Pubertätsnöte und Regimekämpfe – Die Teenager erobern die Dystopie

Von Antje Günther

Die ersten Young Adult Dystopien, also Dystopien für das jüngere Publikum, angesiedelt irgendwo zwischen 11 und 30, gab es bereits in den 70er Jahren. Doch Werke wie Lois Lowrys „The Giver“ (1993) waren ihrer Zeit voraus. Der große Boom der Young Adult Dystopie kam erst in den 2000ern, klar angeführt von Suzanne Collins Hunger Games Trilogie (2008 – 2010). Die Dystopie, ursprünglich ein düsteres Genre klar für Erwachsene, erfährt in dieser Zeit eine erneute Wandlung, eine Wandlung hin zum Thema der Bildung, der Entwicklung.

Die Young Adult Dystopie und der Bildungsroman

Literatur für Teenager und junge Erwachsene steht in der Regel zwischen zwei Polen: Unterhaltung und Bildung. Die Jugend soll erzogen werden und dies am besten gar nicht mitbekommen. In der Dystopie ist diese Balance besonders ausgeprägt: Durch die Zeichnung einer düsteren Zukunft, in der gewisse Aspekte der eigenen Realität des Lesers überspitzt dargestellt werden, erfährt der junge Leser automatisch mehr über seine Welt. Damit es dann im wahren Leben nicht so weit kommt, liefern diese neuen Dystopien meist eine klarere Lösung als ihre Vorgänger. Die Young Adult Dystopie endet in der Regel nicht mit dem Versagen des Protagonisten oder lässt deren Schicksal komplett offen, sondern gibt ihren Helden zumeist ein Happy End unter Vorbehalt.

5. Artikel 1Ein solches findet sich beispielsweise in den Hunger Games, in denen Katniss zwar am Ende siegt und zusammen mit Peeta lebt, aber deutliche Traumata von ihrem Kampf zurückbehält. Die Narration der Young Adult Dystopie orientiert sich insgesamt stark am Bildungsroman, einer Gattung, die vor allem Romane aus dem 18. und 19. Jahrhundert bezeichnet, die sich durch einen starken Fokus auf Bildung auszeichnen. In Werken wie „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ von Goethe (1795) wird die Lebensgeschichte eines jungen, zumeist männlichen Protagonisten mit all ihren Irrtümern und Enttäuschungen geschildert. Am Ende steht dabei die Selbstfindung des Helden und dessen Eingliederung in die Gesellschaft. Er muss seinen eigenen Platz in der Welt finden und durchlebt viele Auseinandersetzungen mit Eltern, Arbeitgebern und Freunden. Dieses narrative Muster findet sich auch in vielen Young Adult Dystopien wieder. Nun sind es vor allem weibliche Teenager, die diesen Weg auf sich nehmen und nach ihrem Platz in der Welt suchen. So gibt es auch Dystopien, in denen das Regime gar nicht überworfen werden muss, um den Protagonisten einen Platz zum Leben zu geben. In Holly Blacks Curse Worker Reihe beispielsweise findet Hauptfigur Cassel einen Weg, sich in die dystopische Gesellschaft einzugliedern, anstatt sie zu überwerfen. In der Regel aber muss das System zerstört werden, um den Teenagern ein gutes Leben zu ermöglichen. Mit diesem Muster ist die Dystopie vor allem zu einer Art Fabel des Erwachsenwerdens geworden.

Liebe und Konformismus im Zeitalter der Apokalypse

Die stereotypische Young Adult Dystopie beschreibt somit, zumeist aus der Ich-Perspektive, eine weibliche, jugendliche Protagonistin in ihrem Kampf gegen das herrschende Regime, der in der Regel erfolgreich verläuft und an dessen Ende sie nicht nur erwachsen geworden ist, sondern auch noch die Liebe gefunden hat. Denn der Romantik-Plot ist integraler Bestandteil vieler Young Adult Dystopien. Sei es das Liebesdreieck um Katniss, Peeta und Gale, das ganze Fangemeinden spaltet oder die Beziehung zwischen Tris und Four, die zwar nicht für ewig hält, aber die Figuren trotzdem stark beeinflusst. Selbst in der Maze Runner Serie, die im Gegensatz zu den meisten Young Adult Dystopien eher an das junge männliche Publikum adressiert ist, spielt das Verhältnis von Thomas zu Theresa eine zentrale Rolle. Die Erfahrungen mit Liebe und der damit verbundenen Schamgefühle, Enttäuschungen und Schmerzen, spielt beim Erwachsenenwerden in der Dystopie eine große Rolle. Ebenfalls ein großes Thema ist der Konformismus, der Wunsch dazu zu gehören, der die meisten Helden antreibt. Am deutlichsten wird dieses Motiv in Divergent porträtiert: Der zentrale Konflikt besteht genau darin, dass Tris sich als Divergent nicht kategorisieren und einordnen lässt; einen Zustand, den nicht nur die Obrigkeit, sondern auch sie selbst als unangenehm empfindet. Die Divergent Trilogie enthält aber noch ein weiteres beliebtes Motiv der neueren Dystopien: die Apokalypse als Ausgangspunkt des Systems. Seien es Naturkatastrophen und Kriege, die aus dem alten Nordamerika das neue Panem machten, ein Virus, der die Menschheit in blutrünstige Zombies verwandelte oder genetische Experimente, durch die sich die Bevölkerung gegenseitig umbrachte – die meisten Dystopien tragen zu Recht den bekannten Zusatz „in a post-apocalyptic world“. Insbesondere Naturkatastrophen haben Einzug in einen Großteil der Dystopien erhalten, sodass neben dem Erwachsenenwerden auch gesellschaftliche Probleme wie der Klimawandel und ökologische Zerstörung thematisiert werden.

Insgesamt zeigt sich die Dystopie in den 2000ern in einem neuen Gewand: Teenager statt Erwachsene, erfolgreiche Selbstfindung anstatt Verzweiflung am System. Mit ihren Großvätern der Klassischen Dystopie haben diese Erzählungen scheinbar nur noch wenig gemein. Dass sich die Dystopie in ihrer recht kurzen Geschichte vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis heute so stark verändert hat, ist aber genau Teil ihres Wesens. Denn sie nimmt die gesellschaftlichen Probleme der jeweiligen Zeit auf und führt sie uns vor Augen. Diese Probleme ändern sich und die Dystopie ändert sich mit. Und so ist die Entwicklung der Dystopie auch noch lange nicht zu Ende.

 

Fotos: flickr.com/Michael Wolf (CC BY-NC 2.0), flickr.com/Ansuz Magazine (CC BY-NC-SA 2.0)


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