Die Dystopie auf der Leinwand (2)
Höhepunkte des dystopischen Films von 1984 bis heute
Von Antje Günther
Bereits im letzten Artikel wurden einige Höhepunkte der dystopischen Filmgeschichte vorgestellt. Diese Liste wird hier nun vervollständigt mit Klassikern wie Radfords Nineteen Eighty-Four (1984) und Terry Gilliams Satire Brazil (1985). Den Abschluss bildet ein Sprung in die 2000er, zu Alfonso Cuaróns Children of Men (2006).
4. Nineteen Eighty-Four (1984)
Keine Betrachtung der Dystopie kommt um George Orwells Klassiker 1984 herum. So überrascht es wenig, dass das Werk auch mehrfach den Weg auf die große Leinwand fand. Die erste Verfilmung fürs Kino – davor war bereits von der BBC eine Fernsehversion veröffentlicht worden – erschien 1956, stieß jedoch auf große Kritik. Zu groß waren die Freiheiten, die sich Regisseur Michael Anderson im Vergleich zur Romanvorlage herausnahm. Eine originalgetreuere Version fand schließlich im Orwell-Jahr 1984 seinen Weg in die britischen Kinos. Michael Radfords Film kleidet das Grauen des totalitären Staates in eindrucksvolle Bilder, dominiert vom allgegenwärtigen Grau: der Häuser, der Straßen, der Menschen. Er schafft eine düstere, bedrückende Atmosphäre, die Orwells Vision des Großen Bruders nicht nur durch den Plot, sondern auch visuell erzählt. Dabei hält sich Radford eng an die Vorlage und scheut sich nicht, die grimmigen Folterszenen des Buches umzusetzen. Insbesondere die „Rattenszene“, in der Winston schließlich Julia verrät, ist bemerkenswert verfilmt. Es wird deutlich, dass es dabei mehr um den psychischen Terror der Gehirnwäsche geht, als um die körperlichen Schmerzen Winstons. Die Gehirnwäsche ist erfolgreich und so endet der Film ebenso wie das Buch mit Winstons Liebesbekenntnis zum Großen Bruder; mit einem geflüsterten „I love you“ des weinenden Winston.
5. Brazil (1985)
Die 80er Jahre waren ein starkes Jahrzehnt für den dystopischen Film. Neben Blade Runner und Nineteen Eighty-Four kam auch Terry Gilliams Brazil (Foto im Header) 1985 ins Kino. Eigentlich eine Satire über Bürokratie und eine Parodie auf die klassische Dystopie, entfaltet der Film selbst ein dystopisches Szenario, in dem bereits der kleinste Fehler drastische Konsequenzen nach sich ziehen kann. So führt ein kleiner Druckfehler dazu, dass statt des „Terroristen“ Tuttle – der in Wahrheit einfach nur ein Heizungsbauer ist, der sich vor dem Papierkram drückt – der Familienvater Buttle verhaftet, gefoltert und schließlich ermordet wird. Sam Lowry, kleiner Angestellter im Archiv des M.O.I. (Ministry of Information), wird beauftragt, der Witwe Buttles einen Scheck über eine „Informationswiedergutmachungszahlung“ zu überbringen. Dabei trifft er die Frau aus seinen Träumen, in denen er sie als geflügelter Held zu retten versucht. Es handelt sich um Buttles Nachbarin, die Lastwagenfahrerin Jill. Lowry beginnt daraufhin seine verzweifelte Suche nach ihr, wobei er erfährt, dass auch das M.O.I. nach ihr fahndet. Als der Versuch, Jill aus den Unterlagen des Ministeriums zu löschen, fehlschlägt, wird Lowry verhaftet und gefoltert. Es scheint zunächst, als könnte er mit Hilfe von Tuttle entkommen und mit Jill in Frieden leben. Dies stellt sich jedoch als Vision Lowrys heraus, der durch die Folter seinen Verstand verloren hat und sich so den Zwängen des Ministeriums entzieht.
Gilliam erzählt Lowrys Geschichte mit absurd-groteskem Humor und mischt farbenfrohe Traumsequenzen mit den grauen Bildern der Realität. Er erschafft eine Welt, in der Formulare und Quittungen alles sind und die Menschen wortwörtlich hinter dem Papier verschwinden. Als Parodie auf Orwells Nineteen Eighty-Four enthält der Film auch viele Anspielungen auf das Original: eine ähnliche Stellung des Protagonisten, Jill als die neue Julia, und vieles mehr. Aber auch Kleinigkeiten wie das Kommunikationssystem im M.O.I. erinnern an Radfords Verfilmung, die gerade mal ein Jahr zuvor erschien. So handelt es sich bei Brazil zwar um eine Parodie auf eine Dystopie, die einen durchaus zum Lachen bringt, gleichzeitig wird dadurch die Gesellschaftskritik aber nicht geschmälert. Gerade das absurde Bestehen auf Unterschriften oder Formulare in vielen Szenen des Films regt ebenso zum Lachen wie auch zum Nachdenken an. Es ist wohl eine der ungewöhnlichsten Dystopien überhaupt, aber ihr Humor macht sie nicht weniger gesellschaftskritisch.
6. Children of Men (2006)
Weniger humorvoll geht es in Alfonso Cuaróns Children of Men zu. Der 2006 erschienene Film zeigt eine Welt ohne Kinder, ohne Zukunft. Seit 18 Jahren wurde kein Kind mehr geboren und niemand weiß wieso. Die ganze Welt ist im Chaos versunken, einzig in Großbritannien scheinen noch geordnete Verhältnisse zu herrschen. Doch die Grenzen sind dicht und „Fugees“ werden abgeschoben oder erschossen. Vor diesem Hintergrund erzählt der Film die Geschichte des desillusionierten Regierungsbeamten Theo, der vor Jahren seinen Sohn in einer Grippeepidemie verlor. Er soll Kee, die erste schwangere Frau seit 18 Jahren und selbst „Fugee“, an die Küste Großbritanniens begleiten. Dort soll ein Boot des Human Project, einer Gruppe Wissenschaftler, welche den Ursprung der weltweiten Sterilität erforschen, auf sie warten. Ihren Weg durch Großbritannien, auf dem sie stets Kees Schwangerschaft und später auch ihr Baby geheim halten müssen, inszeniert Cuarón in klaren Bildern voller Durchschlagskraft. Insbesondere Szenen wie der Stopp in einer verlassenen Grundschule oder die Paralyse aller Kämpfenden als Kees Baby schreit, entfalten eine enorme emotionale Wirkung. Auch das kinderlose London oder das Refugeecamp Bexhill zeichnet der Film in kalten Farben und düsterer Klarheit.
Auch wenn der Film nicht weiter auf die Untersachen der weltweiten Sterilität eingeht, so verdient er dennoch einen Platz in dieser Auszählung: Er nutzt das dystopische Szenario zwar nur als Hintergrund, visualisiert es aber dennoch eindrucksvoll und beklemmend. Somit bildet Children of Men einen würdigen Abschluss dieser Liste der Höhepunkte des dystopischen Films.
Einer solchen Zusammenstellung der Höhepunkte ist es natürlich gemein, dass eine Menge Filme nicht besprochen werden können. Wer also noch nicht genug von der filmischen Dystopie hat, kann hier in den Filmen weiterstöbern, die es qualitativ oder einfach aus Platzgründen nicht auf diese Liste geschafft haben.
Fotos: Flickr.com/Movies in LA (CC BY-NC 2.0), Flickr.com/Hans G (CC BY-SA 2.0), Flickr.com/Phil Gyford (CC BY-NC-ND 2.0)
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