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SOZIALE MEDIEN – INWIEWEIT KÖNNEN SIE POLITISCHE ENTSCHEIDUNGEN UND PROZESSE POSITIV BEEINFLUSSEN?

Die gnadenlose Republik

von Pascal Thiel

Es ist der 4. Januar 2012. Das erste Mal in der bundesdeutschen Geschichte wird ein Bundespräsident von zwei Journalisten verhört. Ein Bundespräsident, der gezeichnet ist vom Kampf mit den Medien und seinen eigenen Verfehlungen. Ein Bundespräsident auf Abruf.

In einem Berliner Fernsehstudio setzt sich fort, was ein Jahr zuvor begann: Die lange Chronologie der Skandale in Angela Merkels zweiter Amtsperiode.

Damals hatte die Süddeutsche Zeitung ihre Mittwochsausgabe mit einem Titel eröffnet, der den damaligen Bundesverteidigungsminister Karl Theodor zu Guttenberg beschuldigte, in seiner Dissertation abgeschrieben zu haben. Was folgte, ist hinlänglich bekannt: Vorwürfe, Dementi, Rücktritt.

Einer der beiden Journalisten, die den zu dieser Zeit noch amtierenden Bundespräsidenten Christian Wulff zur Aufklärung und Beseitigung aller Vorwürfe bewegen sollten, war Ulrich Deppendorf. Im Rahmen der 10. Mediendozentur von Universität Tübingen und SWR diskutierte er im Festsaal der Neuen Aula die These einer „gnadenlosen Republik“.

Der Fall Wulff

Der Fall Christian Wulff habe zwei Dinge schonungslos offenbart. Zum einen ein katastrophales Krisenmanagement eines Präsidenten, der über seine eigene Vergangenheit gestolpert sei. Zum anderen einen Journalismus, der seine Grenzen weit überschritten habe.

Christian Wulff habe erfahren, was man den „Fahrstuhl-Effekt“ nenne. Mit den Medien – in diesem Fall mit der BILD-Zeitung – fuhr Christian Wulff hinauf, mit den Medien ging es fuhr er wieder runter. Doch auf letzterem Wege  sei die Medienmeute eindeutig zu weit gegangen.

Und das, so Deppendorf, spätestens als im Bundespräsidialamt die Anfrage einging, ob Wulff in seiner Schulzeit Mitschüler mit Schokolade und Kleingeld geschmiert habe, um Klassensprecher zu werden. Oder woher denn das zweite Bobby Car käme, das plötzlich in der Wulffschen Garage aufgefunden worden sei.

Kritischer, investigativer Journalismus ist die Grundlage von informierten Öffentlichkeiten in einer Demokratie. Doch, so der Leiter des ARD-Hauptstadtstudios, hätten manche Blätter die „Grenze seriöser Berichterstattung schnell überschritten“. Mit einem „Herdentrieb“, den es bei keiner anderen Person zuvor gegeben habe, habe man den gescheiterten Präsidenten vor sich hergetrieben.

War der Rücktritt also doch nur einer medialen Hatz geschuldet? Als logische Konsequenz einer atemlosen Jagd nach neuen Enthüllungen? Nein, sagt Deppendorf. Wulff könne und dürfe man nicht als Opfer einer medialen Kampagne darstellen. Zwar sei das mediale Verhalten hoch problematisch gewesen, dennoch habe Christian Wulff ein „für einen Präsidenten unwürdiges Verhalten an den Tag gelegt“. Hinzu kommen ein „miserables“ Krisenmanagement und die Fehleinschätzung, alte Verstrickungen ohne Konsequenzen hinter sich lassen zu können. Erst die angesetzten Ermittlungen hätten ihn dann endgültig untragbar gemacht für das Amt.

Ist in diesem Fall doch eine gewisse Gnadenlosigkeit zu erkennen, positioniert sich Deppendorf klar auf der Seite der „nachbohrenden“ Medien. Denn: Es sei ihre Pflicht und Aufgabe, Skandale, Missstände et cetera aufzudecken und aufzuklären.

Schavan, Brüderle und de Maizière

Nicht nur die Medien und der Journalismus, sind Teil der „gnadenlosen Republik“. Auch die Politik hat ihren ganz eigenen Anteil. „Überzogene Zuspitzungen“ führten zu einem immer unruhigeren Zusammenleben der beiden Parteien. Der Journalismus leide zudem unter immer extremeren Geschwindigkeiten, zur Reflexion bliebe oft nur wenig Zeit. Die Politik beschleunige dies sogar, etwa durch eigenständige Berichterstattungen in sozialen Netzwerken wie Twitter oder Facebook.

Schreitet man voran in der Chronologie der Skandale, so fällt eine grundlegende Entwicklung auf: Obwohl die Berliner Politik in diesem Jahr schon von drei Skandalen erschüttert wurde, üben sich Medien wie Politik zunehmend in Zurückhaltung. Diese sei seit Jahresbeginn mit den einzelnen Skandalen gewachsen. Während man bei Brüderles Sexismusvorwurf noch sofort nach Rücktritt schrie, erledigte das Anette Schavan im Zuge ihrer Plagiatsaffäre von selbst – und Verteidigungsminister de Maizière ist nach dem Drohnendisaster trotz gewaltiger Kommunikationsprobleme seines Ministeriums noch im Amt. Letzterer nahm sich gar drei Wochen zur Aufklärung Zeit – die Empörungsmaschinerie bleibt ruhig.

Hat man also aus dem Fall Wulff gelernt? Hat der Journalismus seine Grenzen kennengelernt? Diese Fragen seien nicht leicht zu beantworten, da es sich bei Schavan, Brüderle und de Maizière nicht um gewöhnliche „Fälle“ handele.

Weil sich der stille Typ Schavan in den Medien nie inszeniert habe, habe die Vertraute der Bundeskanzlerin, die sich 2011 noch schadenfroh über den Rücktritt von KT gefreut hatte, medial wenig zu befürchten. Und tatsächlich: Eine Medienschelte blieb aus.

Der Fall Brüderle indes hat gezeigt, wie kolossal ein medialer Putsch nach hinten losgehen kann. Wohl als Gegenschlagzeile zur Vorstellung des Wahlkampfduos Rösler/Brüderle (FDP) geplant, machte der Stern am 24. Januar diesen Jahres mit dem Vorwurf auf, Brüderle habe eine Redakteurin sexuell belästigt. Was folgte, war eine halbherzige Sexismusdebatte, Unschuldsbekundungen, Empörung über einen „verunsicherten Politiker“ und dasselbe über eine „professionell geschädigte Kollegin“.

Die Drohnenaffäre hingegen brodelt noch. Ob sie im Wahlkampfjahr weiterhin Wellen schlagen wird, wird sich in den nächsten Tagen entscheiden. Einen Rücktritt hält Ulrich Deppendorf für unwahrscheinlich, da für diesen Posten „qualifiziertes Personal“ im Regierungslager nicht zur Verfügung stehe.

Lehren?

Der Politikjournalismus habe gelernt, wie weit er gehen könne, sagt Deppendorf. Regelrechte Jagdszenen wie beim ersten großen Skandal nach dem Umzug von Bonn nach Berlin, dem Parteispendenskandal, scheinen der Vergangenheit anzugehören. Dass der Journalismus nicht nach Skandalen schreien darf, sondern sich – im Besonderen im digitalen Zeitalter – seinen Kernaufgaben widmen müsse, sieht auch Deppendorf so: Transparenz vermitteln, Hintergrundinformationen bereitstellen, die Informationsflut des Internets filtern, für eine Diskussionskultur sorgen. Und noch viel mehr. Nicht im Einklang, aber in Kooperation mit der Politik. Denn, so Deppendorf, einer „gnadenlosen Republik“ könnten nur beide Seiten zusammen entgegenarbeiten.

 

Bilder: wikimedia commons/avda  (CC-BY-SA-3.0), flickr/mp_fries (CC BY-ND 2.0)

Online regieren.

von Pascal Thiel

Das digitale Zeitalter hat nun auch die Politik erreicht. Man hat erkannt, dass das Internet nicht nur eine „Modeerscheinung“ ist, sondern zum eigenen Vorteil genutzt werden kann. Da kamen clevere Politiker auf eine geniale Idee: Warum nicht online regieren? Sie entwickelten ein Konzept und nannten es „E-Government“.

Doch was kann man nun darunter verstehen? Wählt man ab sofort per Mausklick statt im Wahllokal? Kommt der Personalausweis per E-Mail? Wird jemanden anzeigen so leicht werden wie Pizza bestellen? Kann ich mit meinen Behörden chatten?

Die Wahl per Mausklick könnte eines Tages tatsächlich Realität werden, jedoch ist das noch Zukunftsmusik. Das E-Government steckt noch in den Kinderschuhen.

E-Government

Doch was ist nun „E-Government“? Das Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung der Deutsc

hen Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer definiert E-Government als einen Überbegriff der „Abwicklung geschäftlicher Prozesse im Zusammenhang mit Regieren und Verwalten (Government) mit Hilfe von Informations- und Kommunikationstechniken über elektronische Medien“. Das bedeutet vereinfacht: regieren und verwalten im Internet.

E-Government umfasst demnach nicht nur, wie allgemein angenommen, die internetbasierte Kommunalverwaltung („E-Workflow“ oder „E-Administration“), sondern darüberhinaus interaktive Partizipationsmöglichkeiten („E-Democracy“). Während der Begriff der „E-Administration“ Systeme und Anwendungen zur Verwal

tung unter sich vereinigt, umschließt „E-Democracy“ moderne politische Informations-, Kommunikations- und Partizipationsmöglichkeiten, beispielweise Systeme für Online-Durchführungen von Wahlen, Volksabstimmungen, etc.

Die Internetseite des Deutschen Bundestages ist ein Musterbeispiel der „E-Democracy“. Hier kann man sich über die Geschäfte des Parlaments informieren, mit den Körperschaften kommunizieren (über eine Adressenliste) und durch den Download von zum Beispiel Petitionsformularen am politischen Geschäft partizipieren. Für diese breite Auswahl wurde die Internetseite 2007 mit dem World Summit Award in der Kategorie „E-Government“ ausgezeichnet.

E-Rules

Die Bundesregierung sieht in der „Informationsgesellschaft große Chancen auch für die öffentliche Verwaltung“. Daher ist die Förderung des E-Governments im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und FDP von 2009 festgeschrieben: „Wir werden […] E- Government weiter fördern und dazu wo und soweit notwendig, rechtliche Regelungen anpassen (E- Government-Gesetz).“ (Seite 102). Anmerkung: Diese Pläne gehen bisher nicht über die „E-Administration“ hinaus.

Seit März 2012 liegt ein entsprechender Gesetzesentwurf vor. Dieser sieht vor, die grundlegenden Voraussetzungen der „E-Administration“, zu schaffen und hält die Kommunen an, „ihre Akten elektronisch auf dauerhaften Datenträgern führen“ und dabei „die Grundsätze ordnungsmäßiger Aktenführung“ zu beachten. (Art. 1, Abschn. 2, § 6, Abs. 1). Dabei soll laut dem Bundesinnenministerium ein „effizientes, nutzerfreundliches und prozessorientiertes E-Government“ entstehen und Hindernisse wie etwa Medienbrüche, also Hindernisse beim Übersetzen von Daten vom einen Medium ins andere (z.B. handschriftliche Formulare in Onlineformulare), verhindert werden. Wann und gegebenenfalls mit welchen Änderungen der Entwurf behandelt und verabschiedet wird, ist allerdings noch unklar.

Die Kanzlerin versuchte sich schon im Rahmen des „Zukunftsdialogs“ am Internet (wir berichteten). Da steckten die Partizipationsmöglichkeiten aber noch in den Kinderschuhen.

E-Benefits

Dabei könnten durch das „E-Government“ und besonders durch die „E-Administration“  enorme Kosten eingespart werden. Bei der E-Government-Initiative „BundOnline 2005“ wurden durch die internetbasierte Verwaltung beispielweise 400 Millionen Euro eingespart – Vorteil für den Steuerzahler. Zudem verbessert die „E-Administration“ den Kontakt zwischen dem Bürger und der Behörde, da rund um die Uhr Informationen erreichbar sind, Eingaben getätigt und automatisch bearbeitet werden können. Damit ist der Bürger nicht von starren – zumeist durchaus ominösen – Öffnungszeiten abhängig.

Auch der Staat verbucht Positives: Er spart nicht nur – wie oben beschrieben – enorme Kosten ein, sondern auch Personal, das aufgrund von automatisierten Prozessen nicht mehr notwendig ist.

Vorteile gibt es zu guter Letzt auch für Unternehmen, da aufgrund der Digitalisierung Behördengänge überflüssig werden, somit der bürokratische und administrative Aufwand stark reduziert wird.

E-Data

Sollte „E-Government“ in das Verwaltungswesen Einzug erhalten, befürchten viele große Probleme mit den neuen, immensen Datenmengen. Daher stellen sich elementare Fragen: Wird die Privatsphäre weiterhin geachtet bleiben? Sind die Daten sicher? Wie können die Daten geschützt werden? Welche neuen Gefahren entstehen?

Gerade in Bezug auf die Privatsphäre gibt es einen lebhaften Diskus. Kritiker befürchten, über die Frage, „E-Government“ führe geradewegs zum Schreckensszenario des „Gläsernen Menschen“. Sie warnen vor virtuellen Datenabbildern der Menschen und einer damit verbundenen Auflösung der Grenzen zwischen Privatem und öffentlich Zugänglichem.

Doch ist eine Digitalisierung der Verwaltung und somit auch der persönlichen Daten nicht überfällig? Wenn die Antwort darauf positiv ausfallen soll, so reiht sich die Frage nach dem Schutz der Daten hintenan. Denn dieser stellt womöglich die größte Herausforderung dar: Die speicherbedürftige Datenmenge würde mit Einführung des „E-Governments“ enorm ansteigen. Doch beim Transport wie auch im verarbeitenden System sind die Daten Hackerangriffen, Trojanern und Viren bei Fehlen einer lückenlosen Sicherheitssoftware schutzlos ausgeliefert. Davor warnen insbesondere die Datenschutzbeauftragten von Bund und Länder: Die Nutzer dürfen sich keine Sorgen über die Sicherheit ihrer Daten machen müssen.

Viele offene Fragen mit Klärungsbedarf: Zweifelsohne wird E-Government eines Tages Realität werden, nur wann ist fraglich. Zwar gibt es bereits einige Angebote und Konzepte, doch umfassende staatliche Problemlösungen sind noch Mangelware. Das heißt für den normalen Bürger bis auf weiteres: Pizza online, Anzeigen im realen Leben.

 

Foto: flickr/Flyinace2000 (CC BY-SA 2.0)

Was gesagt werden musste?

von Pascal Thiel

In einer Zeit, die von audiovisuellen Medien wie vom Internet geprägt ist, da man alle Information dem Fernsehen, dem Radio, dem Internet oder der Zeitung entnimmt, hat ein Gedicht – wenn der Anspruch auf diese Bezeichnung überhaupt zulässig ist – für ein mediales Echo gesorgt, das seinesgleichen sucht. Der Verfasser, hochwürdiger Träger des Literaturnobelpreises, empfand den Drang, zu sagen, „was gesagt werden muss“ – doch musste es das? Doch auch die Frage, wie es ein Gedicht noch heute zu solch Beachtung schafft, man beachte die Schelte, die Günther Grass und seinem Gedicht wiederfahren ist, mit dem Vorwurf, es verkenne die Realität.

Was gesagt werden muss“ – Ein bemerkenswerter Titel, der Neugier erweckt, mit welch weisen Worten sich der Literaturnobelpreisträger von 1999 an das Volk wenden möchte. Zweifelsohne vermutet man kritische Worte, doch was folgt, ist weniger ein gesellschaftskritisch-philosophischer Appell, denn eine wirre Folge von teils korrekten, dennoch aber zuhauf verzerrten Tatsachen. 

Was gesagt wurde

Während Grass in Teilen des Gedichts relativ allgemein bleibt (Warnung vor „brüchigem Weltfrieden“, Aufforderung zum „Verzicht auf Gewalt“)wird er doch in manchen Dingen sehr konkret. Grass spricht vom „behaupteten Recht auf den Erstschlag“ Israels gegenüber dem iranischen Staat und der Gefahr, dass der jüdische Staat dessen Volk „auslöschen“ könne, nur weil dort eine Atombombe vermutet werde.

Die Tatsache, dass Israel einen Präventivschlag gegenüber dem Iran nicht mehr ausschließt, darf nicht die eigentliche Ursache der existenziellen Angst der Führung Israels verdrängen: Die feindliche Haltung des iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad, der den Holocaust leugnet die Existenz Israels in Frage stellt. Vielleicht ist es gerade die Strategie des iranischen „Maulhelden“, wie es Grass formuliert, Israel durch eine gezielte Provokation zum Präventivschlag zu drängen und somit einen „legitimen“ Grund für einen – womöglich mit einer ungeahnten Wucht geführten – Gegenangriff vorweisen zu können.

Grass jedenfalls scheitert mit einer realitätsnahen Argumentation bereits in der zweiten „Strophe“; die Annahme der „Unschuld“ des Iran zieht sich durch das gesamte Gedicht. Das wird auch später deutlich, als er Israel als „Verursacher der erkennbaren Gefahr“ darstellt.

Doch ungeachtet all dieser problematischen bis falschen Aussagen, so muss man sich doch zwei Fragen stellen: Warum hat Grass dieses Gedicht veröffentlicht? Und: Warum löst in unserer Zeit, die von Print- und audiovisuellen Medien geprägt ist und Gedichte dem gemeinen Bürger allenfalls in Form von Schulliteratur über den Weg laufen, ein Gedicht ein solch öffentliches Echo aus?

Was gesagt werden sollte

Grass’ eigene Erklärung bezüglich seinem Motiv zur Veröffentlichung eines solchen Gedichts findet sich in diesem selbst: Er spricht aus, was aus seiner Sicht überfällig ist, eben was „gesagt werden muss“: Die intendierte Bitte war wohl, die israelische, auch als konfrontativ zu bezeichnende Politik kritisch zu betrachten. Dies ist legitim und durchaus berechtigt, doch hätte sich gerate der Literat nicht zu einer solch parteiischen Stellungnahme hinreißen lassen dürfen.

Im Gegenteil: Eine objektive Darstellung der Verfehlungen beider Seiten, allerdings mit realitätskonformer Betrachtung der Tatsachen wäre angebrachter gewesen. Argumentiert man mit dem Motiv des Künstlers, der mittels Provokation eine Debatte anstoßen will, so muss man feststellen, dass auch diese Taktik gescheitert wäre. Die Folgen dieses Fehlers sind bekannt: Nicht das Thema, das Grass ins Lichte der politischen Debatte führen wollte, ist omnipräsent, sondern wie schon so oft seine zu lang verschwiegene SS-Mitgliedschaft, seine im Tenor der Öffentlichkeit vermutete israelfeindliche Haltung, seine Unfähigkeit, einem Gedicht ein gedichtartiges Format zu geben. Konkret: Grass hat sich und seine Person – wenn auch womöglich unwillentlich – selbst in den Fokus der Debatte katapultiert.

Prominentes Phänomen

Das Phänomen von „spektakulären“ Veröffentlichungen von Seiten prominenter Persönlichkeiten als Versuch zum Anstoß von Debatten ist im Übrigen nicht neu. Bereits vor zwei Jahren erregte das damalige Deutsche-Bank-Vorstandsmitglied Thilo Sarrazin mit seinem Buch „Deutschland schafft sich ab“ großes Aufsehen. Auch damals wurde vorrangig über die Person Sarrazin und seine doch etwas eigenwillige Sicht der Dinge geredet, weniger über das eigentliche Thema.

Ungeahnte Beachtung eines vermeintlich alten Formats

Die zweite Frage, wie Gedichte gerade in unserer hochmediatisierten Zeit noch zu solch Beachtung gelangen, obwohl sie doch eine für unsere Information eher unwesentliche Quelle sind, ist schnell beantwortet. Drei Faktoren genügen, um ihnen gewaltige Bedeutung zu verleihen: zum einen der brisante Inhalt, zum zweiten die Prominenz seines Verfassers und zum dritten die Veröffentlichung durch ein relevantes Medium.

Der brisante Inhalt wurde bereits oben angerissen. Die Prominenz des Verfassers bringt eine, manche prominente Personen irritierende, verstärkte Aufmerksamkeit mit sich, konkret: Als Literaturnobelpreisträger ist es gewiss, dass sich auf jede Publikation und Veröffentlichung eine Meute von Kritikern stürzt und jeden Satz auseinandernimmt. Dass das Gedicht von nahezu allen großen deutschen Zeitungen (z.B. SZ, FAZ) abgedruckt wurde, verdankt Grass eben diesem Titel. Ähnlich wie beispielsweise die Vereidigungsrede unseres neuen Bundespräsidenten erfuhr das Gedicht durch diese Prestigemedien eine weite Verbreitung. Von dort ist der Weg ins Internet und somit in die ganze Welt nur noch ein Katzensprung.

Foto:  Florian K.

Neues Traumpaar? Internet und Politik.

Eine belastete Beziehung, die zwischen der Politik und dem Internet. Gerade auch in Deutschland. Nun entdeckt selbst die Bundesregierung das Internet für sich. In den USA ist man da weiter: Da spielt sogar Facebook Wahl-Orakel.