Punktsieg für die Internetfreiheit

von Pascal Thiel

2012 war es soweit: Gefühlt ein halbes Jahrhundert nach Erfindung des Internets planten auch die Vereinten Nationen ihre Regularien der Telekommunikation an das digitale Zeitalter anzupassen. Eine Große Debatte – auch die Internetfreiheit sollte Teil von ihr sein. Doch einige Mitgliedsstaaten drängten in Richtung Internetkontrolle. Ist das Internet, wie wir es kennen, in Gefahr?

Das institutionelle Setting: Die ITU

Bereits 1856 als „International Telegraph Union“ gegründet, ist die „International Telecommunication Union“, kurz ITU, seit 1947 fester Bestandteil der Vereinten Nationen. Seitdem haben sich unter ihrem Dach Delegierte fast aller UN-Mitgliedsstaaten zur einzigen UN-Sonderorganisation im Informations- und Kommunikationssektor konstituiert. Zu ihren zentralen Aufgaben gehören die globale Organisation des Funksektors (Radio, TV, etc.), die Festlegung von weltweiten Standards im Zuge der Globalisierung der Telekommunikationsmedien und Entwicklungshilfe, um den „digital divide“, die digitale Kluft zwischen Industrienationen und Entwicklungsländern, zu überwinden.

Hinsichtlich ihres neuen Arbeitsbereichs „Internet“ blickt die ITU auf eine recht spärliche Historie zurück. 2003 und 2005 traf man sich zum „Weltgipfel zur Informationsgesellschaft Teil 1 und 2“ , wobei grundlegende Prinzipien und Handlungsabsichten bezüglich neuer technologischer und gesellschaftlicher Entwicklungen in der digitalen Informationsgesellschaft verabschiedet wurden. Diese zwei Konferenzen können als erste Gehversuche der Vereinten Nationen hinsichtlich des Internets gewertet werden.

Internet Governance – ein Streitthema…

Beim zentralen Thema dieses Artikels, der „Internet Governance“, fallen den Vereinten Nationen Entscheidungen schwer. Um trotz verschiedener Ansichten auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen, rief der ehemalige UN-Generalsekretär Kofi Annan die „Working Group on Internet Governance“ (WGIG) ins Leben. Eine ihrer diversen Aufgaben ist die Definition des Ausdrucks „Internet Governance“:

Internet governance is the development and application by Governments, the private sector and civil society, in their respective roles, of shared principles, norms, rules, decision-making procedures, and programmes that shape the evolution and use of the Internet.

Im Zuge der Weltgipfels 2003 gegründet, stellte sie bei der Nachfolgekonferenz 2005 einen umfassenden Empfehlungskatalog hinsichtlich der Internet Governance vor. Dessen politische Umsetzung scheiterte aber an der Kompromissunfähigkeit der Verfechter des Status Quo auf der einen Seite und den progressiven, mehr Internetkontrolle fordernden Staaten auf der anderen Seite. Das ebenfalls 2005 gegründete „Internet Governance Forum“ (IGF), zur Konsensfindung geschaffen, indes brachte – abgesehen großer Reden – auch keinen Fortschritt.

Die Hoffnung auf eine Pfadänderung war groß, als Delegierte aller ITU-Mitgliedsstaaten Anfang Dezember 2012 nach Dubai reisten. Auf der „World Conference on International Telecommunications“ (WCIT) sollte endlich der große Durchbruch erreicht werden.

… auch auf der WCIT 2012

1988 wurden in Montreal auf der „World Administrative Telegraph and Telephone Conference“ (WATTC-88) mit den „International Telecommunications Regulations“ (ITR) erstmals grundlegende Regeln für den Betrieb moderner, internationaler Telekommunikationsdienste festgeschrieben. Mit der Anpassung dieser an die gegenwärtigen Entwicklungen und Herausforderungen des digitalen Zeitalters, wollte die ITU auf der WCIT 2012 das Bild der fortschrittslahmen UN-Unterorganisation endlich vergessen machen.

Doch die ITU verfiel in alte Muster: Wieder kristallisierte sich die gewohnte Konstellation aus Befürwortern und Gegnern einer verstärkten Internet Governance heraus. Während sich allen voran vier arabische Staaten mit ambitionierten Vorschlägen in den Mittelpunkt katapultierten, rieten „ITR-Minimalisten“ (heise.de)wie die USA, oder die EU zur Mäßigung.

Besonders ein von Russland, den VAE, China, Saudi Arabien, Algerien, Sudan and Ägypten eingebrachter Ergänzungsantrag (siehe Seite 6 des Dokuments)  zu den ITR wurde heftig diskutiert. Bei Verabschiedung hätte dieser Staaten das „souveräne Recht“ gegeben,

„öffentliche und internationale Policies, Angelegenheiten der Internet Governance betreffend, festzulegen und zu implementieren sowie das nationale Internetsegment zu regulieren.“.

Ein gewaltiger Eingriff in die Internetfreiheit – mit stimmengewaltigen Reaktionen. Nichtregierungsorganisationen liefen Sturm, allen voran Access. Würde das Mandat der ITU sowie die ITR bezüglich des Internets erweitert, befürchtet die NGO eine

„old-school top-down government-centred organization replacing the open, bottom-up-governance that made the internet so world-changing.“

Google stellte sich mit einer Kampagne zur Internetfreiheit gegen den Antrag. Gegenwind kam auch von der Bundesregierung:

„Für die Bundesregierung sind die Ziele Offenheit, Transparenz und Freiheit des Internets Voraussetzungen dafür, dass das Internet seine herausragende Rolle als Motor gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Entwicklungen behält. Grund- und Menschenrechte wie Meinungs-, Rede- und Versammlungsfreiheit müssen im Internet genau so geschützt sein wie in der offline-Welt. Eine Regulierung des Internets ist nach Auffassung der Bundesregierung nicht Gegenstand der ITRs und soll es auch nicht werden. Die Bundesregierung wird bei der World Conference on International Telecommunications keinesfalls Vorschläge unterstützen, die die vorgenannten Grundfreiheiten gefährden könnten.“

Weiter heißt es:

„Bestrebungen, das Mandat der ITU zu erweitern, tritt die Bundesregierung entgegen. Insbesondere lehnt die Bundesregierung Bestrebungen ab, in den ITRs Regelungen zur Internetkriminalität, zu Internetinhalten, zur Netzneutralität oder zu Fragen der Besteuerung von Telekommunikationsdienstleistungen zu treffen.

Wohl zuletzt aufgrund dieser massiven Kritik wurde der Antrag im Laufe der Konferenz zurückgezogen. Während sich vereinzelte Befürworter tapfer dem gewaltigen Offline-Shitstorm stellten, zogen China und Russland distanzierend ihre Unterschriften zurück.

Was bleibt?

Bezüglich der Internet Governance konnte zwischen den ITR-Hardlinern und- Minimalisten erneut kein Konsens erreicht werden – das Problem ist bis auf Weiteres vertagt. Wo zwei sich streiten, freut sich der Dritte – in diesem Fall der Internetnutzer. Zudem hat sich die Befürchtung, die ITR könnten auf das Internet ausgeweitet werden, nicht bewahrheitet.

Mehr noch: Das Abschlusspapier, eine weiterentwickelte Version des ITR-Papiers aus dem Jahre 1988, wendet sich dem Internet erst gar nicht explizit zu – lediglich eine Resolution im Anhang des Papiers. Hier wird das Internet als „central element of the infrastructure of the information society“ beschrieben, die Wichtigkeit seiner Ausweitung erklärt und allen Staaten eine

„equal role and responsibility for international Internet governance and for ensuring the stability, security and continuity of the existing Internet and its future development and of the future internet“

zugesprochen.

Vor dem Hintergrund der Ablehnung einer Diskussion über Internet Governance durch ITU-Generalsekretär Hamadoun Touré in seiner Eröffnungsrede, kommt dieser Absatz doch etwas überraschend. Dennoch: Ist Internet Governance im WCIT-12-Abschlusspapier auch explizit festgeschrieben, bedeutet dies lediglich den Erhalt des Status Quo. Die Kontinuität des bestehenden Internets wird betont.

Somit hat die WCIT 2012 vorerst keine Auswirkungen auf die Internetfreiheit. Der Worst Case ist abgewendet. Es bleibt jedoch abzuwarten, wie sich die Dinge entwickeln.

 

Fotos: flickr/23743211@N07 (CC BY-NC-ND 2.0); flickr/itupictures (CC BY 2.0); Foto von Pascal Thiel

 

Switching Costs – mein neuer Mac und ich

von Sandra Fuhrmann

Das Gerät, auf dem ich diesen Text verfasse, ist hochmodern. Es ist gespickt mit derart vielen technischen Raffinessen, sodass ich sie niemals alle durchschauen werde. Es handelt sich um ein nigelnagelneues MacBook Pro. Wer bin ich? Ich bin der Mensch, der unfähig ist, es zu bedienen. Ein Erfahrungsbericht.

Wir haben viel zusammen durchgestanden. Er war mein Begleiter in guten wie in schlechten Zeiten. Ich gebe zu, dass ich in den vergangenen Jahren eine gewisse emotionale Bindung zu ihm aufgebaut hatte. Nun liegt er hier auf dem Tisch neben mir. Mein alter Windows-Laptop. Fast fehlt mir sein Brummen, das in den letzten Wochen immer lauter wurde. Von Freunden musste ich mir liebevollen Spott anhören: „Du kannst ohne dieses Brummen ja gar nicht mehr arbeiten. Ich verbinde das Geräusch schon mit dir.“ Und nun? Nichts! Ich höre keinen Ton. Nicht, dass ich dem nachtrauern würde, nein. Mein Problem ist ein anderes.

 Der erste Streich..

Mein neuer Mac steht angeschaltet vor mir. Endlich kann ich wieder arbeiten ohne minutenlang darauf zu warten, dass irgendetwas geladen ist. Diese Zeiten sind vorbei. Für mein MacBook ist das kein Problem. In Lichtgeschwindigkeit, wie es mir vorkommt, erscheint auf meinem Bildschirm, was auch immer ich mir wünsche. Nein, das Problem meines Macs ist ein anderes – nämlich sein neues Frauchen. Da sitze ich und stelle mir die erste essentielle Frage: Wie kopiere ich einen Text ohne rechte Maustaste? Erfahrene MacBook-User werden bereits an dieser Stelle sicher anfangen zu lachen. Aber eines kann ich schon: Ich habe den Internetbrowser entdeckt und weiß, wie man damit Begriffe googelt. Ich gebe die Begriffe „Tastenkombinationen MacBook Pro ein“ und komme mir schlau und siegreich vor. Wieder ein Problem gelöst. Aber das ist nur der Anfang.

..doch der zweite folgt sogleich

Ich habe meinen neuen Laptop mit in die Universität genommen. Endlich weniger zu schleppen als bisher. Ich freue mich – noch. In der Sprechstunde eines Dozenten bekommt meine Arbeitsgruppe eine DVD. Mein kluger Plan ist, die Dateien direkt auf meinen Laptop zu ziehen, um die DVD sofort weitergeben zu können. Irgendwann steckt die DVD in meinem neuen Hightech-Laufwerk – und dort bleibt sie auch. Warum gibt es keinen Knopf zum Auswerfen an der Seite dieses Laptops? Und schon wieder wird mir das Fehlen der rechten Maustaste zum Verhängnis.

Kurz gesagt: Ich habe nicht den blassesten Schimmer, ob besagte DVD je wieder aus dem Schlund dieses neuen Monstergeräts zurückkehren wird. Meine Kommilitonin wartet derweil ungeduldig, befürchtet ihren Bus zu verpassen und staunt vermutlich nur noch über meine unfassbare Schwachsinnigkeit.

Zumindest eines kann ich – und sinke dabei gleich noch ein paar Stufen tiefer auf der Leiter der Lächerlichkeit. Ich bediene mein Handy, um weisere Menschen als mich selbst, sprich erfahrene MacBook-User, um Hilfe anzuflehen. Dieser Plan geht tatsächlich auf und egal wie albern ich mir auch vorkommen mag… ich habe die DVD gerettet.

Der Dummheit einen Namen

Will man meiner Dummheit nun einen Namen geben, dann wäre dieser wohl Switching Costs. Und will man das von mir Erlebte in einen theoretischen Hintergrund einbetten, dann klänge das wie folgt:

Lernerfahrungen der Anwender drängen dazu, die Entwicklung in der anfangs eingeschlagenen Richtung weiter zu führen. Der Wechsel zu einem anderen System ist teuer und wird unwahrscheinlicher. Die Wechselkosten steigen und die Bindung des Kunden an das System wird stärker. Die Folge steigender Wechselkosten ist ein Lock-In-Effekt (Clement & Schreiber, 2010, S. 226).

Und nun das Ganze noch einmal im Zusammenhang. Seit ich gelernt habe, einen Computer zu bedienen, habe ich stets mit einem Windows-PC gearbeitet. Bestimmte Schemata in der Bedienung, wie etwa das Öffnen eines Optionsfensters mit einem Rechtsklick, habe ich in dieser Zeit verinnerlicht. So geht es im Grunde jedem Nutzer, der über Jahre hinweg immer mit demselben System arbeitet. Zu einem anderen System zu wechseln, bedeutet für die Nutzer Unannehmlichkeiten – wie etwa mein Scheitern am Auswerfen einer DVD. Diese Unannehmlichkeiten werden als Switching Costs bezeichnet. Je mehr man sich im Laufe der Zeit an eine bestimmte Technik gewöhnt hat, desto höher sind die eigenen Kosten beim Wechsel zu einem anderen System. Mit zunehmender Gewöhnung wird es damit unwahrscheinlicher, dass man sich für einen solchen Wechsel entscheidet, da man nicht bereit ist, die hohen Switching-Costs in Kauf zu nehmen. Dieses Phänomen nennt man auch Lock-In-Effect. 

Wechselkosten werden von Unternehmen ganz gezielt aufgebaut, um einen Lock-In-Effekt zu erzeugen und Kunden möglichst stark an sich zu binden (Clement & Schreiber, 2012, S. 235-236).

Alles hat seinen Preis

Werden verbesserte Versionen von Elementen des Systems oder neue komplementäre Produkte angeboten, entscheiden sich die Kunden wahrscheinlich wieder für das etablierte und gegen konkurrierende Systeme. Das bedeutet nicht, dass die Kunden in dieser Situation „gefangen“ wären, wie der Begriff Lock-In suggeriert. Sie können das System durchaus wechseln. Die Frage ist nur, zu welchem Preis (Clement & Schreiber, 2010, S. 230).

Nun. In meinem Fall bestand der Preis aus feststeckenden DVDs und dem Verlust meiner Ehre als Digital Native. Dennoch habe ich den Schritt getan. Nicht, dass das von meiner Seite aus besonders viel Entschlossenheit oder Neugierde auf neue Nutzungstechniken erfordert hätte. Ich denke, es ist ein anderes Wort, das meine Motivation angemessen beschreibt: Faulheit. Faulheit in Form des dem Menschen eigenen Strebens nach mehr Komfort. Dieses Streben begründete sich bei mir in der Hoffnung, in Zukunft einen Link öffnen zu können ohne zwischen meinem Mausklick und dem Erscheinen der Seite die Chance zu haben meine Wäsche zu waschen, einen Tee zu kochen und eventuell nach Honolulu zu reisen.

Nun habe ich meinen neuen Laptop einige Wochen. Wir haben uns inzwischen ganz gut miteinander arrangiert – vielleicht sogar angefreundet. Ich bilde mir nicht ein, ihn ganz durchschaut zu haben, doch wir arbeiten gut zusammen. So ist es also diesem Umstand zu verdanken, kombiniert mit ein wenig Selbstreflexion, dass dieser Artikel überhaupt zustande kommen konnte.

 

Literatur: Clement, R., & Schreiber, D. (2010). Internet-Ökonomie. Grundlagen und Fallbeispiele der Vernetzten Wirtschaft. Heidelberg: Physica-Verlag.

Fotos: Copyright Sandra Fuhrmann

 

KLARTEXT: Walter Benjamins „Zeitalter der Reproduzierbarkeit“

von Pascal Thiel

In einer Zeit, in der sich der Faschismus anschickt, die erste deutsche Demokratie vollends aus den Geschichtsbüchern zu tilgen, widmet sich der Philosoph, Literaturkritiker und Übersetzer Walter Benjamin, einem vermeintlich wenig relevanten Thema, der Reproduktion von Kunst.

In seinem Aufsatz „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ von 1936 führt er in Reproduktionstechniken ein, zeigt ihre Möglichkeiten und Probleme und verweist auf Auswirkungen und Konsequenzen. Und am Ende zeigt sich: So marginal das Thema erscheinen mag, so relevant war es damals und ist es noch heute.

Die Geschichte der Reproduktion

Walter Benjamin irrt nicht, wenn er sagt: „Das Kunstwerk ist grundsätzlich immer reproduzierbar gewesen.“ Denn Kunst konnte bisher immer nachgemacht werden. Ob von Schülern der Bildenden Künste zur Übung, ob von ihren Meistern selbst zur Präsentation und Verbreitung oder von „gewinnlüsternen Dritten“ zum eigenen Vorteil. Die Geschichte des Kopierens ist eine Geschichte des gebildeten Menschen. Doch die technische Reproduzierbarkeit erschafft, so Walter Benjamin, ein Problem. Denn das technikbasierte Nachmachen, Kopieren und Vervielfältigen von Kunstwerken besitzt eine neue, völlig andere und weitaus größere Dimension.

Um keinem Missverständnis aufzusitzen: Die technische Reproduzierbarkeit ist kein Phänomen des 21. Jahrhunderts. Obwohl die Digitalisierung Technologien schuf und schafft, durch die sich immer bessere Möglichkeiten zur technischen Reproduktion ergeben, blickt die Reproduzierbarkeit auf eine lange Geschichte zurück.

Im antiken Griechenland kannte man zwei Arten der Reproduktion, den Guss und die Prägung. Münzen, Bronze- und Terrakottawaren waren die einzigen massenhaft herstellbaren Gegenstände. Im Mittelalter wurde zuerst die Grafik (Holzschnitt, Kupferstich, Radierung), dann die Schrift (Druck) technisch reproduzierbar. Mit der Lithografie wurde es um 1797 erstmals möglich, Schrift und Grafiken massenweise zu vervielfältigen. Die Fotografie verlagerte schließlich den Fokus des rezipierenden Körperteils von der Hand auf das Auge. Der Tonfilm erweiterte des Spektrum um das Ohr.

„Die Kathedrale verlässt ihren Platz“

Kunstwerke haben laut Benjamin eine „Aura“. Er fasst darunter die Verankerung des „Hier“, der räumlichen Dimension und des „Jetzt“, der zeitlichen Dimension des Werkes. Diese beiden Elemente sind jedoch bei Kunstwerken, die technisch reproduziert wurden – und somit auch ihren Reproduktionen – nicht vorhanden.

Ein Beispiel: Mona Lisa ist das berühmteste Gemälde der Welt. Auch dies hat im Zuge des Aufkommens der technischen Reproduktion seine Aura verloren. Während es vorher nie möglich war, ein exaktes, detailgenaues Abbild zu produzieren, wurde es in jüngerer Zeit millionenfach kopiert und in neue Situationen gebracht. Damit werden zwei weitere Begriffe deutlich, durch die Benjamins „Aura“ charakterisiert wird: das Einmalige und der Ursprungskontext.

Das Einmalige „verkümmere“ durch die technische Reproduktion. An seine Stelle trete das „massenweise Vorkommen“. Der Ursprungskontext wird von Benjamin auch als „Ritual“ beziehungsweise als Entstehungsmoment bezeichnet. Die Originalität eines Kunstwerks – und somit auch ihre Aura – ist nur gewährleistet, wenn es das „Ritual“ der Fertigung in sich trägt, wenn der Künstler selbst Hand angelegt hat.

Aus dem „Ritual“ wiederum entstehe ein „Kultwert“. Vor dem „Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit“, dessen Beginn wohl Ende des 19. Jahrhunderts anzusiedeln ist, so Benjamin, sei die Bedeutung eines Kunstwerks von seinem immateriellen Kultwert abhängig gewesen. Heute sei an diese Stelle der „Ausstellungswert“, der materielle Wert des Bildes für ein Museum, getreten. Mit der „Emanzipation der […] Kunst […] aus dem Schoße des Rituals“, also mit dem Auflösen der absoluten Verbindung des Kunstwerks an seinen Entstehungskontext, wachse die Ausstellbarkeit des Kunstwerks.

Sind die Beschreibungen Benjamins über weite Strecken von einem negativen Subtext gekennzeichnet, beschreibt er die technische Reproduzierbarkeit im gleichen Atemzug als „Emanzipation des Kunstwerks“ von „seinem parasitären Dasein am Ritual“. Diese wohl widersprüchlichen Positionierungen werden noch deutlicher, wenn Benjamin dem so negativ gezeichneten Kameramann ungeahnte Vorteile gegenüber dem Maler einräumt. Während der Maler Distanz zu seinem Gegenstand behält, dringt der Kameramann tief in das „Gewebe des Gegebenen“ ein. Dies verspreche eine intensive und bedeutungsvolle Rezeptionserfahrung. Aufgrund dieser „Meinungsschwankungen“ ist die exakte Position Benjamins schwer zu identifizieren.

Betrachtet man Benjamins Argumentation aus heutiger Sicht, haben alle bekannten Kunstwerke ihre Aura verloren. Kaum eines wurde nicht fotografiert, sprich: technisch reproduziert. Die Fotografie ist eines der Beispiele, die Benjamin selbst anführt. Sie ist zum einen in der Lage, das Kunstwerk detailgenau zu reproduzieren. Außerdem erlaubt die Fotografie neue Blickwinkel auf das Original (zum Beispiel durch die Detailfotografie) und führt das originale Kunstwerk durch die Verbreitung in Situationen, die für selbiges unerreichbar sind. Dadurch verliert das Kunstwerk jedoch seine Aura und sein empfindlichster Kern wird berührt: Seine Echtheit.

Schuld ist die Massenkultur

Die Ursache dieser Entwicklung sieht Benjamin schon 1936 in der Massenkultur. Die Gesellschaft in der Massenkultur sei von zwei Bedürfnissen geprägt: Zum einen streben sie nach der „Überwindung des Einmaligen“, zum anderen möchten sie sich alles „räumlich und menschlich“ näherbringen.

Hier wird die enorme Bedeutung des Artikels deutlich. Die Thesen von Benjamin sind durchaus auch auf die heutige Zeit anwendbar. Insbesondere das gegenseitige Näherbringen, erfährt durch die Existenz sozialer Netzwerke heutzutage erneute Aktualität.

Ein bedeutendes Medium der Massenkultur ist der Film. Hier zeigen sich die Auswirkungen der technischen Reproduktion besonders deutlich. Der Film, so Benjamin, „liquidiert“ den Traditionswert am Kulturerbe. Doch er verändere auch die Art der Kunstausübung. Die Leistung des Schauspielers wird beispielsweise nicht direkt von einem realen Publikum rezipiert, sondern von einer technischen „Apparatur“. Durch die Möglichkeiten der Montage stellt diese den Schauspieler aber nicht dar, sondern nimmt ständig zu seiner Leistung Stellung und interpretiert sie. Der Zuschauer, der bei Ausgabe des Films auf der anderen Seite der „Apparatur“, in diesem Fall vor der Leinwand, sitzt, nimmt den Schauspieler so wahr, wie ihn die Kamera interpretiert. Es wird also mehr oder weniger nur ein medial konstruiertes Abbild der Wirklichkeit des Schauspielers gezeigt.

Die Aura des Schauspielers geht dabei im Moment der Aufnahme verloren, da sie, wie oben beschrieben, an das „Hier“ und „Jetzt“ gebunden ist. Er selbst ist nach Benjamin aufgrund dessen nur ein bloßes „Requisit“ des Films.

Zeitlicher Kontext: Politisierung der Kunst statt Ästhetisierung der Politik

Benjamin argumentiert im voraussagenden Teil des Aufsatzes aus einer stark marxistisch geprägten Perspektive. Gerade in Ländern, in denen der Faschismus herrscht, sieht er 1936 die Gefahr, dass technische Reproduzierbarkeit zu politischen Zwecken missbraucht wird. Im Zentrum seiner Befürchtungen steht der Film. Durch diesen sei eine „Ästhetisierung der Politik“ möglich, also ein Missbrauch der Kunst (hier: des Films) als Mittel der Politik. Von der Inszenierung des Führerkults, über massenmediale Propaganda, bis hin zur romantischen Kriegsdarstellung: Zerstörerische Aspekte würden verdeckt und in einen neuen, ästhetischen und vor allem positiven Zusammenhang gestellt. Die einzige Möglichkeit der Kunst, sich gegen diese Ästhetisierung der Politik zu stemmen, sieht Benjamin in ihrer Politisierung:

So steht es um die Ästhetisierung der Politik, welche der Faschismus betreibt. Der Kommunismus antwortet ihm mit der Politisierung der Kunst.

Für seinen Aufsatz erhielt Walter Benjamin erst spät Anerkennung. Heute ist er aus der Kunsttheorie nicht mehr wegzudenken. Denn seine Thesen haben eine fortwährende Aktualität.

 

Klartextlogo Copyright Pascal Thiel; Fotos: flickr/doyle_saylor (CC BY-NC 2.0); flickr/baerchen57 (CC BY-NC-SA 2.0)

 

Der Weg ist das Ziel

 von Sanja Döttling

Der November ist vorbei, und damit auch NaNoWriMo mit der Herausforderung, 50,000 Wörter in 30 Tagen zu schreiben. Und das, während der Alltag ganz normal weiterläuft. Ich habe den Selbstversuch gewagt und mich an einem literarischen Meisterwerk versucht. Und bin glorreich gescheitert. Über lange Beschreibungen, langweilige Charaktere und einen lahmen Plot. Der Bericht einer Verliererin.

Rosarote Brillen und Bauchkribbeln

Auf der Startseite von NaNoWriMo zählt die Uhr die letzten Stunden bis zum Beginn des Novembers. Ich kann es gar nicht erwarten, endlich in die Tasten zu hauen. Auch eine Idee habe ich schon. Diese eine Fantasy-Geschichte, die ich vor Jahren mal schreiben wollte. Über das mittelalte Ehepaar mit Tochter, die auf dem ersten Bildungsweg Helden waren und erst beim zweiten Versuch Bauern. Schon vor Anfang des Wettbewerbs begehe ich also die erste „revolutionäre Tat“ (bei NaNoWriMo kann man nicht schummeln): Ich nehme eine Geschichte, für die ich schon einen Anfang geschrieben habe.

Darian beendete die Ackerreihe und blickte auf. Die Sonne hing zwar schon knapp über den Bergspitzen, aber sie brannte noch immer heiß auf das Hochland herunter. Darian wischte sich den Schweiß von der Stirn und klopfte seiner Stute Bukara beruhigend auf die Kuppe; Sie schüttelte als Erwiderung nur träge den Kopf und verscheuchte ein paar Fliegen, die sich um ihre Augen und Nüstern gesammelt hatten. Sie hatten gut die Hälfte des Ackers gepflügt; ein ebenso großes Stück wartete noch auf sie. Darian seufzte.

Ich bin aufgeregt, als ich endlich mit meiner Schreibfreundin und Mitkämpferin anfange, in die Tasten zu hauen. 1.667 Worte sind es, die pro Tag zu Papier gebracht werden müssen, um die Vorgaben einzuhalten. Das sind drei Wordseiten. Drei Wordseiten sind viel, danke ich mir. Und schon jetzt fällt mir auf, dass ohne Handlung keine Geschichte erzählt werden kann. Die ersten Tage rette ich mich mit Charakterisierungen und Beschreibungen von Seite zu Seite. Ich mache sogar einige hilflose Anstalten, einen Plot zu entwickeln.

 Im Zweifel für das Klischee

Nach drei Tagen ist die Plotentwicklung immer noch vorsichtig als „übersichtlich“ zu bezeichnen. Da sind die zwei Hauptfiguren plus Tochter, die ausziehen, um das Königreich zu retten. Irgendwas mit Magie vielleicht. Und dann muss natürlich noch erzählt werden, wie die beiden Nasen sich damals kennengelernt haben. Vielleicht ist sie eine Urwald-Amazone mit Pferd. Und er ein schnöseliger Adliger. Oder doch ein verstaubter Bücherwälzer.

Ich schreibe also so vor mich hin, und die Geschichte plätschtert eher, als dass sie läuft. Die ersten Tage halte ich mich noch an die geforderte Wortangabe. Aber nicht mehr lange. Die Plotlosigkeit holt mich ein, immer wieder greife ich auf die schlimmsten Fantasy-Klischees zurück. Da ist der alte Walddrache, dessen Blut Darian unsterblich macht. Eine Wendung, die keinen Sinn für diesen vermalledeiten Plot macht und der Achillesferse noch mal eine andere Bedeutung schenkt. Dann dieser furchtbar-klischeehafte Mittelalterlook und diese ganze Reise-Geschichte. Kann die Welt nicht mal zuhause untergehen? Ich habe Hexen verbrannt, kleine Bergdörfer beschrieben wo Helden üblicherweise leben) und Zwerge gedisst.

Da sind Logiklücken, durch die selbst Hagrid aufrecht laufen könnte, ohne dass oben sein Kopf herausschauen würde (nur, weil Darian seinen Mantel verloren hat, wird er nicht mehr ins Schnöselviertel gelassen?), da sind sinnlose, hausarbeitsähnliche Abhandlungen über ökonomische Handelswege (Perlen aus dem Süden) und geografische Feinheiten (feindliche Flüsse), da sind motivlose Figuren, die strukturlos rumreden und rumhandeln.

Bei 27.000 Wörtern war Schluss, ich hatte den Plot gegen die Wand gefahren: Darian landet im Gefängnis. Ich wusste mal, wie er da wieder rauskommt, hab’s aber vergessen. Nun war mein Held auf der diegetischen Ebene genau da, wo auch ich als Autor war: In einer selbstgemauerten Sackgasse. Aber wen störts: Er war ja sowieso unsterblich.

 Täglich grüßt der Alltag

Natürlich hatte ich im November noch andere Aufgaben zu erfüllen: Die Universität wollte besucht, zwei Referate gehalten und die Artikel auf media-bubble.de Korrektur gelesen werden. Der Kühlschrank blieb tagelang leer, die Spüle mit dreckigem Geschir voll.

Sich zwischen 50 Seiten Unilektüre und vier Seiten Vorlesungsnotizen, zwischen drei Artikeln für die andere Zeitung und den 12 Mails, die noch verschickt werden sollen, die Zeit zu nehmen, mal kurz was zu schreiben, ist schwer. Es ist eine Disziplinfrage, keine Zweifel. Aber mein Leben besteht nur aus Texten und Schrift, und bei aller Liebe bin ich die Buchstaben manchmal in diesem Monat leid.

Ich weiß nicht, ob es nur mir so geht: Aber ich kann einfach nicht den ganzen Tag schreibend und lesend verbringen. Irgendwann ist auch mal gut. Und während NaNoWriMo sind meine persönlichen Grenzen, was das Schreiben angeht, erreicht. Ja, ich habe NaNoWriMo nicht erfolgreich beendet, deshalb ist es an dieser Stelle angebracht, asiatische Weisheiten zu zitieren: Der Weg ist das Ziel. Immerhin habe ich im November 27.000 Worte mehr geschrieben als ich es sonst getan hätte. Und so habe ich auch beim Schreiben meiner Wörter etwas gelernt. Nämlich: wie ich es beim nächsten Mal besser machen kann. Um dann vielleicht, mit verstärkter „alles oder nichts“-Einstellung, doch mein Ziel zu erreichen.

 

Vorsätze für nächsten November

Auch wenn ich glorreich gescheitert bin, haben mir die 30 Tage „literary abandon“ (so die Startseite von NaNoWriMo) einiges beigebracht. Hier die wichtigsten Tipps einer Versagerin:

  • Schreibt nicht alleine, sondern in der Gruppe. Ohne meine Schreibgefährtin, die Aufmunterungs- und In-den-Arsch-tret-SMS verschickte, die Kaffee, Essen und Ratschläge bereitstellte und immer ein offenes Ohr für lustige Plotlücken hatte, hätte ich wahrscheinlich keine zwei Zeilen geschrieben. Der soziale Druck spielt natürlich auch eine Rolle.
  • Denkt davor über einen Plot nach! Zwischen den einzelnen NaNoWriMo-Wettbewerben liegen elf Monate – genug Zeit, um einen Plot kleinlich auszuarbeiten, bevor es ans schreiben selbst geht. Ohne diesen Schritt sind die meisten Geschichten nicht in 30 Tagen „runterzutippen“
  • Schreibt überall. Egal ob vor der Vorlesung, nach dem Aufstehen oder wenn man nachts um zwei müde von einer Party heimkommt. Nur so können die geforderten 1,667 Wörter pro Tag geschafft werden (vermute ich).

Trotz allem. NaNoWriMo war nicht nur furchtbar stressig, sondern auch eine gute Erfahrung. Und süchtig macht die Jagt nach den 50.000 Worten auch. Deshalb werde ich mich nächstes Jahr auf ein neues an diese große Prüfung wagen.

 

Bilder: Copyright NaNoWriMo Webseite; Sanja Döttling

Die Inszenierung von Wahrheit – wie wir Jean Rouch entdeckten

Es ist Sommer in Paris. Eine Gruppe scheinbar völlig unterschiedlicher Menschen trifft hier aufeinander. Jean Rouchs Film Chronique d’un eté erzählt ihre jeweiligen Geschichten – Liebe, Glück und Einsamkeit. Das Übliche also? Nein, denn in der nächsten Sequenz setzten sich eben diese Personen an einen Tisch, um über die Authentizität ihrer eigenen Darstellung zu diskutieren. Bei Jean Rouch wird das Spiel mit der Kamera zum Spiel mit der Wahrheit selbst.

 Ein Gastbeitrag von Elisabeth Mahle

Die Anfänge

Vor circa zwei Jahren fand am Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft eine Gruppe von filmversessenen Bachelor-Studierenden zusammen, die sich schnell in zwei Dingen einig war: Zum einen fanden wir das Angebot studentisch initiierter Veranstaltungen zu spärlich und  zweitens kam uns, in der Auseinandersetzung mit der EKW (Empirischen Kulturwissenschaft) das Thema (ethnografischer) Film zu kurz. Schnell stand die Idee eines regelmäßigen Filmabends im Raum. Seit dem Sommersemester 2011 findet nun das Lichtspiel im LUI regelmäßig statt.

Unterhaltung meets Wissenschaft

Verstand sich das Projekt Lichtspiel im LUI bisher also vordergründig als Plattform für filminteressierte Studierende mit EKW-Brille, so brachte uns in diesem Semester die Frage nach dem Film als ethnografische Methode auf die Spuren des Filmemachers Jean Rouch. Seit Oktober zeigt das Lichtspiel im LUI in einem Jean Rouch-Spezial Filme des Franzosen. Das Oeuvre des Filmemachers ist gewaltig: Der 1917 in Paris geborene Regisseur und Anthropologe drehte über 120 Filme, vor allem in Afrika. Speziell die Kultur der Zarma und der Songhai übten Faszination auf ihn aus.

Wie seine Kollegen begann auch Rouch zunächst damit, Riten und Bräuche zu dokumentieren, wandelte sich jedoch im Verlauf seines Schaffens immer stärker zum Gegenspieler und Kritiker dieser filmischen Verfahrensweisen. Die zeitgenössischen ethnohrafischen Filme standen teilweise noch tief in der Tradition derjenigen Filme, welche im Zuge der Kolonialisierung auf Forschungs- und Endeckungsreisen entstanden. Das Interesse richtete sich hierbei darauf, biologisch-anthropologische Kenntnisse über die „fremden Stämme und Völker“ zu erlangen. Unter der Annahme, dass diese schriftlosen Kulturen bald ausgestorben sein würden, wurden vor allem deren kultische und technische Tätigkeiten abgefilmt.

„Kino-Wahrheit“

Rouch gehört zu einem Kreis von ethnografischen Filmemachern, die diese Art des reinen Abfilmens von Kultur(-en) modifizierten. In Rouchs Verständnis verändert sich das abgefilmte Phänomen durch die Anwesenheit des Filmemachers beziehungsweise der Kamera.

Aus diesem Verständnis erwächst, dass Rouch sich nie der Illusion hingab (absolute) Realität oder Wahrheit zu filmen. Für ihn existiert etwas, das er Kino-Wahrheit nennt.

Das Abschiednehmen von der Illusion, mit der Kamera eine vorgesetzte Realität objektiv abbilden zu können, hat weitreichende filmische Konsequenzen. Exemplarisch sichtbar werden diese in Rouchs Methodik: Die Kamera, vormals neutraler, distanzierter Beobachter, wird hineingeholt in das Geschehen. Sie – und somit zugleich der Filmmacher – nimmt buchstäblich an der Handlung teil. Die Beeinflussung der vorfilmischen Realität durch die Kamera ist in Rouchs Verständnis nicht mehr ausschließlich ein verzerrender Faktor, der reflektiert werden muss. Vielmehr wird die teilnehmende Kamera bewusst als Methode eingesetzt. Sie dient dazu, die Darsteller im Film dazu zu bringen, mit ihr zu interagieren, um zuletzt eine „Wahrheit“ zu provozieren, die ohne sie nicht in  Erscheinung treten könnte. Aus diesem Verständnis heraus wuchs eine Dokumentarfilmbewegung, die später den Namen Cinéma vérité  tragen und seine Geburtsstunde im Film Chronique d’un eté feiern sollte.

Schaut vorbei – Jean Rouch und sein spezieller Blick

Das Lichtspiel im LUI zeigte bisher: Les maîtres fous (1954), La chasse au lion à l’arc (1967) und Chronique d’un eté (1960). Am 12. Dezember um 20.00 Uhr lohnt es sich, den Weg zum Schloss auf sich zu nehmen. Dann wird der letzte Film in diesem Jahr vom Lichtspiel im LUI gezeigt. Es handelt sich um Mosso Mosso. In diesem Film wird der Filmemacher höchstpersönlich portraitiert. Jean-André Fieschi zeichnet mit seinem Film das Bild eines Menschen, der durch den Geist von Kino und Film geprägt ist. Rouchs Motto „So tun als ob das, was man zeigt wahr ist, bringt einen der Wirklichkeit am nächsten“ wird in dieser Hommage an den Cinéma vérité Begründer anschaulich dargestellt.

Wessen Interesse an Jean Rouch jetzt geweckt ist, der lasse sich Mosso Mosso nicht entgehen.

Außerdem kann schon der nächste Termin vorgemerkt werden: Im neuen Jahr befasst sich das Lichtspiel mit Regisseuren, die in Rouchs Fußstapfen treten. Am 9.1.2013 zeigen wir Sans Soleil (1983) von Cris Marker. Zu Gast sein wird Dr. Ulrich Hägele vom Institut für Medienwissenschaft. Er wird eine kleine Einführung in das ethnografische Sehen geben.

 

Foto: flickr/mcatarifa (CC BY-SA 2.0)

 

„Basically a Story Teller“ – Eine Lesung von und mit Kiran Nagarkar

von Sandra Fuhrmann

„I’ve no idea what you guys brought here. You should be watching a movie or something.“ Nun, sicher hätte man das auch tun können. In diesem Fall wäre man jedoch nicht in den Genuss von Kiran Kagarkars einzigartigem Humor gekommen.

Außerdem konnte man neugierig sein auf einen Roman, nach dessen erster Vorstellung sich vier von Kiran Nagarkars ältesten Freunden für mehrere Monate weigerten, mit ihm zu sprechen. The Extras, auf Deutsch Die Statisten ist der neueste Roman des bekannten indischen Schriftstellers. Am Mittwoch stellte der Autor ihn und seinen vorhergehenden Roman God’s little Soldier auf einer Lesung an der Universität Tübingen vor.

A man of bizarre mixtures

1942 in Bombay geboren, wuchs er in einer Familie auf, die er selbst als „poor and westernized“ beschreibt. Er nennt es: „A bizarre mixture for indian circumstances“.

Sein erstes Buch Sieben mal sechs ist dreiundvierzig veröffentlichte er bereits 1974. Der Roman enthält drei verschiedene Sprachen: Marathi, Hindi und Englisch. Die deutsche Übersetzung erschien erst über drei Jahrzehnte später, im Jahr 2007.  Seitdem genießt Nagarkar auch in Deutschland großes Ansehen, 2008 gehörten Nagarkars Bücher zu den meist besprochenen der Frankfurter Buchmesse. Erst kürzlich, im November diesen Jahres, wurde er mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. In Indien erhielt er bereits früher Auszeichnungen, wie zum Beispiel den Sahitya Akademi Award, der als die höchste Auszeichnung für Literatur in Indien gilt.

Not someone like Charles Dickens

Hört man Nagarkar reden, wird einem bald klar, dass dieser Mann eine ganz spezielle Art von Humor besitzt. Immer wieder weiß er während des Vortrags die Zuhörer zum Lachen zu bringen. In seinen Roman nutzt Nagarkar diesen Humor, um mit einem zwinkernden und einem kritischen Auge einen Blick hinter die Kulissen gesellschaftlicher Themen zu werfen. Er selbst hofft vor allem, dass seine Bücher sehr, sehr lustig sind, schließt dabei jedoch nicht aus, dass ein lustiges Buch auch seine ernsten Seiten haben kann. Auf eine Frage aus dem Publikum, ob es sein Ziel sei, durch seine Romane etwas in der Gesellschaft zu bewegen oder ihr einen Spiegel vorzuhalten, antwortet er jedoch: „I don’t see myself as someone like Charles Dickens who brought change to the people. I’m basically a story teller.“

 „…laughing at my own passages“

Und liest Nagarkar dann aus seinen Büchern, wird allein an seiner lebendigen Erzählweise deutlich: Es macht ihm Spaß, Menschen Freude zu bereiten. „I’ve been cought laughing at my own passages“, gesteht er, nachdem er mit einer Passage aus Die Statisten gelesen hat.

„If you want to learn something about India, better learn about the food and better learn about the films.“ Die Geschichte von The Extras spielt in den 60er,  70er und teilweise in den 80er Jahren. Die beiden Protagonisten Eddie und Ravan versuchen dabei alles, um in der Welt Bollywoods Fuß zu fassen und Filmstars zu werden. Nagarkar greift damit ein tatsächlich sehr reales Phänomen der indischen Gesellschaft auf.

Die Zahl, der jungen Menschen, die ins Filmgeschäft einsteigen wollen, schätzt er auf 75 bis 80 Prozent. „Without any exageration there are murders taking place. Young men and women will do almost anything to get roles.“ Auch sexuelle Gefälligkeiten sind da keine Ausnahme. Und so hat Nagarkar auch die Lacher auf seiner Seite, als er einen Textauszug vorließt, in der sich Eddie beim Arzt den Folgen einer solchen Gefälligkeit stellen muss. Eddie findet sich dabei in einer höchst peinlichen Situation wieder. Zu seinem Schrecken entdeckt er, dass nicht nur der Arzt, sondern auch Studenten und natürlich Studentinnen im selben Alter wie er selbst bei der Untersuchung seines Intimsten zugegen sein werden. Jeder kommt beim Untersuchen mal an die Reihe und jeder darf Fragen stellen. Auch Eddies Beteuerungen gegenüber dem Arzt, er habe weder mit Frauen, noch mit Männern intime Beziehungen gepflegt – schließlich sei er nicht verheiratet und somit noch Jungfrau – nutzen da nichts mehr.

Wir, die Statisten

„As I came to finish the book I realized that The Extras is very, very close to my understading of what most of us are.“ 99 Prozent von uns, so Nagarkars Erklärung, spielen im Weltgeschehen keine bedeutende Rolle, sind unsichtbar für die Großen dieser Welt. Wir sind Statisten und spielen unsere Rollen als ein Teil des großen Ganzen – ohne dabei jedoch tatsächlich gesehen zu werden.

Im Laufe seiner Schriftstellerkarriere stellte Nagarkar fest: Nicht alle Bücher funktionieren in allen Ländern gleich. Ein solches Buch ist God’s Little Soldier. „It worked for some people in India, it worked far better here.“

Selbst wenn Nagarkar, wie hier, über ernste Themen wie Extremismus und Fundamentalismus schreibt, schafft er es dabei noch immer irgendwie seinen Zuhörern ein Lachen aufs Gesicht zu zaubern, während seine Hauptfigur eine doch eher ungewöhnliche Diskussion mit Gott selbst führt.

Nagarkars heimlicher Wunsch: „That some terrific music composer would give the music to the writing of Kabir. And the music would be so terrific, that the Taliban and the Hindu fundamentalists would have no option but to dance like dervishes.“

 

Am Donnerstag bildete Kiran Nagarkar mit seinem Vortrag „God bothering“ den Auftakt zur Konferenz „Religion als Kunst? Ihre Spiegelungen in Film und Literatur“. Der Audio-Stream zum Vortrag sowie ein gefilmtes Interview mit dem Schriftsteller wurden von Campus TV aufgenommen und werden hier in Kürze zur Verfügung stehen.

 

Fotos: Copyright Sandra Fuhrmann

 

„Es ist eine riesen Bock-Sache.“ Die LYME im Interview

von Sebastian Luther

LYME, das ist ein neues Magazin, das von Studenten in Tübingen auf die Beine gestellt wurde und demnächst an bestimmten, noch geheimen Orten ausliegen wird, kostenlos. Um was geht es? Wer steckt dahinter? media-bubble.de hat sich mit den Redaktionsmitgliedern Tobias Tullius und Fabian Federl getroffen. Dabei war auch Autorin Anna Tiefenbacher . Zusammen mit den dreien will media-bubble.de ein wenig Licht ins geheimnisvolle Dunkel bringen.

 

[mb]  In eurem Editorial steht, dass ihr „interessante, kurzweilige und genreübergreifende Unterhaltung“ bieten wollt. Was heißt das?

Fabian Wir wollen ein Unterhaltungsmagazin sein, das man überall lesen kann. Beim Warten vor dem Prüfungsamt, an der Bushaltestelle, zuhause in der WG… Unterhaltung einfach. Wir wollen auch kein Musik-, Skate- oder Reisemagazin sein, sondern eine gute Mischung.

Tobias Wie dieses Gefühl, wenn man sich bei einem guten Wikipediaartikel ein bisschen Wissen anliest. Das wollten wir auch erreichen.

Anna Informative Unterhaltung.

Tobias Ja, genau. Im Grunde ist das Ganze nur eine riesen Bock-Sache.

Fabian Es ging darum, ein Magazin zu machen, das man selbst auch gerne lesen würde. Das war der Qualitätskompass. In der ersten Ausgabe wollten wir einfach unser Ding durchziehen, worauf wir eben Lust haben. Wir hatten auch Anfragen von anderen, ob sie mitmachen dürfen. Beim nächsten Mal, ja klar! Und wenn uns in Zukunft jemand eine coole Geschichte zuschickt, dann wird die gedruckt.

[mb]  Bleiben wir noch kurz beim Editorial. Da schließt ihr ja auch vieles aus, wie Fabian bereits gesagt hat. Ihr schreibt, dass Ihr eigentlich kein Magazin seid. Aber was seid Ihr?

Tobias Ich bin ein großer Gegner von Situationsdefinitionen. Man kann es Magazin nennen, weil es gebunden ist und Seiten hat, aber das war es auch schon. Wir hatten Spaß beim Machen und haben Spaß beim Lesen und hoffen, dass das die Leute auch haben, aber wenn nicht, ist es auch ok. Das meinen wir damit, wenn wir im Editorial schreiben, dass wir ein Spielzeug sind. Das kann man mal in die Hand nehmen und benutzen, aber auch einfach wieder weglegen. Wenn es die Busfahrt verkürzt, super! Und wenn es in der WG Küche unter dem Tischbein steckt, auch gut.

[mb]  Ein großer Teil eurer ersten Ausgabe hat mehr oder weniger direkt was mit Sex zu tun. Ist das nicht eigentlich der Bereich der Neon?

Fabian Warum sollte das der Bereich eines einzigen Magazins sein? Auto Motor Sport ist auch nicht die einzige Zeitschrift, die über Autos schreibt.

Tobias Wenn es für gute Geschichten sorgt, dann tut es das. Wenn die Spaß machen beim Lesen, warum nicht? Dann drucken wir die ab. Wir haben ja kein Eifersuchtsdrama, oder ein Liebes-Quiz, oder so etwas.

Fabian Solche typischen Sachen wollen wir auch überhaupt nicht machen, im Sinne von „Woran erkennst du, dass blabla so und so was heißt?“. Außerdem haben wir gar nicht so viel Sex drin.

Anna Na, es ist schon viel.

[mb] Seid ihr zufrieden?

Tobias Bisher? Klar!

Fabian Auf jeden Fall! Wir haben angefangen, wir wollten 500 Stück machen und jetzt sind es 2500 geworden.

Tobias Wir haben das mal ausgerechnet vorher und wollten gucken, wie viel wir zusammen kriegen. 500 klang für uns realistisch und diese Zahl haben wir dann angepeilt.

Fabian Wir haben auch nicht erwartet, dass wir so viel interessante Leute dafür kriegen. Dass wir jetzt fuckyouvermuch und Samy Deluxe im Heft haben, das hätte ich nicht erwartet.

[mb]  Woher kam ursprünglich die Idee? Seid ihr eines morgens aufgewacht und die Idee war da?

Tobias Es war ein kurzer Prozess, aber es war nicht im Bett.

Fabian Also, es hat damit angefangen, dass ich Borreliose bekommen habe und mein Knie nicht bewegen konnte. Ich durfte keinen Alkohol trinken und durfte auch nicht in die Sonne…

Anna … und das war letzten Sommer…

Fabian …ja, ich war dann in meinem kleinen Kämmerchen zuhause.

Tobias Dann sind Fabi und ich viel abgehangen und wir haben uns überlegt „Wir brauchen ein Projekt“ ansonsten langweilen wir uns vier Wochen lang. Fabi kann schreiben, ich kann fotografieren, machen wir doch einfach ein Magazin. Dann haben wir das gemacht, haben uns abendelang zusammengesetzt und uns durch die Saftauswahl unseres Supermarkt getrunken und nach einer Woche war die erste Version schon fertig. Dann hatten wir das Magazin schon gemacht und wollten es dann auch nicht in die Ecke legen. Und weil die Krankheit Lyme Borreliose heißt, heißt das Magazin jetzt auch Lyme. Das hatten wir so nach zwei Wochen fertig, aber das endgültige Magazin hat dann schon ein paar Monate gedauert.

Tobias Vor allem in der Endphase saßen wir täglich acht Stunden zusammen und haben nur Kleinigkeiten ausgebessert, Layout, Kommasetzung, solche Dinge eben.

 [mb]  Aber mit dem Prototyp, den ihr nach zwei Wochen hattet, seid Ihr auf Sponsorensuche? 

Tobias Genau. Die Grundideen für die Artikel sind die gleichen geblieben, aber wir haben das Ganze noch verfeinert.

Fabian Man muss auch dazu sagen, dass es so was in Tübingen noch nicht gegeben hat. In anderen Studentenstädten gibt es das eben schon und es passt auch zu Tübingen. Viele Leute, die wir vorher gefragt haben, meinten, dass es eine coole Idee sei.

Tobias Ja, Tübingen ist der perfekte Nährboden. Zehn Plakate and zehn wichtige Stellen und die ganze Stadt ist informiert. Jetzt schauen wir einfach mal, wie es ankommt. Finanzierung steht, Druck auch und was die Leute sagen werden, merken wir dann schon.

 [mb]  Ihr seid umsonst. Wieso?

Fabian Wir sind für immer umsonst.

Tobias Würdest du für etwas Geld ausgeben, dass du nicht kennst? Nicht bevor du von der Qualität überzeugt bist. Wenn wir überhaupt wollen, dass es ankommt, muss es schon kostenlos sein. Und über kostenlose Dinge freut man sich eh mehr, als über kostenpflichtige. Wir auch.

 [mb]  Auch nicht, wenn ihr in die Zukunft schielt? 

Tobias Wir gucken erst mal gar nicht in die Zukunft. 

Anna Mit Werbung hat das jetzt für die erste Ausgabe gut funktioniert. 

Fabian Damit kann man ein tolles Magazin machen. Die Werbung ist halt nicht so hübsch, aber besser als Geld nehmen. 

Tobias Deswegen auch nur ganzseitige Werbung. Den Apothekenumschau-Look mit zehntausend kleinen Anzeigen wollten wir nicht. 

 [mb]  Wenn jemand zu Euch sagen würde, ihr wärt prätentiöse Hipster, die den ultimativen Selbstdarstellungstrip fahren, was wäre eure Antwort darauf?

 (Anna lacht)

Fabian Ich würde darauf verweisen, dass wir unsere Namen nur ein einziges Mal angeben und auch Bilder von uns nur im Impressum zu finden sind.

Tobias Ich würde mich gar nicht verteidigen. Das Hipster-Thema ist ausdiskutiert genug, aber ich würde ihn auf ein Bier einladen, weil er die Eier hat, zu uns zu kommen und uns so was ins Gesicht zu sagen. Klingt nach einem lustigen Zeitgenossen. 

Anna Und wir haben ganz viel Zeit und Arbeit investiert, um im Endeffekt die Leute, und natürlich auch uns selber, zu unterhalten.

 [mb] Ihr habt das letzte Wort. 

Tobias Wir wollen die LYME Launch Party am 8. Dezember im Kuckuck ankündigen! DJ Caniggia kommt!

 

Das Interview führte Sebastian Luther.

Foto: Copyright Sebastian Luther 

Brechend schlecht? Synchronisation in Deutschland

von Sebastian Luther

Segen oder Fluch? Hilfe für Leute ohne solide Fremdsprachenkenntnisse, oder vergeudete Chance, eine Fremdsprache idiomatisch zu lernen? Nicht nur im Nörgeln und im Maschinenbau ist Deutschland gefühlter Weltmeister, sondern auch im Synchronisieren ausländischer Serien und Filme. Von der Spurensuche im deutschen Sprachfetischismus und Verbrechen im Kampf zwischen Original und Synchronisation.

Deutschland, ein Sprachmärchen

Was anderen Ländern leicht fällt, da tun sich die Deutschen manchmal schwer. Nationalstolz ist so ein Fall. Auch bald 70 Jahre nach Ende des dritten Reichs ist er hierzulande noch anrüchig, verpönt, gar despektierlich. Große Fußballereignisse wirken da wie konzentrierter Traubenzucker für das Bedürfnis vieler Bürger, ihre Zugehörigkeit zur Nation gleich mehrfach auszurücken. Das lässt während der restlichen Zeit einerseits Freiraum, um über Berechtigung und Notwendigkeit von Nationalstolz generell nachzudenken. Andererseits lenkt es die Aufmerksamkeit verstärkt auf Bereiche, in denen die Deutschen sehr viel ungenierter mit dem ihnen Gegebenen umgehen. Denn ein Blick in die Kino- und Fernsehlandschaft lässt kaum einen Zweifel: Die Deutschen lieben ihre Sprache. Filme und staffelweise Serien werden eingekauft und mit enorm hohem Aufwand synchronisiert.

Als erstes muss eine Übersetzung erstellt werden, deutsche Schauspieler müssen den übersetzten Originaltext nachsprechen (und vor allem auch spielen), Geräusche müssen häufig neu erzeugt werden, und schließlich muss die deutsche Tonspur richtig auf die Lippenbewegungen gesetzt werden, bis eine glaubwürdige deutsche Fassung entstanden ist“,

beschreibt die Webseite synchronkartei.de treffend. Der Bundesverband Deutscher Synchronproduzenten (BVDSP) schätzt das Gesamtvolumen der Branche auf 90 bis 100 Million Euro pro Jahr, die professionelle Synchronisation eines Kinofilms kostet zirka 40.000 bis 50.000 Euro. Auch wenn der Preisdruck enorm ist und im Staate Synchronisation viel faul zu sein scheint, so sieht RTL in den hochwertigen Synchronisierungen amerikanischer Serien einen wesentlichen Grund für deren Erfolg in Deutschland. Doch das allein beantwortet die Frage nicht, warum wir diese Version unbedingt vorziehen. Sind Synchronisationen unsere Form von vorsichtigem Nationalstolz oder doch Gewöhnungssache?

 Ich ♥ das Deutsche

Qualität also hin oder her, warum keine Originale? Die Ursachenforschung präsentiert hier, wie meistens, verschiedene Gründe, die zusammenspielen. Der offensichtlichste Grund dürfte sein, dass deutsche Fassungen immer noch mehr Menschen erreichen als englische oder gar französische. Eine größere Zielgruppe bedeutet logischerweise mehr potentielle Kunden. Und was mehr Kunden für ein Unternehmen bedeuten, bedarf keiner Erklärung.

Auch die Alternativen zu Synchronisationen erscheinen momentan nicht attraktiv. So verspüren wohl nur sehr wenig Menschen Lust, beim Fernsehen oder im Kino ständig auf Untertitel zu kucken. Das lenkt einerseits von der Bildebene ab und nimmt im Ernstfall spannende Wendungen vorweg. Andererseits ist der Reflex, die Untertitel zu lesen, durch das den Imperativ des geschriebenen Worts nur sehr schwer zu unterdrücken, weshalb auch diejenigen ein minderwertiges Erlebnis haben, die die Sprache eigentlich beherrschen. Da bleibt gezwungenermaßen nur noch die Originalfassung, die für noch weniger Zuschauer verständlich ist. Der finanzielle Teufelskreis für Originale schließt sich hier, wenn das Fehlen einer deutschen Synchronisation weniger Zuschauer für die teuer gekaufte Serie bedeutet. Kosten können nicht gerechtfertigt werden und auch in Zukunft wird kein Original eingekauft.

 Wie ich deine Mutter traf

Wenn wir im Kino sind, wollen wir alles verstehen. Wenn wir eine Serie im Fernsehen ankucken, wollen wir quasi-mühelos unterhalten werden. Aber genau so gerät ein wichtiger künstlerischer Aspekt unter die Räder des akkuraten Deutschen mit seinen preisgekrönten Maschinen. Kulturelle Codes auf sprachlicher Ebene lassen sich sehr schwer in eine andere Sprache übertragen. Dabei sind es genau diese Informationen, die uns helfen, ein tieferes Verständnis für einen Film zu gewinnen. Die Synchronisation wirkt hier wie ein akustisches Beruhigungsmittel. Wir haben ja alles verstanden, warum also nachforschen? Sieht man die Serie oder den Film dagegen mit Originalton und versteht mal was nicht, so besteht wenigstens noch die Möglichkeit, dass man versucht, das Missverständnis aufzuklären. Dabei lernt man ganz nebenbei idiomatische Formulierungen einer Fremdsprache.

In der Einheitswelt der Synchronisation ist dafür kein Platz mehr. Der Reiz, der Flirt mit dem Fremden wird glatt gebügelt: Sprichwörter und Wortwitze, die nicht übersetzt werden, Gesangseinlagen, Anspielungen sowie Dialekte, die verloren gehen. Eine Synchronisation muss den Spagat zwischen eigener Sprachidentität und der der Fremdsprache schaffen. Die zwangsläufigen Diskrepanzen erschaffen schließlich eine armseelige Kreatur, die nicht zwei Seelen in ihrer Brust hat, sondern gleich zwei Köpfe auf den Schultern trägt, die sich gegenseitig zerfleischen: Synchron-Deutsch. Kantige Formulierungen, die nicht zur Situation passen. Lippenbewegungen, die etwas völlig anderes vermuten lassen. Und Übersetzungsfehler, die, in aller gebotenen Mäßigung, einfach scheußlich sind. Selbst wenn es eine gelungene Synchronisation schafft, diese Stolperfallen zu vermeiden, bleibt immer noch der drückende Gedanke, dass sich manche Dinge einfach nicht übersetzen lassen und so ein Witz einfach verloren geht, in den Weiten einer transzendenten Zwischenebene von Übersetzung und Original, die keinen Interpretationsspielraum mehr zulässt.

English Speaker, Englisch Sprecher

Alleine ist Deutschland mit seiner Synchronisationskultur allerdings nicht gänzlich, wie diese Karte zeigt. Auch zum Beispiel Frankreich, Italien und Spanien nutzen Synchronisationen. Allerdings wird in vielen Ländern Osteuropas aus Kostengründen von einer Synchronisation abgesehen – dort werden Filme mit Untertiteln in den jeweiligen Landessprachen gezeigt. Auch in Skandinavien wird nicht synchronisiert – die meisten Menschen dort sind gegen eine Synchronisation. In Russland und Polen gab es lange die Praktik, im Voice-over in der Landessprache über die Englische Originaltonspur zu sprechen. Die gleiche Technik wird in Deutschland oft bei Interviews in einer andren Sprache oder bei Live-Übersetzungen verwendet. Doch die Tendenz dazu ist abnehmend, viele Filme werden heute professionell synchronisiert.

Und natürlich sollte nicht jeder in der Lage sein müssen, das Oxford Dictionary aus dem Effeff zitieren zu können, nur damit man ins Kino gehen kann und auch etwas versteht. Auch hier öffnet sich der Markt langsam und heiß antizipierte Filme, wie der neue James Bond oder Batman, können in ausgewählten Kinos auf englisch gesehen werden. Wer seine Unterhaltung mit originaler Sprachausgabe genießen will, der wird wohl fündig werden. Wer sich nach Feierabend nur noch ein wenig berieseln lassen möchte, oder einfach nicht viel englisch spricht, für den ist ebenfalls gesorgt. Der Trend zu mehr Original ist jedoch durchaus positiv zu bewerten.

Fotos: flickr.com/Keith Bloomfield (CC BY-NC-ND 2.0), flickr.com/sminor (CC BY-NC-ND 2.0)

Eine andere Perspektive? – Im Gespräch mit Michel Arriens

von Alexander Karl

Wie man sich in den Medien präsentiert, weiß Michel Arriens mittlerweile genau: Gemeinsam mit Ulla Kock am Brink hat er auf SAT.1 ein Format über Kleinwüchsige moderiert. Dabei stand er auch selbst als Protagonist vor der Kamera. Viel Medienerfahrung für einen 22-jährigen Studenten.

Mit seinem Kommilitonen Alexander Karl sprach Michel Arriens über seinen Weg auf den Bildschirm, Doku-Soaps und sein Studium.

Michel, du hast ‚Die große Welt der kleinen Menschen‘ gemeinsam mit Ulla Kock am Brink moderiert und warst auch einer der Protagonisten. Wie findest du das Wortspiel im Titel der Sendung?

Ich finde es nicht schlimm. Es ist einfach ein Fakt, dass gewisse Dinge bei Kleinwüchsigen anders sind und damit gehe ich auch offen um. Beispielsweise ist die Perspektive mit meinen 1,25 Metern völlig anders, als bei jemand mit 1,80 Metern.

Wie kam es dazu, dass du plötzlich bei einer Doku-Soap mitmachst?

Zunächst bekam ich nur eine Mail der Casting-Agentur des Senders. Darauf habe ich geantwortet, Bilder und Infos über mich hingeschickt – und wurde dann zum Videocasting eingeladen, bei dem ich vor der Kamera auf Herz und Nieren geprüft wurde. Offensichtlich hat das gut geklappt (lacht). Davor habe ich aber auch schon bei einer ‚Focus TV Reportage‘ mitgewirkt.

Du standest nicht nur als Moderator vor der Kamera, sondern auch als Protagonist. Doku-Soaps wie ‚Bauer sucht Frau‘ oder ‚Frauentausch‘ stehen immer wieder in der Kritik, Menschen vorzuführen. Hattest du Angst davor?

Angst ist das falsche Wort. Aber ich habe von Beginn an gesagt, dass ich nicht mit einer Zipfelmütze durch das Bild laufen oder andere Klischees bedienen werde. Ich wusste im Vorfeld, dass es eine Doku-Soap wird, in der es Höhe- und Tiefpunkte gibt. Mir war es wichtig, dass man nicht einerseits als der hilflose Behinderte gezeigt und mit Samthandschuhen angefasst wird. Und andererseits auch nicht an den Pranger gestellt wird. Und ich finde, dass es dem Sender insgesamt gelungen ist, ein authentisches Bild von Kleinwüchsigen zu zeigen.

Es gibt aber auch kritische Stimmen zur Sendung, etwa von Karl-Heinz Klingebiel vom ‚Bundesverband Kleinwüchsige Menschen‘, der gegenüber dem Medienmagazin ‚ZAPP‘ von einer „flachen, dümmlichen Sendung“ sprach. Wie reagierst du auf solche Kritik?

Die Kritik richtete sich ja nicht an mich. Natürlich muss bei solchen Formaten immer wieder gekürzt und geschnitten werden, es kann ja nicht das gesamte Drehmaterial gezeigt werden. Zum Beispiel auch die Szenen, die beim ‚Großen Treffen‘ des ‚Bundesverbands Kleinwüchsige Menschen‘ gedreht wurden. Da wurden leider einige Szenen herausgelassen, sodass eher der Eindruck erweckt wurde, dass es sich nur um eine Spaßveranstaltung handelt. Ärztevorträge und so weiter wurden eben nicht gezeigt. Das hätte man anders machen können, da teile ich die Kritik.

Deine Kollegin ChrisTine Urspruch spielt das ‚Sams‘ und auch im Münsteraner ‚Tatort‘. In diesem Jahr wurde viel über die Paralympics in London berichtet. Denkst du, dass Menschen mit Behinderungen ihren Platz in den Medien gefunden haben?

Ich glaube, sie sind dabei, ihren Platz zu finden. Die Paralympics in diesem Jahr sind ein gutes Beispiel, denn sie zeigen, dass Menschen mit Behinderung ohne Probleme bestimmte Sportarten ausführen können – und das haben die Medien auch so dargestellt.

Du gehst offen mit dem Kleinwuchs um, triffst aber auch sicherlich auf Menschen, die nicht genau wissen, wie sie sich dir gegenüber verhalten sollen. Wie sollen die Leute auf dich zugehen?

Es kommt darauf an, wie gut man die Menschen kennt: Wenn es Freunde sind, habe ich kein Problem mit einem kleinen Spaß – ich weiß ja, wie es gemeint ist. Bei Fremden ist das natürlich etwas anderes, da erwarte ich auch eine sprachliche Korrektheit.

Du hast zunächst Inklusive Pädagogik studiert, nun studierst du Medien- und Kommunikationswissenschaft in Hamburg. Wie kam es zu dem Wechsel?

Bei den Praktika zum Lehramtsstudium habe ich schnell gemerkt, dass der Beruf körperlich für mich zu anstrengend wäre. Alleine schon Kinder auseinander zu halten ist für mich einfach drei bis vier Mal anstrengender als für einen Menschen mit durchschnittlicher Größe. Außerdem haben sich für mich in der Medienbranche gerade Türen geöffnet. Aber auch wissenschaftlich interessiere ich mich für die Darstellung von Handicaps in den Medien.

Wie geht es nun für dich auf dem Bildschirm weiter?

Wenn ‚Die große Welt der kleinen Menschen‘ in die 2. Staffel gehen sollte, wäre ich gerne wieder dabei. Ansonsten sollte man gespannt bleiben (lacht).  Aber mal schauen, ob mein großer Traum, einmal neben Markus Lanz zu sitzen, wahr wird. Entweder auf dem bequemen Sessel oder dem großen Sofa.

 

Foto: Alexander Karl

Klartext: Gefangen in der Blase – Eli Parisers „Filter Bubble“

von Sandra Fuhrmann


Sucht man nach dem Wort „Depression“ in einem Internetlexikon, installiert die Seite sofort bis zu 223 Cookies. Und fortan wird man mit Werbeanzeigen für Antidepressiva durch das Internet gejagt. Die Gemeinschaft der Internetnutzer ist gefangen in einer Blase, die sie mit ihren eigenen Interessen umgibt. In seinem 2011 erschienenen Buch The Filter Bubble – What the Internet Is Hiding from You thematisiert Pariser genau das: die gemeinsame Einsamkeit im Netz.

Ein Mann der Tat

Eli Pariser ist ein Mann, der durch die Praxis groß wurde. Seinen Bachelor machte er am Simon’s Rock College in Great Barrington, Massachusetts in den Fächern Recht, Politik und Gesellschaft.

Er ist zwanzig Jahre, als er infolge der Terroranschläge von 9/11 eine eigene Website gründet, die sich kurze Zeit später mit der Seite MoveOn.org verbindet. Unter Parisers Leitung schafft die Seite damals einen Meilenstein in der Geschichte der Online-Mobilisierungen, indem sie viele der heutigen üblichen Praktiken etablierte und zeigte, dass es möglich ist, auf dem Online-Weg eine große Menge an vielen kleinen Spendenbeiträgen zusammenzutragen. Mit Auftritten in den meisten amerikanischen Hauptnachrichtensendern erlangte Pariser in den Folgejahren Bekanntheit. Man kann ihn kurz und einfach Online-Aktivisten bezeichnen.

Wie kann ich Ihnen helfen?

Eine kleine Nostalgiereise in die Einkaufswelt vor dem Onlineshopping: Es gab sie damals und es gibt sie noch heute, die Buchläden der realen Welt. Dort suchte man früher nach einem Schmöker, der einem das Einschlafen erleichtert oder lange Zugfahrten überbrückt. Vielleicht ging man sogar öfter in besagten Laden. Dann kam der nette Verkäufer, der uns und unseren Geschmack kannte, oftmals auf uns zu und wies uns auf den neuen Band der Romantrilogie hin, von der wir bereits die ersten beiden Bände gekauft hatten. Ein solcher Buchladen hat viele Regale und man war oft dankbar für solche Tipps, die wertvolle Zeit sparen und einem ein fast garantiertes Lesevergnügen bescheren.

Man stelle sich nun die virtuellen Buchregale bei Amazon vor, denen platzmäßig keine Schranken auferlegt sind. Inzwischen sind es nicht mehr nur Bücher, sondern im Grunde das ganze Spektrum an Möglichkeiten, an dem wir unsere Konsumlust ausleben können. Aber auch hier gibt es ihn: den freundlichen Verkäufer, der uns auf die Angebote hinweist, die uns vermutlich gefallen. Er heißt nicht Herr Meyer oder Frau Müller wie im Buchladen, sondern „Personalisierungsagent“.

Wer wir sind

Bereits zu seinen Anfängen 1995 war Amazon ein Online-Shop mit eingebauter Personalisierung. Die Idee von Personalisierungsagenten aber wurde schon früher entwickelt. Mitte der 90er Jahre gab es eine zunehmende Anzahl an Fernsehsendern, aus denen das Publikum auswählen konnte. So entwickelte Nicolas Negroponte am MIT Media Lab 1994 die Idee einer lernfähigen Fernbedienung, die die Vorlieben der Rezipienten abspeichern konnte.

Ganz ähnlich funktionieren die Personalisierungsalgorithmen, die heute so oft den Pfad bestimmen, den wir auf unserer Reise durch das Internet nehmen. Amazon merkt sich die Produkte, die wir gekauft oder nur angeschaut haben und schickt uns entsprechende Empfehlungen. Google speichert unsere „Click Signals“ und erstellt dementsprechend unseren persönlichen „Page Rank“, also die Reihenfolge der Treffer, die angezeigt werden. Das bedeutet, dass zwei Personen, die nach demselben Wort googeln, ihre Ergebnisse nie in derselben Reihenfolge präsentiert bekommen werden. Oben steht, was erwartungsgemäß am meisten unseren Präferenzen entspricht.

So hinterlassen wir Spuren im Internet. Und in jeder dieser Spuren stecken mehr Informationen über uns selbst, als mancher sich vorstellen mag. Ein angenehmer Service, bei der unendlichen Informationsflut im Internet, könnte man sagen. Ja, ABER, würde Pariser antworten.

Zirkel der Verdammnis

„The structure of our media affects the character of our society. The printed word is conductive to democratic argument in a way that laboriously copied scrolls aren’t.“ Das, was man in den Medien zu lesen und zu hören bekommt, prägt den Charakter der Gesellschaft, sagt Pariser. Die Gesellschaft, das ist das, was sich aus jedem einzelnen Individuum zusammensetzt, also aus uns. Beeinflussen diese gefilterten Inhalte also uns, haben sie damit das Potenzial die ganze Gesellschaftsstruktur zu verändern. Damit kommen wir zu dem, was Pariser als „The Filter Bubble“ bezeichnet.

„[Alghorithms] are prediction engines, constantly creating and refining a theory of who you are and what you’ll do next. Together, these engines create a unique universe of information for each of us.“

Was Pariser beschreibt, lässt sich dramatisch ausgedrückt als Zirkel der Verdammnis beschreiben. „What you’ve clicked on in the past determines what you see next – a web history you’re doomed to repeat.“

Die Jagd nach Unterwäsche – gejagt von Unterwäsche

Als klänge das nicht besorgniserregend genug, geht Pariser noch einen Schritt weiter. Nicht nur, dass wir in einer Blase festsitzen, die immer wieder unsere eigenen Interessen widerspiegelt. Nein, Personalisierung birgt noch weitere Potenziale und Gefahren. Ihre Potenziale wurden bereits von der Wirtschaft entdeckt, ihre Gefahren bleiben bei den Nutzern oft unerkannt. Wer sich schon einmal gefragt hat, warum er von Anzeigen für Markenunterwäsche durchs Internet gejagt wird, seitdem er nur einmal darauf geklickt hat, der hat nun ein Wort dafür: Retargeting.

„For now, retargeting is being used by advertisers, but there’s no reason to expect that publishers and content providers won’t get in on it“. Hier muss man keinen großen Gedankensprung mehr machen, um sich auszumahlen, dass durchaus noch weitere Teilnehmer mit ins Spiel kommen könnten, die das Interesse und die Macht haben, Personalisierung für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Man denke beispielsweise an die politische Führung verschiedener Länder.

Doch die Vorteile für Anbieter gehen weit über bloßes Stalking der potenziellen Kunden hinaus. Die Daten der Nutzer, also die bereits erwähnten Spuren, die wir im Internet hinterlassen, gelten in der Online-Welt längst als eine Art Währung. „The company that has the most data and can put it to the best use gets the advertising dollars.“

Wie wir ticken

Pariser verdeutlicht anhand mehrerer Studien, welch starken Einfluss Medien auf unsere Meinungsbildung haben. So führte beispielsweise der Neuropsychologe Drew Westen einen Versuch durch, bei dem Probenden aufgefordert wurden, sich eine Liste von Wörtern zu merken. Darunter die Wörter Mond und Ozean. Als er danach zu der Frage wechselte, welches Waschmittel sie bevorzugten, zeigten die Probanden eine starke Vorliebe für das Produkt Tide. Doch beeinflussen Medien nicht nur unsere Vorlieben. Auch neigen wir dazu, Dinge eher zu glauben, von denen wir vorher schon einmal gehört haben und die uns so bereits bekannt sind.

Homage an die Freiheit

„All of these are basic psychological mechanisms. But combine them with personalized media, and troubling things start to happen. Your identity shapes your media, and your media then shapes what you believe and what you care about.“

In den nächsten Jahren werden die Regeln geschrieben, die das Online-Leben des kommenden Jahrzehnts oder sogar noch längerer Zeit bestimmen werden, so Parisers Prophezeihung. Die großen Player sind gut darauf vorbereitet, diese Regeln nach ihren Wünschen zu formen. Allein die Internetnutzer scheinen es bislang nicht zu sein. Getreu seiner Rolle als Aktivist sind Parisers Worte ein Plädoyer für die Freiheit im Netz und der Aufruf an alle Nutzer, sich aus ihrer Blase zu befreien. „If the great mass of us decide that an open, public-spirited Internet matters and speak up about it […] the lobbyists don’t stand a chance.“

Ein gefährlicher Aspekt der Personalisierungsagenten ist, wie Pariser feststellt, dass sie unsichtbar sind. Der Kampf für die Freiheit im Netz sollte also mit der Aufklärung der Nutzer beginnen. Genau das tut Pariser in The Filter Bubble. Ein Buch, das nicht nur für Medienwissenschaftler spannend sein dürfte, sondern für jeden, der im Internet regelmäßig auf sich selbst stößt.

 

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