zur rechten Zeit, dass eine wichtige Aufgabe des gedruckten Boulevards, nämlich die Suche, Verurteilung und Hinrichtung eines Schuldigen, heute Aufgabe des Cybermobs ist. Diesen gilt es im Netz zu mobilisieren und wirtschaftlich sinnvoll zu kanalisieren. Für eine Zeitung, die seit jeher, gleichsam dem Netz, ein professionelles Spiel mit den Gefühlen seiner Rezipienten betreibt, sollte diese Aufgabe nicht zum Problem werden. „Wenn Springer überhaupt ein Problem hat, dann vielleicht, dass das Unternehmen zu klein ist“; so Döpfner im April diesen Jahres in der ZEIT.

Fotos: flickr/fscklog (CC BY-NC-SA 2.0) , flickr/campact (CC BY-NC 2.0)

So viel bist du im Web wert

von Alexander Karl

Es ist ein Schreckensszenario: Der Wert eines Menschen wird nur noch in Likes, Kommentaren und Retweets gemessen. Das Lebewesen hinter den Posts verschwindet. Doch längst ist das Realität, zumindest dann, wenn man Klout nutzt. Die App misst nämlich die Reputation von Menschen anhand von Facebook und Twitter – und der gläserne Mensch verschwindet hinter Bits und Bytes.

Das Ideal: Justin Bieber

Klout, das ist die Schufa unter den Apps: Sie sagt, was ein Mensch im Netz wert ist. Ob anderen gefällt, was er tut. Ob er beeinflusst. Und ob er vernetzt ist. Berechnet wird das – mal wieder – über einen Algorithmus, der ähnlich wie Google verfährt. Nur werden hier keine Webseiten gerankt, sondern real existierende Menschen. Und das anhand von Twitter-Retweets und Erwähnungen, Facebook-Kommentaren, Likes und Chronik-Posts. Ist man auch bei LinkedIn oder Google+ angemeldet, werden auch dort Kommentare und Co. gemessen. Es geht also um drei Säulen: Die Verstärkung (Retweets und Co.), die Reichweite (wie viele Follower lesen meine Tweets?) und das Netzwerk (Habe ich Kontakt mit „wertvollen“ Personen?) – und fertig ist der eigene Online-Wert! Wer also mit Justin Bieber befreundet ist, viele Follower hat und der eigene Status von Lady Gaga geteilt wird, der kann sich sicher sein, auch bei Klout einen hohen Wert zu erreichen. Außerdem hilfreich: Viel posten und das am besten immer wieder zum gleichen Thema. Der Maximum-Wert bei Klout ist 100 (den hat Justin Bieber), der Durchschnitt liegt bei 20, und bei null – dann existiert man quasi nicht.

Klout-Scores ist auch für Firmen interessant, um Meinungsmacher zu finden. Denn wer beeinflusst, kann für das Unternehmen nützlich sein. Dann bekommt man Geschenke, etwa ein Windows Phone, weil die Firmen um den Einfluss der Privatperson wissen – und sie mit Werbegeschenken dem eigenen Produkt zuneigen wollen. Was sich im ersten Moment als ein nettes Gadget anhört, nimmt gerade auch in den USA erschreckende Züge an. Dort werden Leute mit 15 Jahren Berufserfahrung nicht eingestellt, weil ihr Klout-Score zu niedrig ist, andere mit höheren Scores bekommen den Job.

Wertlosigkeit 2.0

Die Analogie zur Schufa macht durchaus Sinn: Die Reputationswürdigkeit jedes Einzelnen ist nur einen Klick entfernt. Und wer nichts auf der hohen Kante hat, der ist raus. Aber kann man Klout und seinen Bewertungen überhaupt vertrauen? Der Blog netzwertig.com hat da so seine Zweifel:

Auch die Tatsache, dass der US-Jungstar Justin Bieber mit einer Klout Score von 100 nach Erkenntnis des kalifornischen Startups einen größeren Einfluss hat als Barack Obama (Klout Score 93), stellt die Validität der Klout-Algorithmen in Frage – es sei denn, man sieht Klout Scores tatsächlich als reinen Indikator der Onlinereputation, der vollkommen von Image und sozialer Stellung einer Person im “realen Leben” losgelöst ist. Doch eigentlich wollen wir im Jahr 2012 ja genau diese Separation von Online und Offline hinter uns lassen.

Und was den Datenschutz angeht – da muss man erhebliche Bedenken haben. Denn anscheinend wird jeder – egal ob bei Klout registriert oder nicht – im Vorfeld ein Wert zugewiesen, der dann bei der Anmeldung angezeigt wird.

Klout ist vor allem eines: Eine bittere Pille, wenn man ein normales Leben führt. Der Durchschnittsuser, der ein Facebook-Profil hat, wird bei Klout sicherlich keinen Spaß haben. Eher jene, die im Netz viel unterwegs sind und auch selbst posten. Aber in der Ideologie von Klout geht es dabei nicht um die Pflege und Intensität von Freundschaften, sondern von reiner Oberflächlichkeit und Massentauglichkeit: Poste ich etwa einen kritischen Artikel über das (Nach-)Leben im Web, ist das wohl nicht so massenkompatibel, wie wenn ich jeden deutschen Sieg bejubel und dafür Likes von Gleichgesinnten sammele. Aber sollte man deswegen nur noch mit dem Strom schwimmen? Bei jeder Freundschaftsanfrage erst einmal den Klout-Wert checken? Diese Ideologie führt im Endeffekt nur wieder zu einer Blase, in der nicht mehr das Individuum, sondern nur noch die Masse zählt – die Masse an Likes, Freunden und massentauglicher Freunden. Doch das sollte wohl kaum der Sinn des Internet sein. Denn trotzdem sind wir noch mehr als Bits und Bytes.

Übrigens: Mein Klout-Score beträgt derzeit 45. Ich bin also nicht einmal halb so viel Wert wie Justin Bieber. OK, damit kann ich trotzdem irgendwie leben.

Fotos: Screenshot klout.com (19.06.2012)

Ein Tisch tourt durch Tübingen

von Sandra Fuhrmann

Ich bin ein alter hölzerner Schreibtisch. Vielleicht kennt ihr mich ja – in der letzten Woche war ich in ganz Tübingen unterwegs. Was? Ihr denkt ein Tisch kann nicht wandern? Nun – das ist völliger Unsinn.

Gleich am Montag hatte sich unser Chefredakteur Alexander Karl mit seinem Laptop vor dem Clubhaus postiert. Zwar schlotterte er in seinem blauen Cardigan ein wenig vor sich hin, Unterhaltung hatte er dafür genug. Nur als einer der Passanten ihn dann fragte, ob er Hölderlin sei, da wirkte Alex doch ein wenig irritiert.

Tübinger Schreibtische“ ist somit eigentlich nicht ganz richtig. Tatsächlich war es nur ein einziger Tisch, der teilweise sogar mehrmals am Tag seinen Standort in der Stadt änderte. Man fand ihn an der Neckarbrücke, beim Baumarkt, auf dem Marktplatz oder am Bahnhof. In der Tat eine erstaunliche Agilität, die dieses nostalgisch anmutende Holzgestell an den Tag legte. Gewechselt hat der Schreibtisch nämlich nicht nur seinen Standort sondern auch die Menschen, die auf ihm schrieben.

Tibor Schneider fühlte sich am Bahnhof so wohl wie in seinem eigenen Wohnzimmer. Sogar einen Kartoffelsalat bekam er geschenkt. Dann noch ein Bierchen dazu – da schreibt es sich doch gleich doppelt so gut.

Die „Tübinger Schreibtische“ sind ein Teil des Projekts „Megafon“ über das media-bubble bereits in einem anderen Beitrag berichtete. Unter ihrem grünen Sonnenschirm strotzten die Tübinger Autoren Wind und Wetter. „Sie sind greifbar, sie sind in Echtzeit und es geht um eine große Offenheit“, sagt Maria Viktoria Linke, die leitende Dramaturgin des Landestheaters, die zusammen mit der Autorin Sandra Hoffmann das Megafon-Projekt leitet.

Die Autoren, die gewöhnlich unsichtbar zuhause in ihren Zimmern schreiben, sollten für Tübingen sichtbar werden – und Tübingen sichtbar machen. Jeder zu einer anderen Zeit und jeder an einem anderen Ort brachten sie ihren Blick auf die Stadt zu Papier – beziehungsweise auf den Bildschirm ihres Laptops. Elf Autoren waren von Montag bis Samstag in der Stadt anzutreffen. Zwei weitere flanierten inkognito durch die Straßen. Am 22. und 23. Juni werden sie ihre Texte im Landestheater präsentieren.

Wer am Mittwochvormittag zufällig am Bürgeramt vorbeispaziert ist, der hat dort mit großer Wahrscheinlichkeit Eva Kissel getroffen – und ist vielleicht unbewusst Teil ihres Textes geworden.

Man konnte sie sehen, man konnte sie vollquatschen oder man konnte sie ausfragen. Letzteres habe ich dann auch bei drei unserer Autoren an Ort und Stelle getan. Und weil es viel spannender ist selbst zu hören was mir Alexander Karl, Tibor Schneider und Eva Kissel alles erzählen konnten, gibt es meine Gespräche mit den Autoren hier als mp3.

Tübingen hallt und schallt – es lohnt sich also reinzuhören

 

Fotos: Jan Andreas Münster

Bedient euch! – Das Modell Open Source

von Sebastian Luther

Wir schreiben das Jahr 2050. Microsoft und Apple haben den Markt unter sich aufgeteilt: PCs, Tablets, Smartphones; alle Geräte sind zu einem einzigen verschmolzen der Black Box die uns Arbeiten und Zeitvertreib mühelos von Zuhause und unterwegs möglich macht. Die Bedienung von Gerät und Programmen ist intuitiv, Probleme gibt es de facto keine mehr. Falls doch, patchen die Hersteller nach dem Motto „Gefahr erkannt, Gefahr gebannt“ so lange die Konzerne das möchten.

Eine Annahme

Zurück in die Gegenwart: Heutzutage ist der Gedanke der Black Box heftig umstritten. Ein Gerät, das alle Funktionen und Anwendungsgebiete in sich vereint? Der US-amerikanische Wissenschaftler Henry Jenkins egalisiert die Black-Box-Hypothesen, da aus seiner Sicht die Konvergenzprozesse, die sich zwischen Produzenten und Konsumenten abspielen, wesentlich wichtiger sind. Spekulationen über das Gerät selbst sind tatsächlich müßig, betrachtet man die Entwicklung der letzten 40 Jahre. 1970 hatte ein Prozessor, also das Herz jedes rechenfähigen Geräts, noch um die 2000 Transistoren, die die Leistungsfähigkeit des Prozessors bestimmten. 2011 war diese Zahl bereits auf über zwei Millionen angestiegen. Die nach dem Mitgründer von Intel benannte Faustregel „moore’s law“ besagt, dass sich die Rechenleistung knapp alle zwei Jahre verdoppelt, so lange, bis physikalische Grenzen bei der Herstellung erreicht werden. Was also in weiteren 40 Jahren sein wird, kann nur abgewartet und beobachtet werden.

Betrachtet man allerdings das Konzept der Geräte, lassen sich durchaus Tendenzen erkennen. Eigene Text- und Datenverarbeitungsprogramme haben sowohl Microsoft als auch Apple schon seit Langem auf dem Markt und die Imperien, die um das jeweilige Betriebssystem konstruiert werden, wachsen und wachsen. Für Smartphones wurde eine eigene Software entwickelt, eigene Karten- und Navigationsdienste befinden sich in der Entwicklung (Apple wirft Google Maps raus, Microsoft hat Streetside). Ein alter Hut sind eigene Dateiformate, sowie der damit verbundene Ärger. Und Microsoft wird den Cloud-Service iCloud von Apple nicht lange auf sich sitzen lassen. Dass Entwicklungen aus dem gleichen Hause untereinander wesentlich besser kommunizieren können, ist offensichtlich. Für User ist das zunächst sehr vorteilhaft, und so bauen die Konzerne weiter an ihren Netzen.

 Von Spinnen, Wolken und Himmeln

Die Befürchtung, dass diese miteinander verknüpften Entwicklungen sich irgendwann als Spinnennetze entpuppen könnten, ist nicht von der Hand zu weisen. Wieso sollte Apple noch weiterhin Dateitypen von Microsoft unterstützen, wenn das eigene Format an Beliebtheit gewinnt, oder umgekehrt? Entscheidet man sich dann für ein System, kauft sich weitere Software und Geräte dafür, dann ist man schnell schon allein des finanziellen Investments wegen in diesem Netz gefangen.

Dass am 21. April 2011 nicht der Weltuntergang begonnen hat, haben wir dem imaginären, populärkulturellen Ursprung des Menschenfeinds zu verdanken: Skynet, das Computernetzwerk aus dem Terminator-Universum, existiert eben nur dort und konnte somit keine Toaster bzw. humanoide Vernichtungsroboter gegen uns in den Kampf schicken. Diese post-apokalyptische Dystopie spielt mit der Angst des totalen Kontrollverlusts, dass die Menschheit irgendwann vom eigenen technologischen Fortschritt überholt und als die auf der Erde dominierende Entwicklungsform abgelöst wird. Das muss nicht zwangsläufig in totaler Vernichtung enden, ist dennoch aber ein furchteinflößender Gedanke. Der ein oder andere wird dann die Analogie von Skynet zu iCloud mit einem Lachen abtun, aber ein fahles Gefühl behalten, dass ‚morgen‘ vielleicht gar nicht mehr so weit weg ist.

Ein Unternehmen ist auf maximalen Gewinn ausgerichtet. Das Ausbooten der Konkurrenz ist ein probates Mittel in diesem Kampf. Und auch die Kontrolle über unsere Daten, die wir bei Facebook, Google, Apple und Microsoft noch haben, wird von vielen als pure Illusion von Kontrolle gesehen. Wer sollte diese Mogule der Medienwelt in 40 Jahren noch hindern, wenn die eigene Überlebensfähigkeit in der vernetzen Welt von ihnen abhängt?

Open Source als Gegenentwurf

So weit wird es aller Voraussicht nach nicht kommen, wenn wir weiterhin die Unabhängigkeit unserer Versorgungswege beachten. Open Source bzw. die Open Source Initiative (OSI), basiert auf genau diesem Prinzip. Der Quellcode, also quasi die Blaupause, eines Programms wird, im Gegensatz zur Software von großen Unternehmen, veröffentlicht und darf nach diesem Prinzip sogar verändert werden. An Open Source Programmen arbeiten nicht zwangsläufig Entwicklerteams, die von einem Unternehmen für ihre Arbeit bezahlt werden, sondern Entwickler, die auf der ganzen Welt verteilt sind. An dem Open Source Betriebssystem Linux arbeiteten zuletzt über 7800 Menschen aus 80 Ländern, wenn auch nicht alle mit gleichem Einfluss. Es ist das gelebte Paradigma von Wissensgemeinschaften, nach dem niemand alles wissen kann, viele ihr individuelles Wissen allerdings zu einem großen Pool vereinigen können, auf den wiederum jeder zugreifen kann. Zwar ist der Marktanteil von Linux unter gewöhnlichen Desktop Rechnern sehr gering (ca. 1,0 % im Dezember 2011), jedoch werden Server oft mit diesem Betriebssystem versehen, da es als sicherer und einfacher zu warten gilt.

Sollte sich tatsächlich ein Unternehmen in Großmachtfantasien versteigen, dürfte die Popularität dieser Systeme in die Höhe schnellen, sofern nicht schon Kartellbehörden vorher eingreifen. Android, ein Linux-basiertes Betriebssystem für Smartphones und Tablets, dürfte auch den Konkurrenzkampf auf den entsprechenden Märkten ausgeglichen halten und hegemoniale Entwicklungen verhindern. Der faktisch messbare Anteil aller Open Source Anwendungen mag gering sein, gerade weil die Programme beliebig verändert werden können, die Idee, die dahinter steckt, ist jedoch umso stärker. Und was eine Idee im Ernstfall bewirken kann, dafür hat die Geschichte Beispiele im Überfluss zu bieten.

Fotos: flickr/trevi55 (CC BY-NC-SA 2.0), flickr/puntopixel (CC BY-NC-ND 2.0)

Die Q&As – Dildos, Käfige und kein Happy End

von Sanja Döttling

Am Samstag stellten sich die Stars der „Rise’n Shine“ Convention den Fragen der Fans und erzählten Anekdoten. Randy Harrison interpretiert seine Version der Brian/Justin-Liebesgeschichte auf ganz eigene Art, Sharon Gless hat einen Dreier mit Ehemann und Dildos, und Thea Gill hält eine flammende Rede für liebevolles Mobben. Ausschnitte aus den Q&As.

 

 

Ted und Emmett

Scott Lowell und Peter Paige spielen in der Serie Queer as Folk die beiden Freunde „Ted“ und „Emmett“. Auch am Set waren die beiden fast unzertrennlich. „Eigentlich sind wir keine Method-Actors“, sagt Peter, „aber als Em und Ted sich in der Serie streiten, haben auch wir nicht mit einander gesprochen. Das war hart.“ Natürlich haben Charaktere, die man 15 Stunden am Tag verkörpert, auch Auswirkungen auf die Schauspieler. War Scott mit der Welt im Allgemeinen unzufrieden, musste Peter manchmal zu ihm sagen: „Das bist nicht du, das ist Ted!“

Peter stritt sich am Anfang der Serie mit der Kostümdesignerin. „Sie wollte Emmett einen großen Gartenhut verpassen“, sagte Peter. Er hat sich geweigert. Auch Scott hatte eine unheimliche Begegnung mit den Kostümbildnern. Er sollte eine kurze Lederhose und ein sehr, sehr enges weißes Tanktop tragen. „Ist das der Charakter, für den ich vorgesprochen habe?!“ wunderte er sich damals. Zum Glück haben sich diese Kostümideen nicht durchgesetzt.

 

Michael, Ben und Hunter

Robert Gant spielte Ben, Micheals Lebenspartner. Sein Charakter war der erste im Fernsehen, der einen HIV-Positiven darstellte, der nicht sofort zum Tode verurteilt wurde. Ihr späterer Adoptivsohn „Hunter“ ist ebenfalls HIV-positiv. „Das war der Grund, warum die beiden Charaktere ein so strakes Band verbindet“, sagt Hal Sparks. Die Rolle des Hunters „deckte all das ab, was wir bis dato noch nicht in der Show hatten“, sagt Hal Sparks: Er ist HIV-positiv, Teenager und wird von einem schwulen Paar adoptiert, ist aber heterosexuell.

Als Michael herausfindet, dass Ben HIV hat, weißt er ihn zuerst zurück. „Es gab eine unglaubliche Rückmeldung aus dem Publikum. Viele haben protestiert, dass hier die Angst vor HIV weiter geschürt würde“, erzählt Grant. „Dabei hatten wir schon die gesamte Staffel gedreht und wussten genau, dass die beiden ein Paar werden“, ergänzt Sparks, „es ist seltsam, diese Reaktion so viel später zu erleben.“

Ein Fan wollte wissen, ob die Drei Gegenstände aus der Serie behalten haben. Sparks sagt: „Wir haben beide unsere Eheringe noch.“ Gant ergänzt:  „Ich habe Bens Sonnenbrille, sein Professor-Jacket und Lederjacke behalten.“ Ganz praktisch denkt Harris Allan, der heute noch seine Schwimmkappe aus der Serie benutzt. Sparks fügte nicht ganz ernst hinzu: „Ach ja, die Sexspielzeuge haben wir natürlich auch noch.“

Der Charakter des Michael in der britischen Version von „Queer as Folk“ ist ein großer Doctor Who Fan. Hal Sparks sagt: „Das bin ich auch, deshalb machte das für mich Sinn.“ Allerdings ist in den USA Star Trek sehr viel bekannter. Also war Michael kurzzeitig ein Trekkie. „Doch Paramount wollte uns keine Szenen zeigen lassen. Also riefen mich am Dreh nachts die Produzenten an und meinten: Was hälst du von Comicheften?“ Und so wurde Michael Comicheft-Fan. Allerdings wollte DC keine seiner Comics im schwulen Kontext sehen. Marvel war das egal: Ihre Charaktere durften verwendet werden.

Eine kleine Gesangteinlagen von Comedian und Sänger Hal Sparks fehlte auch nicht:

 

Mel und Linds

The Gill und Michelle Clunie stellten in der Serie das einzige lesbische Paar da. „Ich hatte nie zuvor einen so straken Charakter gespielt“, sagt Clunie. Beide hatten kein Problem mit den zahlreichen Sexszenen. „Der erste Kuss machte keinen Unterschied“, sagt Gill. Clunie ergänzt: „Das kommt immer auf die Person an, nicht auf das Geschlecht.“ Die Intimität herzustellen, die zwischen den beiden Frauen herrschte, war für die Schauspielerinnen keine Schwierigkeit, weil sie sich von Anfang an sehr mochten. Clunie plaudert noch etwas aus dem Nähkästchen: „Ich identifiziere mich zwar als heterosexuelle Frau, habe aber auch schon mit Frauen geschlafen.“

Allerdings war der Dreier mit dem Charakter Linda sehr aufwühlend für Gill. „Ich habe nach dem Dreh weinen müssen. Die Szene war gefüllt mit Energie. Drei so strake Frauenfiguren in einem Bett zu sehen, war überwältigend und – beängstigend.“ Diese Energie würde sich nicht entwickeln, wenn ein Mann im Spiel gewesen wäre.

„Meiner Meinung nach“, sagt Gill, „hat die Serie Grenzen überschritten. Sie hat gezeigt, dass Sexualität schmutzig und dreckig ist – und manchmal auch falsch.“ Sie spielt dabei vor allem auf die Storyline an, in der ihr Charakter Lindsay mit einem Mann fremd geht. Sie fährt fort: „Aber das ist nunmal das, was wir sind.“ Auf die Diskriminierung und Mobbing von Minderheiten angesprochen, wird sie leidenschaftlich: „Ich finde nicht, dass wir Mobbing einfach über uns ergehen lassen sollten. Wir müssen die Anderen mit unserer Liebe terrorisieren, bis sie uns akzeptieren. Seid einfach ihr selbst!“

Das Publikum hat Tränen in den Augen und schenkt Gill Standing Ovations. Als Gill Clunie auch noch küsst, tobt der Saal.

 

Justin und Debbie

Eigentlich sollte Randy Harrison zusammen mit Gale Harold, dem Star der Serie, hier sitzen. Doch Gale hat sich entschuldigt und so ist Sharon Gless an Randys Seite. „Ich bin Gale Harold“, stellt sie sich vor.

Eine Frage brennt den Fans natürlich besonders auf der Zunge: Was glaubt Randy, wie die Liebesgeschichte zwischen Brian und Justin weitergeht, nachdem Justin nach New York gegangen ist? „Naja, ich denke, dass Justin in NY Erfolg hat und Brian nach und nach vergessen wird“, sagt er schulterzuckend. Der Saal ist empört. Er lenkt ein: „Jeder kann sich ja seine eigene Interpretation der Geschichte vorstellen.“ Ein Fan brüllt: „Lies Fanfictions!“ und Randy muss lachen.

Sharon hat für ihren Charakter eine ganze Hintergrundgeschichte ausgetüftelt. „Ich glaube, dass Debbie immer ihren eigenen Beauty-Salon haben wollte. Deshalb sieht sie auch so verrückt aus. Debbie sollte am Anfang 17 Perücken haben, doch dieser Part wurde leider gekürzt. Allerdings wurde sie sehr früh schwanger, ohne Mann, und musste deshalb im Diner anfangen zu arbeiten. Ich denke, dass sie kein Workaholic, sondern ein Socialholic ist: Das Diner und die Leute dort sind ihr Leben.“

Obwohl die anderen Schauspieler sehr viel mehr Sexszenen fingieren mussten als Debbie, hatte auch sie eine etwas „schumtzige“ Szene zu spielen gehabt: Vor ihrem ersten Date mit dem Polizist Carl bekommt sie eine Lehrstunde zum Thema Oraler Verkehr. „Mein Mann besuchte mich ein einziges Mal am Set in diesen fünf Jahren. Es war natürlich just dieser Tag!“ lacht Sharon.

Am Ende steht der Saal, klatschend. Sharon greift sich noch einmal das Mikrofon und sagt sichtlich emotional: „Es ist wohl die letzte Gelegenheit, das zu sagen: Ihr seid wunderbar!“

Damit geht der Q&A-Teil der Veranstaltung zu Ende.

 

Niemand schaut Fußball

Am Abend saß ganz Deutschland vor dem Fernseher und guckte das erste Deuschland-Spiel der EM – Moment mal. Ganz Deutschland? Nein! Denn im Club Gallery stieg die „Babylon Party“ im Rahmen der Convention. Der Verwinkelte Club mit den vielen Nischen und Tanzflächen beherbergte an diesem Abend eine bunte Mischung aus Schwulen, Lesben, Fangirls und Drag Queens.

Rosa Lampen beleuchteten weiße, ornamenthafte Verzierungen, die Galerie umschloss die Haupttanzfläche und bot perfekten Blick auf den übergroßen Vogelkäfig für spektakuläre Tanzeinlagen.  Robert Gant traute sich als erster: Der Schauspieler schwang sich in den Käfig und heizte den Fans richtig ein. Später gesellten sich Peter Paige und Michelle Clunie noch zu ihm  auf die Galerie,  um richtig Party zu machen – und zwar zur Original-Party-Mucke aus der Serie. Scott Lowell traute sich dann auch noch und beglückte die Fans mit ungelenken, gekonnt-dämlichen Tanzeinlagen ganz im Stile seines Charakters Ted. Die Musik, die Schauspieler, die Stimmung – für einen Moment schien das Gallery im Herzen Kölns die berüchtigte Disco Babylon in Pittsburgh zu sein. Auch der Aufbruch der Schauspieler tat der Partylaune dann keinen Abbruch mehr.

 

Mehr Fragen beantworteten die Schauspieler auf der Pressekonferenz am Freitag.

Die Videos der Convention

von Sanja Döttling, Pascal Thiel und Alexander Karl