Slut-Shaming: Wenn sich der Mob zur Moralpolizei erhebt
von Lara Luttenschlager
Als sich die Australierin Olivia Melville, 23 Jahre alt, vergangenes Jahr ein Profil auf der allseits gehypten Dating-App Tinder zulegte, hatte sie sich wohl etwas andere Reaktionen erhofft. Denn eigentlich verspricht die App vor allem eins: Den ersten Eindruck auf potentielle Flirts durch ein perfekt inszeniertes Selfie und einen lustigen oder besonders tiefgründigen Spruch bis ins letzte Detail selbst bestimmen zu können. Wem dieser gefällt, ist vielleicht ein „Match“, und wem er nicht zusagt, sieht man sowieso nicht. Abfuhren bleiben so garantiert aus. Olivia, auf ihrem sorgsam ausgewählten Profilbild mit Lippenstift-Lächeln und zwei Freundinnen im Hintergrund ausgestattet, wählte einen vielleicht nicht ganz so romantischen Untertitel für ihr Profil, ein Zitat aus Drakes Song Only: „Type of girl that will suck you dry and then eat some lunch with you“. Für Tinder-Nutzer Chris Hall war dies zwar keinen Match wert – aber einen Screenshot, den er auf Facebook veröffentlichte. Sein Kommentar dazu: „Behaltet Klasse Ladies / Ich bin erstaunt, dass sie immer noch Hunger auf Mittagessen hat“. Der Screenshot ging viral – in Begleitung einer Welle an Beleidigungen über die junge Frau und ihr Profil. Wie so viele andere war Melville soeben „geslutshamed“ worden.
Die Moralpolizei und ihr digitaler Pranger
Der öffentliche Pranger, wie er früher etwa in Form öffentlicher Auspeitschungen auf dem Marktplatz stattfand, hat in den Sozialen Medien in Form von Cybermobbing sein großes Comeback erlebt. Wer in den Augen der Öffentlichkeit – oder zumindest einer Teilöffentlichkeit – gesündigt hat, wird zur Schau gestellt, diffamiert, beleidigt. Sogenannte shamer betreiben gezielt public shaming gegen jene, die ihrer Meinung eine Normverletzung begangen haben. Im Fall des immer weiter verbreiteten slut-shaming sind es Frauen, die sich scheinbar zu freizügig zeigen oder ein zu freies Sexualleben haben, über die ein wahrer Shitstorm hereinbricht. Am digitalen Pranger werden sie als „slut“ beleidigt, ein Exempel an ihnen statuiert, ihre Normverletzung viral verbreitet. Hall und seine Freunde kündigten sich selbst als „die Kavallerie“ an, bevor sie in der Kommentarzeile weitere Anfeindungen formulierten, als würden sie sich als Kämpfer im Krieg gegen die Verdorbenheit der Frauen verstehen.
Als besonders engagiertes Mitglied dieser selbsternannten digitalen Moralpolizei erwies sich Halls Facebook-Freund Zane Alchin mit Kommentaren wie: „It’s people like you who make it clear women should never have been given rights“. Die wütenden Antworten einer Freundin Melvilles würdigte er durch Vergewaltigungsdrohungen: „You know the best thing about a feminist they don’t get any action so when you rape them it feels 100 times tighter“. Melvilles Fall ist dabei nur einer von vielen – und auch slut-shaming ist nur ein Beispiel für die Bloßstellung sich nicht „normenkonform“ verhaltender Menschen. So verursachte beispielsweise die PR-Managerin Justine Sacco 2013 eine riesige Empörungswelle, als sie kurz vor ihrem Flug nach Kapstadt twitterte: „Going to Africa. Hope I don’t get AIDS. Just kidding. I’m white!“. Sofort zirkulierten weltweit hasserfüllte Kommentare zu der jungen Frau und ihren rassistischen Tweet unter dem Hashtag #hasjustinelandedyet, wenige Tage später setzte ihr sie Arbeitgeber vor die Tür.
Die Verlockungen der digitalen Experimentierwiese
Im digitalen Zeitalter haben wir einen Raum geschaffen, in dem sich nicht nur immer mehr Aspekte unseres Lebens abspielen, sondern in welchem wir auch eine neue Bühne finden, um uns selbst zu inszenieren. Dabei gehört die Selbstinszenierung zum alltäglichen sozialen Leben des Menschen dazu – nur findet sie im Internet nicht Face-to-Face statt. Im zunächst anonymen oder zumindest entpersonalisierten virtuellen Raum haben wir so die Möglichkeit, mit unserer digitalen Identität zu experimentieren, indem wir in sozialen Netzwerken bestimmte Informationen preisgeben, Bilder von uns veröffentlichen und so gezieltes impression management betreiben, wie Erving Goffman sagen würde. Doch während es in der analogen Welt weitaus schwieriger ist, sich zu verstellen, kann man sich in der digitalen Welt durchaus von seiner wahren Person lösen und sich ein anderes Gesicht geben – manchmal im wahrsten Sinne des Wortes. Wohl deshalb ist die Freizügigkeit und sexualisierte Eigendarstellung junger Frauen im Wettbewerb um Aufmerksamkeit und Anerkennung ein inzwischen wohlbekanntes Phänomen.
Wofür viele jedoch noch kein Bewusstsein besitzen, sind die neuen, theoretisch weltweiten Öffentlichkeiten, in die sie ihre Informationen einspeisen. Dies führt dazu, dass Normverletzungen nicht mehr nur in einem begrenzten, lokalen Rahmen sichtbar werden, sondern völlig fremde, weit entfernt lebende Menschen sich ebenfalls über die Handlungen anderer entrüsten können. Durch den höheren Anonymitätsgrad im Netz und die indirekte Form der Kommunikation verlieren diese jedoch große Teile ihrer Empathiefähigkeit, da sie ihren Opfern nicht direkt ins Gesicht sehen, wenn sie agieren. Das Ergebnis sind enthemmtere, verletzendere Reaktionen auf Menschengruppen, deren Verhalten scheinbar nicht mit vorherrschenden Wertvorstellungen vereinbar ist – im Fall des slut-shaming werden dabei Menschen angegriffen, deren Sexualleben angeblich nicht dem gesellschaftlich anerkannten Vorbild entsprechen.
Eine Hetzjagd mit Folgen
Welche Folgen diese digitale Hetzjagd auf die Opfer haben kann, dessen sind sich die shamer meist nicht bewusst. Das wohl bekannteste Beispiel für die Auswirkungen des slut-shamings ist der Selbstmord der 15-jährigen Amanda Todd im Jahr 2012, deren Nacktfoto auf einem Facebook-Profil veröffentlicht wurde und trotz mehrmaliger Wohnortswechsel immer wieder zu Mobbing im Internet und durch ihre Mitschüler führte. Philosoph Burkhard Liebsch spricht im Zusammenhang mit Cybermobbing von einer virtuellen symbolischen Gewalt, durch die gezielt das moralische Gesicht, das Ansehen einer Person zerstört wird. Und da das Internet ja bekanntlich nicht vergisst, ist dieses Gesicht auf lange Sicht kaum wiederherstellbar. Wer heute Olivia Melvilles Namen auf Google eingibt, findet sofort die Spuren ihrer Bloßstellung, die sich auch in Zukunft wahrscheinlich nicht mehr löschen lassen werden. Wenigstens hatte der Vorfall dieses Mal auch für die shamer Folgen: Chris Hall verlor seinen Job und Zane Alchin muss sich im Juni 2016 vor Gericht verantworten.
Fotos: flickr.com/Delete (CC BY-NC 2.0), flickr.com/Helga Weber (CC BY-ND 2.0), flickr.com/_eWalter_ (CC BY-NC 2.0)
Weitere Artikel dieser Reihe: