Das große Lied vom Scheitern
Von Antje Günther
Die klassische Dystopie ist kein optimistisches Stück Genregeschichte. Die Erzählungen sind düster und auf eine Besserung der Zustände des Protagonisten wartet man vergeblich. Entstanden im Zeitraum der 20er bis 40 oder 50er Jahre, je nach Zuordnung, reflektieren sie eine Zeit der Umbrüche und gewalttätigen Auseinandersetzungen. Insbesondere den Werken Orwells und Huxleys ist dabei große Nähe zu realpolitischen Ereignissen und Situationen zu entnehmen.
Die Inspirationen der klassischen Dystopie
So zeigen sowohl Nineteen-Eighty-Four als auch Brave New World klare Parallelen zum sovietischen Sozialismus der damaligen Zeit. Beide Werke richten sich gegen die Regierung und Visionen Stalins und porträtieren eine negative und absolutistische Version des einstigen utopischen Ideals des Sozialismus. Dabei lehnten beide den Sozialismus an sich jedoch nicht ab. Gerade Orwell, in dessen Werk die anti-stalinistischen Tendenzen deutlicher heraustreten als bei Huxley, war überzeugter Sozialist und plädierte für seine Vision eines demokratischen Sozialismus. Sein Kampf galt dem Totalitarismus, welcher den Sozialismus in der UdSSR prägte.
Ein weiterer wichtiger geschichtlicher Bezugspunkt der klassischen Werke waren die Utopien H. G. Wells. Insbesondere A Modern Utopia (1905) and Men Like Gods (1923) fungierten als Ansatzpunkte ihrer negativen Gegenerzählungen. So konzipierte Huxley Brave New World als klare Antwort auf Men like Gods und verkehrte Wells optimistische Ideen von technischem und biologischem Fortschritt in das Gegenteil. Technologie und Wissenschaft sind in Brave New World die treibenden Motoren der Überwachung. Die Biologie des Menschen wird bereits vor der Geburt künstlich manipuliert, um die Zugehörigkeit und Akzeptanz der Kaste sicherzustellen. Auch Orwell teilte Wells Fortschrittsoptimismus nicht und erschuf ein System, in dem Medien und Technik der Kontrolle dienen; der Teleschirm bildet hier das markanteste Beispiel. Aber auch außerhalb dieser beiden Klassiker ist das Motiv der Kontrolle durch Wissenschaft und Technik zu finden: in Zamyatins We (1921) wird ähnlich wie in Brave New World die Biologie des Menschen kontrolliert, in Bradburys Fahrenheit 451 (1953) fungieren die „parlor walls“ (riesige Videoleinwände) als Ablenkungs- und Ruhigstellungsmechanismus.
Sexualität als Rebellion
Neben diesem Fokus auf Technologie und Wissenschaft teilen die Werke eine weitere Gemeinsamkeit: sie thematisieren die Sexualität des Menschen und zwar als etwas, das kontrolliert werden muss. Passion und Liebe sind verpönt und verboten, wer schwanger werden darf ist, strikt geregelt. Es gibt „sex crimes“ in Nineteen-Eighty-Four, Schwangerschaftssubstitute in Brave New World und Wes O-90 wird die Schwangerschaft aufgrund ihrer Körpergröße verboten. Dabei ist interessant zu beobachten, wie unterschiedlich die Normen ausfallen. Bei Orwell ist die freie Liebe untersagt, Sex wird nur mit proletarischen Prostituierten oder der eigenen Frau zähneknirschend gestattet. Winstons Affäre mit Julia stellt somit das große Verbrechen dar. Ähnlich verhält es sich in We, wo Sexualpartner vom Staat zugewiesen werden und D-503s Bewunderung für die trinkende und flirtende I-330* die Regeln bricht. In Huxleys Gesellschaft hingegen ist Promiskuität die Norm, schon Kinder sollen an erotischen Spielen mit ihren Altersgenossen teilnehmen. Dabei sind Sexualität und Reproduktion getrennt, Kinder entstehen durch die Wissenschaft. In dieser Gesellschaft ist es Lenina, die durch ihr Sexualleben auffällt. Sie hat stets nur einen Sexualpartner zur gleichen Zeit, was sie aus der Masse hervorstechen lässt.
Durch diese Regulierung der Sexualität ergibt sich für die Figuren jedoch auch ein Weg der Rebellion. Es sind insbesondere diese Regeln, gegen die sie sich stellen und die sie durch ihr Verhalten brechen. Sie gehen Affären oder fast Affären ein oder weigern sich der Promiskuität der Gesellschaft zu unterwerfen. Die eigene Sexualität wird somit zur Waffe, zur Möglichkeit der Selbstbestimmung.
Und am Ende steht der Anfang
Weit führen diese Rebellionen schlussendlich jedoch nicht. Sie alle scheitern: an der Gesellschaft oder an sich selbst. Das System bleibt unverändert. Winston und D-503 werden einer Gehirnwäsche unterzogen und leben fortan glücklich weiter als Rädchen im System; John „the Savage“ begeht Selbstmord. Sie alle konnten letztendlich das System nicht verändern; ihre Rebellion ist persönlich und auf ihr eigenes Leben, auf ihre eigene unmittelbare Umgebung bezogen. Die Erzählungen enden düster und genau dort, wo sie begannen. Optimismus lässt sich nur außerhalb der Seiten finden, in der Hoffnung, dass es durch dieses Wissen nun nicht so weit kommen wird. Einzig Geschichten wie Fahrenheit 451, welche in der Flucht des Protagonisten Guy Montag zu den Verbannten und der Zerstörung der Stadt durch Atombomben endet, lassen einen Hoffnungsschimmer erkennen. Deshalb werden sie häufig auch bereits als Vorläufer oder Mitglieder der Kritischen Dystopie angesehen, welche im nächsten Artikel dieser Reihe zum Thema gemacht wird.
* In Zamyatins We besitzen die Figuren keine Namen, sondern werden durch die staatlich zugewiesenen Zahlen angesprochen.
Fotos: Flickr.com/zeltfaenger.at (CC BY 2.0), Flickr.com/Fish Gravy (CC BY 2.0)