Neuer Blickwinkel mit Megafon

von Sandra Fuhrmann

Im Grunde sind wir alle Beobachter. Ich selbst beobachte Tübingen, seit ich vor einem Dreivierteljahr in die Stadt gezogen bin – und die Stadt hat sicher ihre Eigenheiten. Heute bin ich weniger gekommen um zu beobachten, als um zuzuhören. Auf der kleinen Terrasse des Tübinger Landestheaters (LTT) warte ich auf Maria Viktoria Linke, die leitenden Dramaturgin des LTT, und die Autorin Sandra Hoffmann. Sie haben mich eingeladen, um mir von „Megafon“, ihrem gemeinsamen Projekt, zu erzählen. Während ich dort so sitze, fällt mir auf, dass ich die einzige Studentin im Restaurant zu sein scheine. Ein in Tübingen eher seltenes Erlebnis. Ich bin gespannt, welche Perspektive auf die Stadt meine beiden Gesprächspartnerinnen bei ihren Beobachtungen gewonnen haben.

„Megafon – Tübingen hallt und schallt“, so das Motto des Projekts. Seit September des vergangenen Jahres haben Maria Viktoria Linke und Sandra Hoffmann Stimmen gesammelt oder diese aus der Stadt „herausgelockt„. Sie haben sich in Tübingen umgeschaut und vor allem umgehört. Dann haben sie das, was sie zusammengetragen haben, „umgewälzt“ und  dabei ganz unterschiedliche Perspektiven entdeckt.

 Auf der anderen Seite des Neckars

An diesem Tag nehme ich selbst einmal eine andere Perspektive ein. Ich bin auf der anderen Seite des Neckars. „Hierhin verirren sich die Studenten eher selten“, sagen die beiden Organisatorinnen und bestätigen damit meine eigenen Beobachtungen. Während ich mir einen Kaffee bestelle, reden wir über das Megafon-Projekt. Und während die beiden erzählen, spüre ich, wie viel sie sich in den vergangenen Monaten durch das Projekt mit der Stadt und ihren Bewohnern auseinandergesetzt haben.

Zum Programm: Megafon – was ist das eigentlich? „Ein offenes Sprachrohr“, könnte man antworten. Beim Projekt „Megafon“ wird ganz Tübingen zu einem Sprachrohr. Hoffmann hatte die Idee, die Leserbriefe des Tübinger Tagblatts als eine Art „Seismograf“ für das zu verwenden „was Tübingen ist“. Teilweise sei es ein richtiggehender Kampf, der in diesen Briefen ausgefochten werde und das zeige spannende Seiten der Stadt. „Die Stadt hat interessant reagiert“, berichtet die Autorin, „es gab viele Fragen und enormen Einspruch und Zorn. Zorn darüber, dass wir die Stadt beobachten, dass wir diese Leserbriefe lesen und dass wir sie möglicherweise theatral verwenden.“ Linke vermutet: „Es war die große Angst vor Verarschung.“

Die Ohren gespitzt

Maria Viktoria Linke und Sandra Hoffmann haben ein Dreivierteljahr lang „Tübingen gehört“. Das Gesammelte soll am 22. Und 23. Juni in ein großes Theaterspektakel münden. Die Abende werden je aus zwei Teilen bestehen. Im ersten Teil wird es einen Gang durchs Theater geben, bei dem in Form theatraler Einlagen und verschiedener Lesungen dokumentarisches zu sehen und zu hören sein wird.  Das, was aus dem Gesammelten entstanden ist, wird im zweiten Teil des Abends als eine „Groteske“ oder „Materialkollage“ zu sehen sein. Dabei soll es nicht um eine dokumentarische Darstellung der Stadt gehen. „Theaterstück“ sei auch der falsche Name dafür – zum Beispiel bestehe das Stück nämlich nicht aus einzelnen Akten, so Hoffmann.

Die Straße hinter der Straße

Zum einen geht es bei Megafon darum, eine Stimmenvielfalt der Stadt sichtbar zu machen. Zum anderen hoffen die Organisatorinnen vielleicht etwas „Tübingen-Spezifisches“ zu finden, „das hier ist anders als anderswo“, heißt es auf der Internetseite des Projekts.

Was ist hier denn anders als anderswo? frage ich. „Erzählen Sie doch mal, was anders ist. Das würde uns gleich interessieren.“ lacht Maria Viktoria Linke. Als ich nach Tübingen kam, erinnere ich mich, da kam mir erst einmal vieles „anders“ vor als in anderen Städten. Vielleicht erschien mir dieses „anders“ zu Anfang ein wenig fremd – und bekanntermaßen neigen wir Menschen dazu, Fremdes mit großem Misstrauen zu beäugen. Aber was ist Tübingen denn eigentlich? Schaut man auf das Ortsschild, ist es zuerst einmal eine Universitätsstadt. Es sind die Studenten, die Tübingen zur Stadt mit dem niedrigsten Altersdurchschnitt in ganz Deutschland machen. Tübingen hat keine Universität – Tübingen ist eine Universität.

Hinter Tübingens Kulissen

Und weil ich in meinem Medienwissenschafts-Studiengang stecke, schaue ich auf die vielen verschiedenen Wege, die die Organisatoren in den letzten Monaten gegangen sind, um hinter die Kulissen der Stadt zu blicken. Es wurden Briefe gelesen, Interviews geführt, Radiobeiträge erstellt und eine Website mit einer Hotline extra für das Projekt eingerichtet. Die letzten beiden „knackigen“ Wochen im Juni sollen von einem Blog zum Projekt begleitet werden. Ich frage, welche Rolle diese Multimedialität im Projekt spielt. „Sie ist ein Teil davon, aber nicht unser Hauptaugenmerk“, sagt Linke. „Ich habe auch schon Projekte gemacht, die eindeutig medienbasiert waren. Bei Megafon sind wir eher ein bisschen retro. Vor allem ging es uns um eine große Offenheit.“

Vielleicht könnte in dieser Hinsicht, so haben die beiden gelernt, Tübingen ein bisschen weniger Ernsthaftigkeit und ein bisschen mehr Ironietolleranz nicht schaden. Die Sorge von manch einem „verarscht“ zu werden, sei völlig unbegründet. „Wenn man Leute nicht ernst nimmt, dann beschäftigt man sich auch nicht mit ihnen“, findet Linke. Und mit der Stadt beschäftigt haben die beiden sich in den vergangenen Monaten zur Genüge. 

Tübingen und ich

Während ich den Artikel schreibe, wird mir bewusst, dass tatsächlich viel Wahrheit hinter den Worten der Dramaturgin steckt. Ich glaube, dass Beobachten etwas ist, das man lernen kann. Aber nur, wenn man lernt, bewusst zu beobachten. Vielleicht habe ich während des Schreibens gelernt, „mein Tübingen“ hinter „dem Tübingen“ zu sehen und die Stadt auch ein wenig ernster zu nehmen.

Aber halt! Es ist noch nicht Schluss mit Beobachten. Denn Sandra Hoffmann und Maria Viktoria Linke werden noch ein wenig weiter sammeln – beziehungsweise sammeln lassen. Vom 11. bis zum 16. Juni werden etwa zwöft Tübinger Autoren ihre stillen Kämmerlein verlassen und sich an den sogenannten „Tübinger Schreibtischen“ in der Stadt verteilen, um einfach nur zu sehen und das Gesehene aufzuschreiben. Ich werde losziehen und die eigentlich stummen Beobachter ein wenig zum Quatschen bringen. Vielleicht sind wir am Ende überrascht, auf was sie so stoßen. Das Ergebnis wird wieder auf media-bubble.de zu finden sein.

Die beigefügten Bilder wurden von Jan Andreas Münster speziell für das Megafon-Projekt aufgenommen.

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