Der Silberstreif am Horizont: Die kritische Dystopie
Von Antje Günther
Mit den 80er Jahren begann ein neues Stück dystopischer Genregeschichte. Waren die Bemühungen von Winston & Co. noch zum Scheitern verurteilt, macht sich nun eine neue Hoffnung breit: die Hoffnung auf Besserung. Der Leser ist nicht mehr der Einzige, der auf eine bessere Zukunft hoffen kann, auch die Figuren haben eine Chance auf ihr persönliches Glück. Entstanden in einer Zeit des Rückschritts und der Kommodifizierung, reflektieren die Erzählungen dabei nicht nur ihre Zeit sondern auch sich selbst.
Feminismus, Cyberpunk und die Entstehung der kritischen Dystopie
Dominierte die klassische Dystopie bis in die 50er Jahre das Feld, so kam es mit dem Aufkommen der politischen Gegenkultur der 60er und 70er-Jahre zum Umschwung. Die utopische Literatur erlebte ihr erstes großes Revival seit dem Ende des 19. Jahrhunderts. Autoren wie Ursula Le Guin und Joana Russ formten eine neue Art der Utopie, die sich ihrer Grenzen deutlich bewusst war und ihren Fokus eher auf den gesellschaftlichen Wandel in Richtung der Utopie, als auf die Utopie als Endprodukt legte. Diese offene, selbstkritische Form der Utopie mit Einflüssen aus der feministischen Bewegung und dem New-Left-Movement, schließlich auch critical utopia genannt, kam in den 80er Jahren zu einem abrupten Ende. Das zunehmend konservative und fundamentalistische Gesellschaftsklima verstärkte die dystopischen Tendenzen in Literatur und Film wieder. Gepaart mit Einflüssen aus dem Cyberpunk entstanden düstere Versionen der Folgen dieser Entwicklungen, zu sehen in Filmen wie Ridley Scotts Blade Runner (1982/1992/2007) oder dem Roman Neuromancer (1984) von William Gibson. Erschienen diese Darstellungen noch nihilistisch und ausweglos, so entstanden gegen Ende der 80er Jahre Erzählungen, die einen Hoffnungsschimmer erkennen ließen. Durch die Weiterentwicklung des Cyberpunk vom männlich-dominierten, fast schon hypermaskulinen Genre hin zum Second Wave oder Feminist Cyberpunk, traten nicht nur vermehrt Frauen als Protagonisten in Erscheinung, auch die Haltung änderte sich. Die Rebellion sowohl gegen die aktuelle gesellschaftliche Situation – insbesondere gegen den Kapitalismus – aber auch gegen Genre Konventionen und Erwartungen trat nun in den Mittelpunkt. Die kritische Dystopie als inhaltlich und formal oppositionelle Erzählung war geboren.
Von Kapitalismus und Frauenrechten: die Themen der kritischen Dystopie
Die Themen der kritischen Dystopie sind natürlicherweise stark vom Cyberpunk beeinflusst: Insbesondere der Kapitalismus und der technische Fortschritt spielen eine besondere Rolle. Künstliche Menschen in allen Variationen –Androiden, Roboter, künstliche Intelligenzen, Supercomputer – bevölkern die Megacities, die in der Regel das Setting bilden und von riesigen Cooperations beherrscht werden. Der Unterschied zwischen Mensch und Maschine und die Frage, was es eigentlich bedeutet ein Mensch zu sein, stehen deutlich im Fokus. War in der klassischen Dystopie noch ganz klar der Staat das Feindbild, so verschwimmt dieses nun und wird nur teilweise durch die brutalen und rücksichtslosen Geschäfte der Cooperations ersetzt. Neben den Einflüssen aus dem Cyberpunk ist auch die feministische Tendenz der Werke klar erkennbar. Die überwiegend von Frauen verfassten Erzählungen der feministischen Dystopie stellten in der Regel eine weibliche Hauptfigur in den Mittelpunkt und zeichneten dystopische Welten, die vor allem für Frauen besonders gefährlich sind. In ihnen ist insbesondere die sexuelle Gewalt gegen Frauen alltäglich. Autoren wie Octavia Butler kombinierten dies zusätzlich mit Szenarien der Rassendiskriminierung und ökonomischer Ungleichheit, wie beispielsweise in ihren Parable-Büchern*.
Die Festlegung auf die Unfestlegbarkeit: die Form der kritischen Dystopie
Genau der Akt der Vermischung ist es letztendlich, der die kritische Dystopie ausmacht. Die Werke lassen sich nicht mehr klar einem Genre zuordnen; sie dehnen und verwischen die Grenzen zwischen den Genres und kombinieren sie zu einer Kritik an der gesellschaftlichen Situation der Gegenwart. Es sind hybride Texte, die selbstreflexiv Konventionen aus verschiedenen Genres verknüpfen und ihre Werke somit nicht nur inhaltlich sondern eben auch formal oppositionell gestalten. So mischen die bereits genannten Parable-Bücher beispielsweise Aspekte des Subgenres Survival-Science-Fiction mit Elementen aus der Sklavenliteratur und präsentieren diese in Tagebuchform. Ihre mannigfaltigen Formen und Themen machen die Festlegung der kritischen Dystopie deshalb so schwierig. Sie ist kein pures, klar umrissenes Genre, wie es die klassische Dystopie mit ihren klaren Strukturen noch war, sondern lebt gerade von ihrer Vagheit, ihrer Unfestlegbarkeit.
So überrascht es vielleicht nicht, dass sich die meisten der Erzählungen doch auf eine Sache festlegen lassen: ihr offenes Ende. Die Werke enden meist weder mit dem Scheitern des Protagonisten noch mit einem Happy End. Sie enthalten vor allem eins: Hoffnung, den utopischen Impuls aus den 70er Jahren, dass es vielleicht doch besser wird, ohne sich aber darauf festzulegen. Sie ermöglichen den unterdrückten Protagonisten der Dystopie Hoffnung und eröffnen damit auch die Möglichkeit der Kritik, beispielsweise für unterdrückte Minderheiten. So sind sie gleichzeitig beides: Utopie und Dystopie, hoffnungsvoll und pessimistisch. Und eben vor allem eines: kritisch.
*Parable of the Sower (1993); Parable of the Talents (1998), Octavia Butler
Fotos: flickr.com/Torley (CC BY-SA 2.0), flickr.com/Séb (CC BY-NC 2.0)
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