Bei Märchen gibt es kein Copy-Paste

von Alexander Karl

Professor Dr. Susanne Marschall ist nicht nur Expertin für Filme und Serien, sondern auch für Mythen und Märchen. Sie selbst ist ein großer Fan von Jean Cocteaus Die Schöne und das Biest. Mit media-bubble.de sprach sie über den Subtext in Märchen, die Rückbesinnung auf die Düsternis und das Frauenbild in Twilight.

media-bubble.de: Frau Marschall, sind Märchen Kinderkram?

Susanne Marschall: Nein, ganz im Gegenteil. Zwar wurden die bekannten Märchen der Gebrüder Grimm überwiegend als Kinderliteratur rezipiert, doch wenn man genauer hinsieht, entdeckt man viele „erwachsene“ Themen und zwar gerade in den bekannten Märchenstoffen. Tod, Einsamkeit, Ausgrenzung und schließlich Sexualität sind wichtige Themen des Märchens.

Wo denn zum Beispiel?

Etwa in Rotkäppchen: Die Begegnung mit dem Wolf wurde häufig als sexuelle Initiation interpretiert. Aber auch das Abschneiden der Ferse bei Aschenputtel kann als pervertierte Form der Sexualität verstanden werden. Viele Märchen sind durch solche Subtexte geprägt. Zum Beispiel das Leitmotiv der Verwandlung – etwa vom Mensch zum Wolf – lässt sich als Metapher für die wilde Seite der menschlichen Existenz verstehen. Symbolisch werden Tiere mit unkontrollierten Trieben in Verbindung gebracht, wobei dies natürlich nur die menschliche Sicht der Dinge ist.

Die Gebrüder Grimm sind in Deutschland die bekanntesten Märchenerzähler, obwohl ihre Werke vom Anfang des 19. Jahrhunderts stammen. Woher kommt das?

Die Sammlung und Bearbeitung von oral tradierten Märchen durch die Gebrüder Grimm im frühen 19. Jahrhundert begründete die wissenschaftliche Märchenkunde. Das war ein immenses Projekt und hat dazu geführt, dass in der Folge ein riesiger Fundus an Stoffen gedruckt zur Verfügung stand. Dazu kamen dann zum Beispiel noch die orientalischen Märchen usw. Es warteten plötzlich so viele Plots auf weitere künstlerische Auseinandersetzungen, dass es wahrscheinlich sehr schwer war und ist, etwas grundsätzlich Neues zu erfinden.

Auch die Gebrüder Grimm haben bekannte Erzählungen adaptiert und teilweise verändert. Begann die Copy-Paste-Kultur dann nicht schon vor dem Internetzeitalter?

Nein, bei Märchen würde ich das nicht Copy-Paste nennen, sondern eine „Arbeit am Märchen“ in Anlehnung an Hans Blumenbergs großartiges Buch „Arbeit am Mythos“. Blumenberg stellt die These auf, dass Menschen Mythen brauchen, um ihre Erfahrungen mit der oft unverständlichen Umwelt zu verarbeiten. Mythen sind für Blumenberg Geschichten mit einem starken narrativen Kern und vielfältigen Variationsmöglichkeiten. Sie sind dazu da, weiter erzählt, verändert und neu gelesen zu werden. Ob man das nun im Buch, auf der Theaterbühne, im Film oder sogar im Comic tut, ist in diesem Kontext erst einmal zweitrangig. Wichtig ist die Offenheit des mythischen bzw. des märchenhaften Textes für das Neue, also auch für die neuen Themen der Gegenwart. Exemplarisch kann man dies am Mythos des Prometheus sehen, der den Menschen erschaffen hat, und an Pygmalion, der sich eine künstliche Frau gebastelt hat. Aus diesen griechischen Sagen gingen romantische Schauergeschichten wie Mary Shelleys Frankenstein und E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann hervor. Das Kino machte den Cyborg, den Maschinenmenschen, zur populären Denkfigur, die sich mit jeder technischen Innovation verbinden lässt.

Gilt das dann auch für Märchen?

Ja, auch Märchen haben einen narrativen Kern. Der Mensch arbeitet an seinen Märchen, um mit den Fragen, die er für sich nicht beantworten kann, fertig zu werden. Er entmachtet sozusagen die Alltagserfahrung, indem er sie in Erzählungen verpackt – und er personalisiert tradierte Stoffe durch Abwandlungen. Auch bei Märchen findet sich diese Dynamik zwischen symbolischen Kern und Variation. Darum sind sie wie die Mythen unsterblich.

Das Düstere gehört zum Märchen

In diesem Jahr erschien der Film Snow White and the Huntsman mit Charlize Theron und Kirsten Stewart, der eine düsterte Version der Geschichte von Schneewittchen erzählt. Ist das ein Beispiel für die Rückbesinnung auf die Ursprünge der Märchen?

Das Düstere gehört zum Märchen und insofern ist das wirklich eine Rückbesinnung. Schneewittchen ist dafür ein gutes Beispiel: Aus Eifersucht auf Schneewittchens Schönheit trachtet die Stiefmutter schon dem kleinen Mädchen nach dem Leben. Das ist eine sehr brutale Geschichte. In der Pädagogik wurde und wird diskutiert, ob Märchen überhaupt für Kinder tauglich sind, weil sie oft so abgründig sind.

Gibt es auch bei Märchen einen idealen Aufbau?

Ja, ein Märchen fängt mit einer Formel an und endet auch so. „Es war einmal … und wenn sie nicht gestorben sind…“ Märchen und Mythen folgen festen Mustern, die vor allem für die mündliche Tradierung wichtig sind: Dramaturgie hilft der Erinnerung. Die Geschichten brauchten den festen Rahmen, damit man sie sich merken konnte. Zum Märchen gehören aber auch Motive wie Verwandlungen oder die Reise der Figuren ins Ungewisse. Überhaupt sind Landschaften wichtig. „Das kalte Herz“ des schwäbischen Romantikers Wilhelm Hauff – er hat übrigens in Tübingen studiert – ist ohne seinen Ort, den Schwarzwald, nicht denkbar. In diesem dunklen, geheimnisvollen Wald können ein Glasmännlein und ein Holländer-Michel ihr Unwesen treiben – das kann man sich gut vorstellen.

Wichtig für Märchen sind auch die Antagonisten. Bei Schneewittchen, aber auch bei Hänsel und Gretel, ist es die böse Stiefmutter. Ist es Zufall, dass es oft Frauen sind?

Es sind ja nicht immer Frauen. Aber die Thematisierung der bösen Stiefmutter spielt mit Sicherheit auch auf früher existierende familiäre Problemfelder an, zu Zeiten, als der Blutsverwandtschaft ein großes Gewicht gegeben wurde. Heute leben wir zum Glück in diesem Sinne freier, unsere Vorstellung von Familie hat sich stark gewandelt. Märchen wurden und werden durch den gesellschaftlichen und kulturellen Wandel geprägt. Darum ist ein Märchenfilm wie der aktuelle Blockbuster Spieglein, Spieglein, bei dem der Inder Tarsem Singh Regie geführt hat, besonders interessant. Das Märchen wird global und stilistisch hybrid.

Das Wiki „TV Tropes“ nennt die Rückbesinnung auf die düsteren Wurzeln „Grimmification“. Wie sieht die Wissenschaft das? Gibt es einen Trend?

Es gibt sicher diesen Trend, aber auch Vorreiter der „Grimmification“. Etwa die Rotkäppchen-Adaption Die Zeit der Wölfe von Neil Jordan aus dem Jahr 1984, der das Märchen als böses Pubertätsdrama inszeniert und fast wie ein Horrorfilm daherkommt. Generell aber lässt sich ein zunehmendes Interesse der Filmemacher an Märchenstoffen beobachten.

Woran liegt das?

Das liegt vielleicht an dem Fantasy-Boom der letzten Jahre, dem keine wirklich großen Würfe in den Dimensionen von Herr der Ringe und Harry Potter mehr gelingen. Von Fantasy zum Märchen ist es dann filmisch oft nur ein Katzensprung, weil viele Filme das in beiden Genres beliebte Spektakel in den Mittelpunkt stellen. Eigentlich unterscheiden sich Fantasy und Märchen nämlich deutlich. Aber Tricks, groteske Masken und opulente Kostüme passen zu beiden. Twilight als hybride romantische Vampirsoap steigert diesen Attraktivitätsgrad des Plots sogar noch durch ein zweites Monster, die Werwölfe. Das ist eine klare Tendenz unseres globalen Mainstream-Films: Aus der vollen Schatztruhe der Märchen und Mythen werden narrative Elemente und Bausteine kunterbunt gemischt und zu einem Mega-Fantasy-Märchen-Event verschmolzen.

Der Reiz an Vampiren: Angst vorm Tod und Sehnsucht vor Unsterblichkeit

Auch im TV wird derzeit gerne mit Übersinnlichem gearbeitet: Vampire Diaries, True Blood oder auch Grimm sind Beispiele dafür. Kommt es bald zu einer Überdosis am Übersinnlichen?

Gefährlich und langweilig wird es dann, wenn die Neubelebung eines Stoffs nicht auf einer originellen Idee beruht. Wenn es nur noch um die Schauwerte fantastischer Welten und nicht mehr um Inhalte geht, sind die Ergebnisse traurig. Ein positives Beispiel ist die Serie True Blood: Die Welt wird von Vampiren bevölkert, die sich zum großen Teil in die menschliche Gemeinschaft integrieren wollen, sie trinken sogar nur noch künstliches Blut. Dennoch werden die Vampire ausgegrenzt und verachtet. True Blood handelt von Rassismus und zieht damit einen Subtext des Vampirmythos ans Licht, der zwar immer schon da war, aber selten so stark betont wurde.

Aber warum interessiert sich der Mensch für Werwölfe oder Vampire? Neigt er dazu, an das Übersinnliche zu glauben?

Eine allgemein gültige Antwort gibt es da wohl nicht. Doch eines sticht hervor. Der Vampirmythos bringt die menschliche Angst vor dem Tod und zugleich die Sehnsucht nach Unsterblichkeit zum Ausdruck. Vor der Unsterblichkeit haben wir aber eigentlich auch alle Angst. Und darum ist die unsterbliche Figur des Vampirs so ambivalent. Einerseits faszinierend, andererseits abschreckend. Seltsam ist, dass diese mythische Horrorgestalt heutzutage ein echter Trendsetter ist.

In Twilight erhalten Vampire ein neues Gewand: Sie glitzern in der Sonne und können Vegetarier werden. Ein gutes Beispiel für die Vielzahl von Interpretationsmöglichkeiten?

Absolut! Die Frage muss aber immer sein: Was wird damit erzählt? Welcher Funktion dient es? Und dort sticht Twilight heraus: Twilight träumt von einer elitären Welt der vampirischen Übermenschen, die schön und makellos sind. Ewige Gewinner, die in die Schule gehen und in jeder Klassenarbeit triumphieren, immer sexy sind und natürlich super cool. Die Filme sind ideologisch äußerst fragwürdig, aber sehr populär.

Twilight zeigt ja auch ein interessantes Frauenbild.

Interessant? Nein, anachronistisch! Aber das ist nichts Neues bei Vampirgeschichten, in denen Frauen meist als passives Opfer inszeniert werden, die von einem männlichen Blutsauger in Besitz genommen werden. Und doch gab es sogar schon im 19. Jahrhundert Gegenentwürfe, zum Beispiel in der Vampirgeschichte Camilla von Sheridan Le Fanu, die ziemlich deutlich von lesbischer Vampirliebe handelt. Um zum Schluss auf das Märchen zurückzukommen: Dessen Heldinnen sind oft wehrhafter als die weiblichen Figuren in den Horrorfilmen. Schneewittchen, Aschenputtel, Rotkäppchen und auch Schneeweißchen und Rosenrot rebellieren – und sind erfolgreich damit.

Foto: Pascal Thiel; flickr/Patty Maher (CC BY-ND 2.0), flickr/drurydrama (Len Radin) (CC BY-NC-SA 2.0)

Ein Jahr media-bubble.de – Was kommt jetzt?

von der Redaktion

Ein spannendes und erfolgreiches Jahr liegt hinter uns. Innerhalb kürzester Zeit wuchs eine siebenköpfige Redaktion heran, die den medienkritischen Blog media-bubble.de mittlerweile betreut und mit Leben füllt. Doch was wünschen sich die Redakteure für das zweite Jahr? Im Folgenden haben wir unsere Gedanken formuliert.

 

Nicolai Busch

„Ich wünsche mir, dass media-bubble.de noch größer, bekannter und professioneller wird. Ich wünsche mir einen Blog, der sich noch deutlicher abhebt von altbekannten Formaten, um hierdurch deutliche Zeichen zu setzen.“

Sanja Döttling

„Ich wünsche mir, dass media-bubble.de in Zukunft zu einem integrierten Teil der Universität Tübingen wird, ein Sprachrohr für das medienwissenschaftliche Institut. Zukünftige und eingeschriebene Studenten sollen durch media-bubble.de noch besser über Inhalte des Studiums informiert werden. Diese sollten nicht allein, sondern auch in Bezug zu aktuellen Medienereignissen stehen. Aber auch als Teil des Studiums soll media-bubble.de noch mehr verankert werden: Wer will, soll hier die Möglichkeit haben, Ergebnisse seiner Projektarbeit, seiner Hausarbeiten oder der Seminare vorzustellen.“

Sandra Fuhrmann

„Für die Zukunft wünsche ich mir, dass wir es schaffen, die Vielseitigkeit innerhalb unseres Redaktionsteams, kombiniert mit den vielen Möglichkeiten, die uns unser Online-Blog bietet, zu nutzen, um auch im kommenden Jahr viele neue kreative Ideen und Projekte umzusetzen.“

Alexander Karl

„Ich wünsche mir, dass die Filmindustrie endlich versteht, wie man in Zeiten des Internets Filme vermarktet – und sie zum Kinostart legal online anbietet. Und für media-bubble.de? Natürlich nur das Beste – und eine weiterhin gute und harmonische Redaktion.“

Sebastian Luther

„Ich wünsche mir für’s nächste Jahr media-bubble.de einen nahtlosen Anschluss an unsere Erfolgsgeschichte.“

Sebastian Seefeldt

„Ich erhoffe mir ein Ende der Akronymflut. Langsam sollten die Regierungen verstanden haben, dass SOPA, PIPA, ACTA und CETA nicht auf Zustimmung stoßen werden. Nicht solange sie die Freiheit im Netz gefährden. Ich erwarte von der Regierung ein Einlenken: Dieses „Internet“ muss endlich den Rang im politischen Diskurs einnehmen, den es verdient hat. Netzneutralität und Freiheit im Internet auf die Agenda – ACTA und Co. ad acta.“

Pascal Thiel

„Für das zweite Jahr media-bubble.de erhoffe ich mir eine Erweiterung unserer Redaktion zum kommenden Semester. Neue, frische Autoren, die das hohe Niveau des Blogs weiterhin halten können. Außerdem neue, interessante Themen, sodass die Erfolgsgeschichte media-bubble.de noch lange fortgeschrieben werden kann.“

Foto: flickr/Stefan Baudy (CC BY 2.0)

Making Of – Bis die Blase platzt!

von der Redaktion

Erinnert ihr euch noch an unsere Spots zum Thema „Bis die Blase platzt“? Dazu gibt es natürlich auch ein Making Of, welches wir euch nicht vorenthalten wollen:

Die nicht so ganz ernst gemeinten Interviews mit den Redakteuren von media-bubble.de, die sich als Schauspieler versucht haben:

Und hier noch einmal einer der drei fertigen Spots:

Alles Gute zum Geburtstag – media-bubble.de wird ein Jahr alt!

von Prof. Susanne Marschall

Wer hätte das gedacht? Vor einem Jahr ging der Blog media-bubble.de als Abschlussprojekt des Masterstudiengangs „Medienwissenschaft – Medienpraxis“ online und erfreut sich seither einer aktiven Autoren- und Leserschaft. Angesichts einer Flut von Blogs im Netz (mit bei weitem nicht immer unbegrenztem Lesevergnügen) mag sich mancher Nutzer fragen, wozu und warum noch mehr davon?  Die Antwort liegt im Konzept des Blogs, dessen Macherinnen und Macher sich der journalistischen Qualität verschrieben haben. Thema des Blogs sind die vielfältigen Medienentwicklungen und Medienereignisse der Gegenwart, die von den Studierenden in einer unabhängigen Redaktion diskutiert und beurteilt werden. Die Ergebnisse – Kritiken, Interviews, Essays, Filme und vieles mehr – finden sich auf dem medienkritischen Blog www.media-bubble.de, der mit fast 180 Artikeln den Finger am Medienpuls der Zeit hat. Medienjournalismus im Internet muss nicht auf Zeile geschrieben werden und die Themen suchen sich die Autorinnen und Autoren nach Relevanz und Interesse. Diese Freiheit ist Teil des Experiments, das nun in sein zweites Onlinejahr startet. Übrigens: Im ersten Halbjahr wurden 44 Artikel auf Media Bubble gepostet, seit Januar 2012 sind es nun schon 130. Die Tendenz ist also steigend – und die Medienthemen gehen den Studierenden der Medienwissenschaft Tübingen sicher so bald nicht aus. Prosit und viel Glück für die Zukunft!

 

Ein Jahr im Netz

Jedes Jahr gibt es 365 Milliarden Google-Suchanfragen, 73 Milliarden Tweets und etwa 71 Millarden Bilduploads bei Facebook. Hinzu kommen Millionen von Nachrichten und Meldungen, die über Onlineportale recherchiert, verbreitet und kommentiert werden. Was bedeutet das für die Rezipienten, die Medienmacher und für die Akteure, über die berichtet wird? Ein Jahr online im Blickpunkt.

50 Shades of Sex

von Alexander Karl

Es ist DAS (Pseudo-)Skandalbuch des Jahres: Der Erotik-Roman Shades of Grey. Von Boulevard bis Feuilleton wird es besprochen, mal mit mehr, mal mit weniger positiven Kritiken. Fakt aber ist: Es sorgt für Gesprächsstoff. Und ist doch nicht neu.

Fanfiction goes Independent

Was kaum einer weiß: Der Ursprung der Triologie Shades of Grey liegt in einer aufgepeppten – oder aufgesexten – Version von Twilight. Sex in Fanfiction ist nichts Neues. Dass daraus dann aber plötzlich ein Bestseller wird schon. Erika Leonard, die das Buch unter dem Pseudonym E. L. James auf den Buchmarkt brachte, veröffentlichte die formalige Fanfiction auf der Seite 50shades.com – damals noch unter dem Namen Master of the Universe. Jetzt, nachdem das Buch ein riesiger und weltweiter Erfolg ist, schauen sich Fans der Bücher die veröffentlichte und die frühere online Variante an – und stoßen auf einige Ähnlichkeiten, wie Galleycat berichtet:

Blogger Jane Litte used the Turnitin plagiarism detection program to measure similarities between the two books. She reported: “According to Turnitin, the similarity index was 89%.  There are whole swaths of text wherein just the names were changed from MoTU to 50 Shades.”

Mittlerweile sind die Spuren zu den Wurzeln des Buches aber aus den Weiten des Webs verschwunden – nur noch wenige Screenshots existieren. Doch die Zeiten, in der das Buch ein Insidertipp in Fanforen war, sind vorbei. Shades of Grey, wie das Buch in Deutschland heißt, wurde hierzulande mit einer Auflage von 500.000 Stück geradezu auf den Markt geworfen – und das mit viel Wirbel. So wurden etwa auf bild.de vorab Auszüge aus dem Buch veröffentlicht. Die Überschrift zum Artikel: „Shades of Grey“: Dieses Buch ist schärfer als Porno„. Wie scharf das Buch ist, das ist Geschmackssache. Es dauert einige Seiten, bis der Multi-Milliardär die 21-jährige und jungfräuliche Ana rumbekommt – und ihr zunächst zeigt, was er unter Blümchensex versteht. Denn Christian Grey, nachdem das Buch benannt ist, steht auf harten Sex. SM um genau zu sein – und so findet Ana in seiner Wohnung ein Spielzimmer mit Andreaskreuz und bekommt schnell eine Verschwiegenheitsklausel plus Vertrag vorgelegt – letzteres, um sich als Sub (die vornehme Bezeichnung für Sklave) zu verpflichten.

Sex sells

Und so kommt es, dass viele Stellen äußerst sexuell sind (Stichwort Mommy Porn), wie es aus der Vorab-Veröffentlichung von bild.de vorgeht:

Verdammte Scheiße, tut das weh! Ich gebe keinen Laut von mir, doch mein Gesicht ist schmerzverzerrt. Ich versuche, mich ihm zu entwinden – angetrieben vom Adrenalin, das durch meine Venen pumpt. „Halt still“, knurrt er, „sonst muss ich noch länger weitermachen.“ Inzwischen reibt er meine Pobacke, dann kommt der nächste Schlag. Er verfällt in einen steten Rhythmus: streicheln, tätscheln, schließlich ein kräftiger Schlag. Ich muss meine volle Konzentration aufbieten, um die Schmerzen zu ertragen. Mein Kopf ist wie leer gefegt, während ich versuche, die Schläge wegzustecken. Mir fällt auf, dass er nie zweimal hintereinander auf dieselbe Stelle schlägt, sondern den Schmerz gleichmäßig verteilt.

An dieser Stelle lässt sich natürlich ein zweifelhaftes Frauenbild vermuten: Die völlig unerfahrene Ana unterwirft sich körperlich wie emotional einem deutlich erfahreneren Mann. Bisher hat man aber noch keinen Aufschrei von Alice Schwarzer gehört – nur in der Presse rumort es schon. Beispiel Hamburger Abendblatt. Da heißt es:

Nur die Emanzipierten dürften mit dem Kopf schütteln: Was ist das denn für ein Rollenbild, bitte? Frau mit guter Ausbildung und gesellschaftlichem Selbstvertrauen lässt sich heimlich auspeitschen und sexuell demütigen. Was ist das: Postfeminismus?

Und auch das Wort „Schocker“ oder „Skandal“ ist für Shades of Grey zu viel des Guten: Geschockt wird ein wenig, da ist sich die Presse einig: Sowohl in American Psycho als auch in Geschichte der O geht es härter zur Sache. Trotzdem eignet es sich – da muss man der Schwäbischen Zeitung zustimmen – als Urlaubslektüre. Aber nicht nur Zwecks Eskapismus, sondern, weil der menschliche Voyeurismus par excellence bedient wird – und das nicht zu knapp. Auch deshalb stellen die Verkaufszahlen selbst Harry Potter in den Schatten. Deshalb steht nun halb Hollywood für die Filmrollen Schlange – aber nicht die Stars aus Twilight, die ja immerhin indirekt als Imspiration dienten. Übrigens: Auch Stephenie Meyer, Autorin der Twilight-Saga, äußert sich zu dem Buch: „I haven’t read it. I mean, that’s really not my genre, not my thing,“ she said with a laugh. „I’ve heard about it; I haven’t really gotten into it that much. Good on her — she’s doing well. That’s great!“

Foto: Presse

Das infizierte Netz. Wenn Werbung ansteckend wird

von Sebastian Seefeldt

Trends und Gerüchte sind schon lange keine Zufälle mehr. Die Werbeindustrie hat verstanden, wie sie gezielt ausgelöst werden können. Virales Marketing ist effektiv, weil wir Werbebotschaften selbst verbreiten und aktiv nach ihnen suchen – und wir tun es freiwillig.

Aus meinem Mund in deinen

Mit der Entstehung des Web 2.0  lebte auch die Mundpropaganda wieder auf. Das Internet ist keine Plattform mehr, in der der Benutzer den Inhalt vorgesetzt bekommt. Er kann ihn selbst erzeugen. Solche „erzeugten Inhalte“ können auch Weiterleitung von bereits bestehendem Seiten, Videos oder ähnlichem sein. Hier setzt das virale Marketing an: Es will das Weitergeben von Empfehlungen – in Form von Links – gezielt auslösen und steuern.

Im Gegensatz zu traditioneller Werbung, die in den Massenmedien ausgestrahlt wird, beruht virales Marketing auf den etablierten sozialen Kommunikationsnetzwerken der Gesellschaft. Also dem Gespräch mit Bekannten und Verwandten, Nachbarn und Freunden, aber auch den digitalen „Gesprächen“, zum Beispiel auf Facebook.  Die Menge an Bekannten, denen man am Tag begegnet, ist nichts im Vergleich zu der Masse an Facebook-Freunden. Und die sind immer nur einen Post entfernt. Diese Netzwerke werden infiziert – wie bei einer Viruserkrankung. Und mehr mögliche Adressanten bedeuten auch eine höhere Chance auf Weiterverbreitung.

Da die virale Werbung nicht in dem typischen werblichen Gewand kommt, sondern aus dem „Mund“ – von der Pinnwand – eines Facebook-Freundes, wird ihr auch anders begegnet. Man ist empfänglicher und tritt der Werbebotschaft nicht mit Abneigung gegenüber. Schließlich kommt die Empfehlung aus dem Mund eines Freundes – und dessen Glaubwürdigkeit wird immer höher eingestuft als die der (werbenden) Medien. Was früher vom Person zu Person weitererzählt wurde, ist heute virales Marketing – quasi Mundpropaganda 2.0.

Um einen Menschen dazu zu bringen, als Sprachrohr der Werbung zu fungieren, müssen einige Bedingungen erfüllt sein. Grundvoraussetzung ist eine Win-win-Situation. Die Rezipienten müssen von der Werbung unterhalten werden. Sie muss Emotionen in ihnen auslösen oder durch ganz neue Ideen glänzen. Um das zu erreichen, steht meistens nicht mehr das Produkt im Vordergrund, sondern sogenannte Kampagnengüter. Sie sind Köder, hinter denen die Werbebrache das eigentliche Produkt versteckt. Sie stellen den Anreiz dar, etwas weiterzuempfehlen. Ein solches Gut soll Aufmerksamkeit wecken und den Kunden mit dem Produkt vertraut machen – und das alles, ohne nach Werbung auszusehen. Wie können also solche Kampagnengüter aussehen?

Entertain me!

Was uns unterhält, stimmt uns freudig. Was uns unterhält, wird auch gerne an unsere Freunde weitergeleitet. Diese positiven Erfahrungen können auch noch an eine Marke gekoppelt werden. Deshalb ist die Unterhaltung ein wichtiges Kampagnengut. Die Werbeindustrie bedient sich dabei jeglichen Genres. Vom kurzweiligen Sketch bis hin zu Kinofilmtrailern ist alles möglich. Virale Werbevideos greifen alles auf, was auch sonst gerne im Netz gesehen wird.

So gibt es zum Beispiel einen Flashmob vom belgischen Sender TNT,

Der an einen Kinotrailer erinnernden Werbespot von The Guardian,

Aber aber auch die Kurzfilmserie mit Starbesetzung, bei der die Spots länger sind als die typische Werbung – „The Hire“ von BMW.

Neu und einzigartig

Wenn ein Clip nicht unterhält, muss er sich neue Wege der Verbreitung suchen. Die Mundpropaganda lebt nicht nur vom Erzählen toller Erlebnisse, sondern auch von Neuheiten oder Dingen, die uns begeistern. Bedingung für eine solche Weiterempfehlung ist, dass dieses „Ding“ noch niemand außer uns kennt.  Es geht darum, der Erste zu sein, der eine Neuheit entdeckt. Man möchte Trends setzen. Allerdings muss hierzu ein noch nie dagewesenes Produkt her – und gerade in Zeiten des globalen Internets stellt dies eine Herausforderung dar. Typisch für diese Art des Kampagnenguts sind Neuheiten aus der Technik, wie Googles „Projekt Glas“.

Allerdings muss nicht immer das Produkt neu sein – auch die Art des Werbedesigns kann einzigartig sein. Tipp-Ex lässt uns beispielsweise an einer interaktiven Zeitreise teilhaben, um die Geburtstagsparty eines Bären zu retten oder setzt sich (inter)aktiv für den Tierschutz ein.

Globale Emotionen

Damit eine virale Kampagne wirklich weltweit funktioniert kann, müssen allgemein verständliche Codes verwendet werden. Ideal sind daher Videos, die entweder ganz ohne Sprache auskommen oder in denen diese nicht benötigt wird, um ein Gefühl auf der Rezipientenseite auszulösen. Es gibt nichts Globaleres als Emotionen und ihre eindeutigen Codes: Lachen, Grinsen, Tränen, Küssen … Werbung, die mit diesen Mitteln arbeitet, kann es schaffen weltweit gesehen und weiterempfohlen zu werden. Dabei muss es allerdings nicht immer nur fröhlich zugehen, wie in dieser Coca-Cola Werbung,

sondern auch besinnlich, wie es P&G vormachen.

Kein anderes Instrument der Werbeindustrie hat das Potenzial einer viralen Werbekampagne – wenn sie denn funktioniert. Ein gutes virales Video erzählt uns eine Geschichte, ist nicht an einen Ort gebunden, ist überall verständlich und löst Gefühle in uns aus. Sei es nun ein Lachen oder  ein Staunen über die Technik. Vielleicht ist es diese romantische Idee einer Bildergeschichte, die auf der ganzen Welt verstanden wird, was virale Werbung so einzigartig macht.

Foto: flickr/Aquila (CC BY-NC 2.0)

Hunde und Reis – Warum Journalismus im Kleinen beginnt.

„When a dog bites a man, that is not news, because it happens so often. But if a man bites a dog, that is news“, sagte John Bogart einmal und gab somit die Grundregel des Journalismus vor. In der Lokalzeitung tummeln sich keine beißenden Männer. Dort gibt es abgebrannte Restaurants, Baustellen und verschmutze Parkanlagen.

Das lesende Herdentier

von Sandra Fuhrmann

Der Mensch ist ein Herdentier. Er sehnt sich nach sozialer Interaktion. Doch manchmal, da zieht er sich zurück in sein stilles Kämmerchen, greift ins Regal und schlägt die Seite eines Buches auf, um mit sich und der fremden Welt, die sich zwischen den Seiten verbirgt, allein zu sein. Aber warum allein in fremden Welten wandeln, wo es da draußen doch so viele willige Mitstreiter gibt? In Zeiten des Internets nennt sich das Social Reading – und ist doch ein alter Hut.

Social Reading – ein alter Hut

Lesekreise gibt es vermutlich in der ein oder anderen Form seit der Mensch Schriftzeichen mit Bedeutung versieht. Besonders im religiösen Umfeld finden wir in der Geschichtsschreibung zahlreiche Beispiele für das gemeinschaftliche Lesen von Schriften. Etwa den Castelberger Lesekreis, der im Zusammenhang mit der Täuferbewegung im 16. Jahrhundert bekannt wurde. Social Reading – das ist intellektueller Austausch, das ist im bereits Entdeckten Neues zu entdecken, neue Perspektiven, die sich erschließen oder Dinge, die einem erst durch den Austausch mir anderen klar werden.

Ist für den einen die Bibel das Buch der Bücher, so ist es für den anderen vielleicht Tolkiens Herr der Ringe. Lesekreise gibt es heute in mehr Varianten denn je. Sie sind so vielfältig, wie die Menschen, die an ihnen teilnehmen. Längst muss man zum gemeinsamen Lesen nicht mehr Platons Garten aufsuchen. Bequem lässt sich der literarische Dialog dank Internet vom heimischen Sessel aus führen. Internetforen wie lovelybooks.de, Book-Clubs-Resource.com oder literatur-commuinity.de, über das media-bubble in einem anderen Beitrag berichtete, Social Media und nicht zuletzt E-Books lassen ganz neue Varianten des gemeinschaftlichen Lesens und des Austauschs entstehen. Waren die typischen Teilnehmer traditioneller Buchklubs meist über 60-Jährige oder nicht berufstätige Mütter, so ziehen vor allem Onlineangebote vermehrt ein junges Publikum an. Online-Foren werden oft auch nur genutzt, um sich Listen mit Lesevorschlägen anzusehen und sich so für das nächste Buch zu entscheiden.

Das Lesen von Büchern heißt heute lange nicht mehr nur, sich über schwarze Buchstaben auf weißem Papier zu beugen, mit der Hand über die Seiten zu fahren bis man irgendwann bemerkt, wir rau die Haut geworden ist und wie müde die Augen. Die Plattform lovelybooks.de ist ein gutes Beispiel dafür, dass auch Lesen multimedialer geworden ist als je zuvor – hier kann man auch mit den Autoren diskutieren und an Leserunden teilnehmen. Die Seite ist nicht nur Diskussionsforum, wo es ein Leichtes ist, sich mit Menschen mit ähnlichem Lesegeschmack zu vernetzen, über Neuheiten zu informieren und ein virtuelles Bücherregal zu erstellen. Die Website lässt sich zudem als App auf dem Smartphone installieren und es werden Livestreams zu Autoren-Talks geschaltet, die dem Zuschauer die Möglichkeit bieten, via Chat Fragen an die Autoren zu richten. Aber auch die Bücherwelt gibt es noch offline, etwa in Talkrunden mit Autoren im Fernsehen, wie bei der zdf-Sendung „aspekte“ und Buchvorstellungen wie bei 3sats „Kulturzeit„. Auch Autorenlesungen, beispielsweise in Buchhandlungen, gibt es noch analog.

Der Stoff, auf dem Welten entstehen

Lesen – das ist Versunkensein, das ist sich an einem anderen Ort zu befinden, ohne das Zimmer verlassen zu müssen. „Von allen Welten, die der Mensch erschaffen hat, ist die der Bücher die Gewaltigste“, so ein Zitat von Heinrich Heine. Aber können diese Welten auch vor anderen Hintergründen bestehen? Etwa vor dem von Metall und Plastik? E-Books scheinen noch einmal eine ganz neue Kategorie zu öffnen. Mit ihren Möglichkeiten des Markierens und der Weitergabe von Informationen über das Wie und Was des Lesens dringen sie vor bis auf den Grund der Informationen über unser Leseverhalten, bis auf die nackte Haut. Sie machen Lesen zu einem so sozialen Erlebnis, wie es davor vielleicht höchstens durch intensivsten verbalen Austausch möglich war. Sie zeigen der Welt unsere lesende Seele.

Neue Features wie Before you Go für Amazons Kindle ermöglichen es, das Buch zum einen auf einer Skala von eins bis fünf, wie man sie aus den üblichen Amazon Rezensionen kennt, zu bewerten. Zudem ist es möglich, seine Gedanken dazu direkt in Social Networks wie Facebook und Twitter mit anderen zu teilen. Dass Anmerkungen und Markierungen des Lesers für den Rest der Welt sichtbar werden, ist das eine. Die Frage ist jedoch auch, ob das neue technische Spielzeug E-Reader der ohnehin fleißig geführten Debatte über die zunehmenden Multitaskinggewohnheiten und wie viel unserer Konzentration ihnen zum Opfer fallen wird, zu Recht zusätzliches Brennmaterial liefert. E-Reader könnte durch ihre Möglichkeiten unser Leseverhalten auf Dauer verändern, so die Befürchtung. Es ist wahr, dass Austausch eine Bereicherung für den eigenen Horizont und das Verständnis sein kann. Doch muss nicht erst einmal die Fläche geschaffen werden, über die man zu diesem Horizont blicken kann? Die Angst ist, dass uns das sogenannte Deep Reading, das versunkene Lesen, durch die ständige Unterbrechung des Leseflusses, die diese neuen Gewohnheiten mit sich bringen mögen, verloren gehen könnte.

Wie wir witschaftlich werden

Fast ein wenig grotesk, dass gerade E-Books und die digitale Verfügbarkeit von Texten als eine große Gefahr gesehen werden, zum Beispiel wenn es um die Debatte zur Buchpreisbindung geht. Dabei bieten sie auf der anderen Seite wiederum herrliche neue Möglichkeiten für die Vermarktung. Dem gläsernen Konsumenten können passende Angebote direkt vor die Nase gepostet werden, was letztendlich auch den Verkauf optimieren müsste. Doch nicht nur E-Books sind im Bereich sozialer Leseangebote ein wirtschaftliches Wunderkind. Vermutlich keiner, der nicht schon einmal von einer Tupper-Party gehört hat. Tupper verdient damit laut dem Marketingexperten Jochen Krisch rund 230 Millionen Dollar jährlich. Warum nicht dasselbe mit Büchern machen?

In Amerika gibt es über eine halbe Million Lesekreise. „Rudelbildung stützt den Buchmarkt!“, sagt Florian Kessler. Laut dem Tagespiegel-Autor werden in Deutschland mittlerweile sogar schon Romanausgaben speziell für Lesekreise herausgegeben. Manche Unternehmer haben diese neue Absatzmöglichkeit, die dem Verkauf des gedruckten Wortes auf die Sprünge helfen könnte, bereits auf die ein oder andere Weise für sich entdeckt. So zum Beispiel die Buchhandlung Riemann: „Die Buchpicker“ ist ein Leseklub für Kinder, in dem sich 9- bis 13-Jährigen alle vier Wochen treffen und unter Anleitung gemeinsam Bücher entdecken können.

Social Reading ist durchaus kein neues Phänomen. Es ist ein alter Hut, den man mit neuem Putz drapiert hat. Nicht nur, dass neue technische Entwicklungen dem Ausdruck ganz neue Dimensionen verleihen, Social Reading muss durch die Veänderungen in der Medienlandschaft auch in einem neuen Kontext gesehen werden. Richtig genutzt kann es eventuell das ein oder andere Potenzial bereithalten. Denn eines ist sicher: Der Mensch war und ist ein Herdentier, das sich im Allgemeinen im Rudel nunmal am wohlsten fühlt.

Fotos: flickr/diepuppenstubensammlerin (CC BY-NC-SA 2.0) , flickr/Simon Cocks (CC BY 2.0)

I am sherlocked

von Sanja Döttling

„Es gibt da so eine neue Sherlock-Serie!“, sagte eine Freundin ganz aufgeregt zu mir, „die spielt im Heute, mit Smartphones und Computern und Internet und so!“ Zugegeben, ich war skeptisch: Der Detektiv steht im Guinness-Buch der Rekorde als die meisterverfilmte Figur der Geschichte. Braucht man da wirklich noch einen Detektiv im 21.Jahrhundert? Meine Anwort heute: Ja, das tut man! Sherlock, die Neuinterpretation der BBC, ist ganz großes Kino. Geständnisse eines Fans.
Was macht den Charme dieser neuen Serie aus? Sie ist ganz klar der Strömung des  „Quality TV“ zuzuordnen, dass sich im allgemeinen Schrei um den Untergang des Fernsehens herausgebildet hat. Merkmale dieser neuen Strömung: Sie haben eine komplexere Narration, tiefere Charakter und eine neue Ästhetik und heben sich so von früheren Serien ab. Sherlock ist ein Paradebeispiel dafür. Die Serie glänzt vor allem durch textuelle Verweise zu den Original-Büchern von Conan Doyle, aber auch zu all den anderen Verfilmungen der letzten 100 Jahre. Sie etabliert neue Figureninterpretationen, die einem Slash-Fan das Herz höher schlagen lassen, und eine neue Ästhetik, indem die Schrift anders eingesetzt wird als früher.

Kennen wir schon! Oder?

„A Study in Pink“ heißt die erste Folge der neuen Serie. Sherlock ermittelt, Afghanistan-Veteran John Watson kommt treuherzig mit. Die Leiche schrieb „Rache“ auf den Boden – auf Deutsch.

Doyle-Fans runzeln die Stirn. Alles schon mal gehört? Im Original heißt die erste Geschichte „A Study in Scarlet“, und auch hier wird eine deutsche Rache-Botschaft hinterlassen (ach ja: ein Afghanistan-Krieg gabs vor 140 Jahren auch schon). Im Fachjargon nennt man dies „hypertextuelle Verweise“. Doch Sherlock ist mehr als nur eine Serie voller Zitate und Anspielungen; die neue Version emanzipiert sich von dem Original. Als Scotland-Yard Polizist Anderson mit seinen Deutschkenntnissen prahlt, wiegelt der neue Sherlock ihn ab: Natürlich ist das kein Rachehinweis, das Opfer wollte Rachel schreiben! Serienautor Steven Moffat – der im Moment wohl der Beste auf seinem Gebiet in Großbritannien ist – stellt sich in diesem Moment über das Original.

Moffat und Mark Gatiss, ebenfalls Autor der Serie, outen sich aber selbst als große Fans der Originale. Die Frage, wo John Watsons Wunde aus dem Krieg zu verorten ist – Doyle platziert sie manchmal im Bein, manchmal in der Schulter – beantworten sie mit der ihnen eigenen Schläue: John humpelt zwar, aber das ist psychosomatisch. Die Schusswunde aber befindet sich in der Schulter.

Das sind nur zwei Beispiele dafür, wie sehr in dieser Serie auf Details geachtet wird. Einmal ein Beweis für die Qualität der Serie, zudem aber auch eine Verbeugung vor dem Original. Diese Jagt nach „Verweis-Schnipseln“ zum Original oder zu anderen Verfilmungen treibt die Fans an, immer mehr Hintergrundwissen zu sammeln. (Schon gewusst? Die Schrift für Sherlock’s Deduktionen ist die, die auch der London Underground verwendet.) Gleiches gilt für Serien wie Lost – dort allerdings noch in größerem Maße und über die Grenzen eines Universums (hier: das des Sherlock-Holmes) hinaus.

Damit ist die Serie Sherlock viel mehr als eine Verfilmung; es ist eine Neuinterpretation, dass Kennern des Original-Universums neue Facetten zeigt und Neulinge mit der schnellen Erzählweise und strahlenden Ästhetik in ihren Bann zieht. Denn so sehr Doyle auch zu bewundern ist, seine Geschichten sind für die heutige Zeit zu langsam, viele Fälle könnten nicht mehr umgesetzt werden. Moffat erzählt schnell und aufs Hier rund Jetzt zugeschnitten. Das ist auch ein Grund, warum Sherlock bei ihm im 21. Jahrhundert ermittelt: Es bot die Möglichkeit, den alten Stoff zu entstauben. Mark Gatiss sagt: „Rather than being about the trappings, about the gas lamps, about the hansom- cabs, the top heads, the frog coats, it is much more getting back to the original friendship between these two unlikely men and them solving wonderful mysteries, having adventures.“
Die Serienmacher erweitern ihr Universum auch im John Watons Blog, welcher Johns Memoiren im Original ersetzt. Er schreibt in der Serie, und diese Blogeinträge können dann im Internet gelesen werden. Sherlock geht also über die Serie hinaus, umarmt Original, ein Jahrhundert Filmgeschichte und das Internet. Dieses Phänomen nennt man „Transmedia Storytelling“. Eine Erzählung weitet sich über verschiedene Plattformen auf und baut so ein komplexes Universum auf: Ähnlich machen es Star Wars, Harry Potter oder Matrix.

Schrift und Sherlock – ein Traumpaar

Die Serie stellt das moderne London glänzend und übersteigert dar. Vor allem Sherlocks Technik-Affinität trägt dazu bei, die Serie modern wirken zu lassen. Moderne Kommunikationsmittel wie Handy und Internet, aber auch Überwachungskameras und gesteigerte Mobilität durch Taxis und Autos machen die Handlung schneller und atemberaubender. Sherlock benutzt das Smartphone zur Lösung seiner Fälle und integriert es damit als wichtigen Bestandteil der Handlung. Die Darstellung eines Handy-Bildschirms im Film ist ein detailreiches Unterfangen; wichtige Informationen, die per SMS gesendet werden, gehen bei einer Kameraeinstellung auf den Bildschirm selbst leicht unter, und können teilweise gar nicht richtig gelesen werden.

Die Serie Sherlock hat deshalb einen  innovativen Weg gefunden, diese kleinteiligen Aufnahmen darzustellen: Anstatt eine Close-up-Einstellung auf den Bildschirm selbst zu filmen, werden Texte einfach über den Bildschirm gelegt. Die Vorteile: Auf diese Art muss die Handlung nicht mehr unterbrochen werden, um diese Text anzuzeigen. Die Schrift fügt sich als neue Ebene – und eine Generation von Photoshop-affinen Jugendlichen weiß so etwas – in das Bild ein.

Man spricht bei dieser Art der Schriftdarstellung von einem „diegetischen Insert“. Das bedeutet, dass die Texte – anders als bei Datums- und Ortsangaben, wie man sie aus vielen Filmen kennt  – auf der Handlungsebene, der Diegese zu verorten sind. John und Sherlock schreiben SMS, Blogeinträge, bedienen Handys. Dabei ist dieses „Insert“ nicht nur visuell – durch Klingel und Tastentöne werden sie mit der Ebene der Handlung verknüpft. 

Doch nicht nur die SMS werden mit Inserts dargestellt. Auch Sherlocks „Deduktionen“ (wissenschaftlich korrekt müsste man bei seinem Verfahren allerdings von einem abduktiven Schluss sprechen) werden visualisiert – wie auch sonst könnte man in den Kopf einer Figur eindringen, der sich selbst als „highly functioning sociopath“ beschreibt? Auch hier spielen Töne eine wichtige Rolle. Damit wird zwischen Sherlocks Gedanken und der Technik-Darstellung eine enge Verbindung gezogen. Da Schrift selbst als konkret und logisch – im Gegensatz zum emotionsgeladenen Bild – gilt, liegt der Schluss nahe, dass Sherlocks Deduktionen genauso wie die Texte auf den rationalen Charakter beider verweisen. 

„People will talk!“

Die Serie zeichnet sich auch durch ihren soggenannten Fan-Service aus. Während früher die Produktion von Serien und Filmen unabhängig vom Publikum geschah, nehmen heute immer mehr Produktionen auf die Zuschauer Rücksicht. Dabei geht es nicht nur im Quoten und Zuschauerzahlen – es geht vor allem um den harten Kern der passionierten Fans. Obwohl sie nur einen kleinen Teil der Zuschauer ausmachen, ist die Fangemeinde die Basis einer jeden Serie. Und denen muss etwas geboten werden. Heutzutage sind sich die Schauspieler und Autoren bewusst, was die Fans wollen – schließlich gibt es das alles im Internet zu bewundern. Benedict Cumberbatch, Sexiest Man Alive  und neuer Sherlock, kennt sogar dieses Bild, auf dem sein Gesicht mit dem eines Otters verglichen wird. Und sie kennen die Fanfiction, die den wohnungsteilenden Junggesellen Sherlock und John eine romantische Beziehung unterstellen.

„Ich bin froh, dass das niemand gesehen hat – Wie Sie mir in einem dunklen Schwimmbad die  Kleider vom Leib reißen“ sagt John Watson, und beschwert sich: „Die Leute werden reden!“ wenn er und Sherlock, mit Handschellen gefesselt, durch das dunkle London streifen. Die Fans freut’s, alle anderen stört’s nicht.

Das ist von den Produzenten her klar für die Fans geschrieben und gibt ihnen Stoff zu diskutieren. Aus dem einseitigen Monolog von Seiten der Medienproduktion wandelt sich das Verhältnis Zuschauer-Produzent hin zu einem Dialog, in dem die Fans auch etwas (wenn auch wenig) zu sagen haben. 

Als informierter Fan ist es also nicht nur wichtig, die Serie selbst zu rezipieren – Fantum geht darüber hinaus. Man muss auch wissen, welche kollektiven Fan-Interpretationen mit den Serien verknüpft sind, wer die besten Fanfiction schreibt und welchen Blogs man auf tumblr folgen muss, um die neusten Artikel aus Übersee und Co. lesen zu können, die hier in Deutschland nicht erscheinen. Die Faszination für eine Serie ergibt sich immer aus der Serie selbst – aber eben auch aus der damit verbundenen Fan-Community. 

 

Fotos: Copyright der Szenenfotos hat die BBC inne; Comic/Sadynax