Das lesende Herdentier

von Sandra Fuhrmann

Der Mensch ist ein Herdentier. Er sehnt sich nach sozialer Interaktion. Doch manchmal, da zieht er sich zurück in sein stilles Kämmerchen, greift ins Regal und schlägt die Seite eines Buches auf, um mit sich und der fremden Welt, die sich zwischen den Seiten verbirgt, allein zu sein. Aber warum allein in fremden Welten wandeln, wo es da draußen doch so viele willige Mitstreiter gibt? In Zeiten des Internets nennt sich das Social Reading – und ist doch ein alter Hut.

Social Reading – ein alter Hut

Lesekreise gibt es vermutlich in der ein oder anderen Form seit der Mensch Schriftzeichen mit Bedeutung versieht. Besonders im religiösen Umfeld finden wir in der Geschichtsschreibung zahlreiche Beispiele für das gemeinschaftliche Lesen von Schriften. Etwa den Castelberger Lesekreis, der im Zusammenhang mit der Täuferbewegung im 16. Jahrhundert bekannt wurde. Social Reading – das ist intellektueller Austausch, das ist im bereits Entdeckten Neues zu entdecken, neue Perspektiven, die sich erschließen oder Dinge, die einem erst durch den Austausch mir anderen klar werden.

Ist für den einen die Bibel das Buch der Bücher, so ist es für den anderen vielleicht Tolkiens Herr der Ringe. Lesekreise gibt es heute in mehr Varianten denn je. Sie sind so vielfältig, wie die Menschen, die an ihnen teilnehmen. Längst muss man zum gemeinsamen Lesen nicht mehr Platons Garten aufsuchen. Bequem lässt sich der literarische Dialog dank Internet vom heimischen Sessel aus führen. Internetforen wie lovelybooks.de, Book-Clubs-Resource.com oder literatur-commuinity.de, über das media-bubble in einem anderen Beitrag berichtete, Social Media und nicht zuletzt E-Books lassen ganz neue Varianten des gemeinschaftlichen Lesens und des Austauschs entstehen. Waren die typischen Teilnehmer traditioneller Buchklubs meist über 60-Jährige oder nicht berufstätige Mütter, so ziehen vor allem Onlineangebote vermehrt ein junges Publikum an. Online-Foren werden oft auch nur genutzt, um sich Listen mit Lesevorschlägen anzusehen und sich so für das nächste Buch zu entscheiden.

Das Lesen von Büchern heißt heute lange nicht mehr nur, sich über schwarze Buchstaben auf weißem Papier zu beugen, mit der Hand über die Seiten zu fahren bis man irgendwann bemerkt, wir rau die Haut geworden ist und wie müde die Augen. Die Plattform lovelybooks.de ist ein gutes Beispiel dafür, dass auch Lesen multimedialer geworden ist als je zuvor – hier kann man auch mit den Autoren diskutieren und an Leserunden teilnehmen. Die Seite ist nicht nur Diskussionsforum, wo es ein Leichtes ist, sich mit Menschen mit ähnlichem Lesegeschmack zu vernetzen, über Neuheiten zu informieren und ein virtuelles Bücherregal zu erstellen. Die Website lässt sich zudem als App auf dem Smartphone installieren und es werden Livestreams zu Autoren-Talks geschaltet, die dem Zuschauer die Möglichkeit bieten, via Chat Fragen an die Autoren zu richten. Aber auch die Bücherwelt gibt es noch offline, etwa in Talkrunden mit Autoren im Fernsehen, wie bei der zdf-Sendung „aspekte“ und Buchvorstellungen wie bei 3sats „Kulturzeit„. Auch Autorenlesungen, beispielsweise in Buchhandlungen, gibt es noch analog.

Der Stoff, auf dem Welten entstehen

Lesen – das ist Versunkensein, das ist sich an einem anderen Ort zu befinden, ohne das Zimmer verlassen zu müssen. „Von allen Welten, die der Mensch erschaffen hat, ist die der Bücher die Gewaltigste“, so ein Zitat von Heinrich Heine. Aber können diese Welten auch vor anderen Hintergründen bestehen? Etwa vor dem von Metall und Plastik? E-Books scheinen noch einmal eine ganz neue Kategorie zu öffnen. Mit ihren Möglichkeiten des Markierens und der Weitergabe von Informationen über das Wie und Was des Lesens dringen sie vor bis auf den Grund der Informationen über unser Leseverhalten, bis auf die nackte Haut. Sie machen Lesen zu einem so sozialen Erlebnis, wie es davor vielleicht höchstens durch intensivsten verbalen Austausch möglich war. Sie zeigen der Welt unsere lesende Seele.

Neue Features wie Before you Go für Amazons Kindle ermöglichen es, das Buch zum einen auf einer Skala von eins bis fünf, wie man sie aus den üblichen Amazon Rezensionen kennt, zu bewerten. Zudem ist es möglich, seine Gedanken dazu direkt in Social Networks wie Facebook und Twitter mit anderen zu teilen. Dass Anmerkungen und Markierungen des Lesers für den Rest der Welt sichtbar werden, ist das eine. Die Frage ist jedoch auch, ob das neue technische Spielzeug E-Reader der ohnehin fleißig geführten Debatte über die zunehmenden Multitaskinggewohnheiten und wie viel unserer Konzentration ihnen zum Opfer fallen wird, zu Recht zusätzliches Brennmaterial liefert. E-Reader könnte durch ihre Möglichkeiten unser Leseverhalten auf Dauer verändern, so die Befürchtung. Es ist wahr, dass Austausch eine Bereicherung für den eigenen Horizont und das Verständnis sein kann. Doch muss nicht erst einmal die Fläche geschaffen werden, über die man zu diesem Horizont blicken kann? Die Angst ist, dass uns das sogenannte Deep Reading, das versunkene Lesen, durch die ständige Unterbrechung des Leseflusses, die diese neuen Gewohnheiten mit sich bringen mögen, verloren gehen könnte.

Wie wir witschaftlich werden

Fast ein wenig grotesk, dass gerade E-Books und die digitale Verfügbarkeit von Texten als eine große Gefahr gesehen werden, zum Beispiel wenn es um die Debatte zur Buchpreisbindung geht. Dabei bieten sie auf der anderen Seite wiederum herrliche neue Möglichkeiten für die Vermarktung. Dem gläsernen Konsumenten können passende Angebote direkt vor die Nase gepostet werden, was letztendlich auch den Verkauf optimieren müsste. Doch nicht nur E-Books sind im Bereich sozialer Leseangebote ein wirtschaftliches Wunderkind. Vermutlich keiner, der nicht schon einmal von einer Tupper-Party gehört hat. Tupper verdient damit laut dem Marketingexperten Jochen Krisch rund 230 Millionen Dollar jährlich. Warum nicht dasselbe mit Büchern machen?

In Amerika gibt es über eine halbe Million Lesekreise. „Rudelbildung stützt den Buchmarkt!“, sagt Florian Kessler. Laut dem Tagespiegel-Autor werden in Deutschland mittlerweile sogar schon Romanausgaben speziell für Lesekreise herausgegeben. Manche Unternehmer haben diese neue Absatzmöglichkeit, die dem Verkauf des gedruckten Wortes auf die Sprünge helfen könnte, bereits auf die ein oder andere Weise für sich entdeckt. So zum Beispiel die Buchhandlung Riemann: „Die Buchpicker“ ist ein Leseklub für Kinder, in dem sich 9- bis 13-Jährigen alle vier Wochen treffen und unter Anleitung gemeinsam Bücher entdecken können.

Social Reading ist durchaus kein neues Phänomen. Es ist ein alter Hut, den man mit neuem Putz drapiert hat. Nicht nur, dass neue technische Entwicklungen dem Ausdruck ganz neue Dimensionen verleihen, Social Reading muss durch die Veänderungen in der Medienlandschaft auch in einem neuen Kontext gesehen werden. Richtig genutzt kann es eventuell das ein oder andere Potenzial bereithalten. Denn eines ist sicher: Der Mensch war und ist ein Herdentier, das sich im Allgemeinen im Rudel nunmal am wohlsten fühlt.

Fotos: flickr/diepuppenstubensammlerin (CC BY-NC-SA 2.0) , flickr/Simon Cocks (CC BY 2.0)

I am sherlocked

von Sanja Döttling

„Es gibt da so eine neue Sherlock-Serie!“, sagte eine Freundin ganz aufgeregt zu mir, „die spielt im Heute, mit Smartphones und Computern und Internet und so!“ Zugegeben, ich war skeptisch: Der Detektiv steht im Guinness-Buch der Rekorde als die meisterverfilmte Figur der Geschichte. Braucht man da wirklich noch einen Detektiv im 21.Jahrhundert? Meine Anwort heute: Ja, das tut man! Sherlock, die Neuinterpretation der BBC, ist ganz großes Kino. Geständnisse eines Fans.
Was macht den Charme dieser neuen Serie aus? Sie ist ganz klar der Strömung des  „Quality TV“ zuzuordnen, dass sich im allgemeinen Schrei um den Untergang des Fernsehens herausgebildet hat. Merkmale dieser neuen Strömung: Sie haben eine komplexere Narration, tiefere Charakter und eine neue Ästhetik und heben sich so von früheren Serien ab. Sherlock ist ein Paradebeispiel dafür. Die Serie glänzt vor allem durch textuelle Verweise zu den Original-Büchern von Conan Doyle, aber auch zu all den anderen Verfilmungen der letzten 100 Jahre. Sie etabliert neue Figureninterpretationen, die einem Slash-Fan das Herz höher schlagen lassen, und eine neue Ästhetik, indem die Schrift anders eingesetzt wird als früher.

Kennen wir schon! Oder?

„A Study in Pink“ heißt die erste Folge der neuen Serie. Sherlock ermittelt, Afghanistan-Veteran John Watson kommt treuherzig mit. Die Leiche schrieb „Rache“ auf den Boden – auf Deutsch.

Doyle-Fans runzeln die Stirn. Alles schon mal gehört? Im Original heißt die erste Geschichte „A Study in Scarlet“, und auch hier wird eine deutsche Rache-Botschaft hinterlassen (ach ja: ein Afghanistan-Krieg gabs vor 140 Jahren auch schon). Im Fachjargon nennt man dies „hypertextuelle Verweise“. Doch Sherlock ist mehr als nur eine Serie voller Zitate und Anspielungen; die neue Version emanzipiert sich von dem Original. Als Scotland-Yard Polizist Anderson mit seinen Deutschkenntnissen prahlt, wiegelt der neue Sherlock ihn ab: Natürlich ist das kein Rachehinweis, das Opfer wollte Rachel schreiben! Serienautor Steven Moffat – der im Moment wohl der Beste auf seinem Gebiet in Großbritannien ist – stellt sich in diesem Moment über das Original.

Moffat und Mark Gatiss, ebenfalls Autor der Serie, outen sich aber selbst als große Fans der Originale. Die Frage, wo John Watsons Wunde aus dem Krieg zu verorten ist – Doyle platziert sie manchmal im Bein, manchmal in der Schulter – beantworten sie mit der ihnen eigenen Schläue: John humpelt zwar, aber das ist psychosomatisch. Die Schusswunde aber befindet sich in der Schulter.

Das sind nur zwei Beispiele dafür, wie sehr in dieser Serie auf Details geachtet wird. Einmal ein Beweis für die Qualität der Serie, zudem aber auch eine Verbeugung vor dem Original. Diese Jagt nach „Verweis-Schnipseln“ zum Original oder zu anderen Verfilmungen treibt die Fans an, immer mehr Hintergrundwissen zu sammeln. (Schon gewusst? Die Schrift für Sherlock’s Deduktionen ist die, die auch der London Underground verwendet.) Gleiches gilt für Serien wie Lost – dort allerdings noch in größerem Maße und über die Grenzen eines Universums (hier: das des Sherlock-Holmes) hinaus.

Damit ist die Serie Sherlock viel mehr als eine Verfilmung; es ist eine Neuinterpretation, dass Kennern des Original-Universums neue Facetten zeigt und Neulinge mit der schnellen Erzählweise und strahlenden Ästhetik in ihren Bann zieht. Denn so sehr Doyle auch zu bewundern ist, seine Geschichten sind für die heutige Zeit zu langsam, viele Fälle könnten nicht mehr umgesetzt werden. Moffat erzählt schnell und aufs Hier rund Jetzt zugeschnitten. Das ist auch ein Grund, warum Sherlock bei ihm im 21. Jahrhundert ermittelt: Es bot die Möglichkeit, den alten Stoff zu entstauben. Mark Gatiss sagt: „Rather than being about the trappings, about the gas lamps, about the hansom- cabs, the top heads, the frog coats, it is much more getting back to the original friendship between these two unlikely men and them solving wonderful mysteries, having adventures.“
Die Serienmacher erweitern ihr Universum auch im John Watons Blog, welcher Johns Memoiren im Original ersetzt. Er schreibt in der Serie, und diese Blogeinträge können dann im Internet gelesen werden. Sherlock geht also über die Serie hinaus, umarmt Original, ein Jahrhundert Filmgeschichte und das Internet. Dieses Phänomen nennt man „Transmedia Storytelling“. Eine Erzählung weitet sich über verschiedene Plattformen auf und baut so ein komplexes Universum auf: Ähnlich machen es Star Wars, Harry Potter oder Matrix.

Schrift und Sherlock – ein Traumpaar

Die Serie stellt das moderne London glänzend und übersteigert dar. Vor allem Sherlocks Technik-Affinität trägt dazu bei, die Serie modern wirken zu lassen. Moderne Kommunikationsmittel wie Handy und Internet, aber auch Überwachungskameras und gesteigerte Mobilität durch Taxis und Autos machen die Handlung schneller und atemberaubender. Sherlock benutzt das Smartphone zur Lösung seiner Fälle und integriert es damit als wichtigen Bestandteil der Handlung. Die Darstellung eines Handy-Bildschirms im Film ist ein detailreiches Unterfangen; wichtige Informationen, die per SMS gesendet werden, gehen bei einer Kameraeinstellung auf den Bildschirm selbst leicht unter, und können teilweise gar nicht richtig gelesen werden.

Die Serie Sherlock hat deshalb einen  innovativen Weg gefunden, diese kleinteiligen Aufnahmen darzustellen: Anstatt eine Close-up-Einstellung auf den Bildschirm selbst zu filmen, werden Texte einfach über den Bildschirm gelegt. Die Vorteile: Auf diese Art muss die Handlung nicht mehr unterbrochen werden, um diese Text anzuzeigen. Die Schrift fügt sich als neue Ebene – und eine Generation von Photoshop-affinen Jugendlichen weiß so etwas – in das Bild ein.

Man spricht bei dieser Art der Schriftdarstellung von einem „diegetischen Insert“. Das bedeutet, dass die Texte – anders als bei Datums- und Ortsangaben, wie man sie aus vielen Filmen kennt  – auf der Handlungsebene, der Diegese zu verorten sind. John und Sherlock schreiben SMS, Blogeinträge, bedienen Handys. Dabei ist dieses „Insert“ nicht nur visuell – durch Klingel und Tastentöne werden sie mit der Ebene der Handlung verknüpft. 

Doch nicht nur die SMS werden mit Inserts dargestellt. Auch Sherlocks „Deduktionen“ (wissenschaftlich korrekt müsste man bei seinem Verfahren allerdings von einem abduktiven Schluss sprechen) werden visualisiert – wie auch sonst könnte man in den Kopf einer Figur eindringen, der sich selbst als „highly functioning sociopath“ beschreibt? Auch hier spielen Töne eine wichtige Rolle. Damit wird zwischen Sherlocks Gedanken und der Technik-Darstellung eine enge Verbindung gezogen. Da Schrift selbst als konkret und logisch – im Gegensatz zum emotionsgeladenen Bild – gilt, liegt der Schluss nahe, dass Sherlocks Deduktionen genauso wie die Texte auf den rationalen Charakter beider verweisen. 

„People will talk!“

Die Serie zeichnet sich auch durch ihren soggenannten Fan-Service aus. Während früher die Produktion von Serien und Filmen unabhängig vom Publikum geschah, nehmen heute immer mehr Produktionen auf die Zuschauer Rücksicht. Dabei geht es nicht nur im Quoten und Zuschauerzahlen – es geht vor allem um den harten Kern der passionierten Fans. Obwohl sie nur einen kleinen Teil der Zuschauer ausmachen, ist die Fangemeinde die Basis einer jeden Serie. Und denen muss etwas geboten werden. Heutzutage sind sich die Schauspieler und Autoren bewusst, was die Fans wollen – schließlich gibt es das alles im Internet zu bewundern. Benedict Cumberbatch, Sexiest Man Alive  und neuer Sherlock, kennt sogar dieses Bild, auf dem sein Gesicht mit dem eines Otters verglichen wird. Und sie kennen die Fanfiction, die den wohnungsteilenden Junggesellen Sherlock und John eine romantische Beziehung unterstellen.

„Ich bin froh, dass das niemand gesehen hat – Wie Sie mir in einem dunklen Schwimmbad die  Kleider vom Leib reißen“ sagt John Watson, und beschwert sich: „Die Leute werden reden!“ wenn er und Sherlock, mit Handschellen gefesselt, durch das dunkle London streifen. Die Fans freut’s, alle anderen stört’s nicht.

Das ist von den Produzenten her klar für die Fans geschrieben und gibt ihnen Stoff zu diskutieren. Aus dem einseitigen Monolog von Seiten der Medienproduktion wandelt sich das Verhältnis Zuschauer-Produzent hin zu einem Dialog, in dem die Fans auch etwas (wenn auch wenig) zu sagen haben. 

Als informierter Fan ist es also nicht nur wichtig, die Serie selbst zu rezipieren – Fantum geht darüber hinaus. Man muss auch wissen, welche kollektiven Fan-Interpretationen mit den Serien verknüpft sind, wer die besten Fanfiction schreibt und welchen Blogs man auf tumblr folgen muss, um die neusten Artikel aus Übersee und Co. lesen zu können, die hier in Deutschland nicht erscheinen. Die Faszination für eine Serie ergibt sich immer aus der Serie selbst – aber eben auch aus der damit verbundenen Fan-Community. 

 

Fotos: Copyright der Szenenfotos hat die BBC inne; Comic/Sadynax

Die Bilderwäscher der EM

von Sebastian Luther

Es ist ein Besuch der ganz besonderen Sorte. Zehntausende auf einem Fleck zusammengepfercht, es blitzt, qualmt, dampft und raucht, eine gewaltige Stimme donnert, gestützt von aberhunderten Kehlen. Es bietet sich das Panorama eines unglaublichen Gewusels, eines Ameisenbaus, das wir nicht restlos in seiner Gänze auffassen können. In schreiender Selbstvergessenheit scheint alles auf das Zentrum hingerichtet zu sein, auf das letzte wichtige Ereignis, ein schwarzes Loch der Aufmerksamkeit. Alles umweht ein Wind, ein Geruch – alkoholfreies Bier.

Ich glaube an das, was ich sehe

Das Bild, dass die Union of European Football Associations (UEFA) aus den Stadien der EM in Polen und der Ukraine zeichnet, bzw. sendet, ist von einer ebenso besonderen Sorte. Das Fernsehen wird hier seiner Rolle als Vermittler absolut gerecht, denn es vermittelt uns das Bild einer absolut heilen Fussballwelt. Die Spieler tragen den ‚Respect‘ nicht nur auf den Trikots, sondern auch in Kopf und Herz, wir sehen volle Ränge, hübsche Frauen, entzückte Fans und Trainer, die sich in scheinbar völliger Vergessenheit der nervenaufreibenden Partie sogar spitzbübische Späße erlauben. Was sehen wir da? Wir sehen das, was wir sehen wollen. Wir sehen Bilder einer friedlichen Europameisterschaft, die all diejenigen widerlegen, die immer noch behaupten, internationale Sportevents seien der Ersatz für Krieg. Es sind Sinnbilder der Völkerfreundschaft und -verständigung, vom friedvollen Miteinander von Trainern, Spielern und Fans aller Couleur. Es sind Bilder vom Planeten EM.

Bengalos? Politischer Protest? Leere Ränge? Nein.

Es sind Bilder vom Planeten EM und die UEFA überbringt uns die frohe Kunde von der Welt auf diesem Planeten. Und wie sehr sich diese Bilder von der EM unterscheiden, die tatsächlich stattfindet, zeigen die prominenten Beispiele: Bengalos beim Spiel Spanien gegen Kroatien, leere Ränge entgegen offizieller Verlautbarungen, die Stadien seien restlos ausverkauft, Protestplakate gegen Willkür und Einschränkung der Meinungsfreiheit, ein Flitzer, der den kroatischen Trainer herzt, oder dieses riesige Banner, das bei der Partie Polen – Russland für erhitzte Gemüter auf Seiten der Gastgeber gesorgt haben dürfte. Die Implikationen der russischen Fans sind eindeutig und verfehlen ihre Wirkung auf Seiten der Polen keinesfalls. Vor, während und nach dem Spiel kommt es zu massiven Ausschreitungen, wenn auch fast gänzlich außerhalb des Stadions, außerhalb des Blickwinkels der Kameras, fast schon am Rande des Bewusstseins. „Es ist die Philosophie der UEFA, ein neutrales Bild, das sich nur um den Sport kümmert, zu zeigen“, so Klaus Heinen, der während der EM der ARD-Programmchef im International Broadcast Center (IBC) ist. Das Bild des heilen, des fairen und neutralen Fussballs taucht hier wieder auf, wenn es auch ebenso wieder nicht zu kaschieren vermag, worum es vermutlich in Wirklichkeit geht.

Schneid den Altruisten, du wirst den Heuchler bluten sehen

Neben der Wahrheit versickert im Sumpf der UEFA vor allem eines: Geld. Bereits im Oktober 2010 berichtete die Phalanx der deutschen Printmedienlandschaft, FAZ, Spiegel, Süddeutsche und WELT, von einem Korruptionsskandal bei der Vergabe der EM an Polen und die Ukraine. Dass die UEFA als Antwort den „europaweiten Aufbau eines Netzwerk von Integritätsbeauftragten“ ankündigt, darf als indirektes Geständnis gewertet werden, warum sollte die UEFA schließlich auf völlig halt- und substanzlose Vorwürfe reagieren? Das fragwürdige Bild vom europäischen Fussballdachverband bereichert SZ Autor Thomas Kistner um eine weitere  ernüchternde Facette, indem er die Frage aufwirft, ob Partien überhaupt fair gepfiffen werden. „Ein Turnier mit Spaniern, Engländern und Deutschen im Viertelfinale ist schließlich viel attraktiver als eines mit Dänen, Ukrainern und Kroaten.“ Ist der Samen des Gedanken einmal gesät, so kann man ihn bestenfalls noch verdrängen, das Image der UEFA bleibt jedoch nachhaltig geschädigt. Welche Mannschaft auch immer am 1. Juli die Bessere sein möge, Europa als Fussballkontinent hat bereits kollektiv verloren.

Fotos: flickr/scottwills (CC BY-NC-ND 2.0), flickr/~Liliana (CC BY-NC 2.0)

Schwarz-Weiß-Malerei gegen vier Buchstaben

von Alexander Karl

Es ist (mal wieder oder immer noch) en vogue, gegen die BILD zu sein. Wer sich positiv äußerst, dem wird sofort vorgeworfen, mit dem Teufel zu paktieren. Gegen den Pakt-Deluxe, auch bekannt als die Verteilungsaktion der Jubliläums-BILD zum 60. Geburtstag an 41 Millionen Haushalte, konnte man sich wehren. 250.000 Deutsche taten dies und sagten im Vorfeld, dass sie kein Exemplar wollten – das war und ist ihr gutes Recht. Über 40 Millionen taten es demnach aber nicht, bekamen das Blatt und konnten damit tun und lassen, was sie wollten. Doch für BILD-Kritiker scheint diese Art der Meinungsfreiheit nicht genehm zu sein: Sie ziehen es vor, die BILD-Welt weiterhin in schwarz und weiß zu malen.

Ein Geburtstag nach Maß

Ob man die BILD zu ihrem 60. Geburtstag nun lesen wollte oder nicht, konnte tatsächlich jeder selbst bestimmen, auch bereits im Vorfeld. Viele Kritiker des Blatts haben es sich anscheinend nicht nehmen lassen und einmal in die verbotene Welt der großen Buchstaben und noch größeren Bilder geschaut und kamen zu schockierenden Erkenntnissen: Die BILD feiert sich in ihrer Gratis-Ausgabe zum 60. Geburtstag selbst! So heißt es etwa bei heise.de: „Denn das praktisch einzige Thema in dieser Bildausgabe ist die Bildzeitung selber. „The medium is the message“, prophezeite der kanadische Medienphilosoph Marshall McLuhan schon in den 1960er Jahren. Nie war der Satz wahrer als im Angesicht dieser selbstbezüglichsten aller selbstbezüglichen Zeitungsausgaben. „Oder auch der BILDblog. Da steht: „Es war noch viel weniger eine Zeitung, als wir im Vorfeld gedacht hatten, und noch viel mehr ein Werbeprospekt: In fast allen Geschichten ging es um „Bild“. Eine weitere Eintragung ins Guinness-Buch der Rekorde wäre also durchaus verdient: als selbstbezüglichste „Zeitung“ der Welt.“

Stellen wir uns den 60. Geburtstag von Tante Matthilde von nebenan vor. Wird sie Gäste einladen, die sie nicht mag und die sie nicht mögen? Wird sie gerne eine Runde schmutzige Wäsche waschen und sagen, was sie alles falsch macht? Sicherlich nicht. Ferner bedarf eine solche Sonderausgabe für 41 Millionen Leser einer gewissen Planung – seien es die redaktionelle Vorbereitung als auch der Druck der Zeitung. Wer hat wirklich erwartet, dass die Ausgabe einen Tag vorher angefertigt wird und aktuelle Themen behandelt? Zumal eine „normale“, also tagesaktuelle, BILD im Handel erhältlich war.

Wie blind die BILD-Gegner anscheinend auf beiden Augen sind, zeigt sich anhand der äußerst oberflächlichen Berichterstattung, etwa im BILDBlog. Da wird – haha! – ein Bild von einem weggeworfenen Exemplar verlinkt, anstatt sich das grandiose Interview mit Gerhard Schröder einmal genauer anzusehen. Schröder revidiert darin etwa seinen Satz „Zum Regieren brauche ich BILD, BamS und Glotze“. Er kritisert die Griechenland-Politik der BILD, wirft dem Blatt vor, seine Differenzierungen weggelassen und fernab der Realität berichtet zu haben. Zitat Schröder: „Das [die Berichterstattung über ein Portrait von Schröder] war das erste Mal, wo sich BILD – bezogen auf mich – ansatzweise der Realität angenähert hat!“

Wer dieses Interview aufmerksam liest, muss sich doch wundern, was es in diesem Sonderausgaben-Blatt macht. Denn die augenscheinliche Lobpreisung von BILD an BILD stößt in diesem Interview hart an ihre Grenzen und müsste die Frage nach sich ziehen, wieso das Blatt ein so BILD-kritisches Interview überhaupt bringt. Ansonsten ist die Jubiläumsausgabe tatsächlich etwas langweilig und enthält wenig Interessantes, dafür hat bild.de bereits Tage zuvor ins Archiv der Zeitung blicken lassen und Ex-Spiegel-Chefredakteur Stefan Aust die Geschichte der Zeitung schreiben lassen – und das durchaus kritisch. Vielen, selbst Günter Wallraff, ist aufgefallen, dass die BILD sich Stück für Stück wandelt und öffnet. Zwar sieht der Enthüllungsjournalist das Blatt noch immer in der Rolle des „gemeingefährlichen Triebtäters, der unter ständiger Beobachtung stehen muss“, aber hält dem Blatt etwa die Berichterstattung über den iranischen Musiker Shahin Najafi zu Gute und lobt sogar BILD-Chefredakteur Kai Diekmann.

Kritik ja, aber richtig

Watchblogs und medienkritsche Blogs sind nützlich für unsere Gesellschaft und die Medienlandschaft. Sie sind ein wichtiges Korrektiv. Aber es ist schade und kontraproduktiv, wenn die Gegner der BILD genau das tun, was sie dem Blatt eigentlich vorwerfen: Nämlich Schwarz-Weiß-Malerei, ohne auch einmal die Scheuklappen abzunehmen. Denn sonst erinnert die Aktion von Campact „Roter Umschlag oder Bild? Wir brauchen Ihre Rückmeldung!“ schnell an eine nette Mischung aus „BILD kämpft für Sie!“ und den 1414-Fotoreportern – nur eben mit anderen Vorzeichen. Übrigens – und das sollte man als Gegner der Zeitung eingesteht – beweist Chefredakteur Kai Diekmann in letzter Zeit viel Sinn für Humor und vielleicht sogar Verständnis: Campact-Aktivisten begrüßte er bei der Jahreshauptversammlung der Axel Springer AG im April mit Pseudo-Che Guevara-Shirt und Donuts, die er an die Demonstranten verteilte. Nun konterte er auf eine überdimensionale Rote Karte der Aktivisten mit einer Botschaft, die an jene Ansprache von Hans Leyendecker bei der Henri-Nannen-Preisvergabe erinnert. Man könnte das Gefühl bekommen, dass BILD die Augen nicht (mehr) verschließt. Ein Grund mehr für die BILD-Gegner, wach und offen zu sein.

flickr/mkorsakov (CC BY-NC-SA 2.0), flickr/campact (CC BY-NC 2.0)

Bücherliebe trifft Internetaffinität

von Alexander Karl, Sanja Döttling und Pascal Thiel

Köln im Juni 2012: Der Wind fegt entlang des Doms, wo sich media-bubble.de mit dem Gründer der literatur-community.de traf. Wie kommt man mit 16 Jahren auf die Idee, eine Literaturplattform zu gründen? Wie setzt man sich gegen die Konkurrenz ab? Und passen Internet und Bücher zusammen?  media-bubble.de im Gespräch mit Fabian Krott von literatur-community.de.

Facebook wählt die Cholera

von Sebastian Seefeldt

Die Bürger des Facebook-Staates hatten die Chance, über ein neues Grundgesetz in Sachen Datenschutz abzustimmen. Doch wer darin einen Fortschritt sieht, wird enttäuscht. Kritiker bemängeln: Die Wahl war eine bloße Farce.

Wahlbeteiligung gleich null

Facebook ist nicht irgendein virtueller Staat – in Bevölkerungszahlen ausgedrückt, ist Facebook das drittgrößte  Land der Welt. Mit seinen 900 Millionen „Einwohnern“ leben hier 11-mal mehr Menschen als in Deutschland. Umso skurriler, dass bei der Abstimmung über die neuen Datenschutzbestimmungen nur 0,0038 Prozent der Nutzer beteiligt waren – das entspricht in etwa der Einwohnerzahl der Stadt Wuppertal. Sind die Facebook-Nutzer nur uninteressierte Nichtwähler, oder steckt ein anderer Grund hinter der Wahlflaute?

Wahllokal unauffindbar

„Facebook ist stets bestrebt, ein transparenter und verantwortungsbewusster Dienstleister für unsere Nutzer zu sein, der schnell auf deren Anliegen reagiert. Deshalb suchen wir ständig nach neuen Wegen und Möglichkeiten, eine sinnvolle Nutzerbeteiligung in die Überprüfung unserer Richtlinien und Verfahren einzubringen.“

 

Dass diese Beschreibung , wie sie auf Facebook Site Governance zu lesen ist, weitestgehend unzutreffend ist, zeigt sich im Rahmen der Wahl: Wer das Dokument genau durchliest, stößt auf eine fragwürdige Passage: Das Ergebnis der Abstimmung ist erst dann verbindlich, „wenn mehr als 30% aller aktiven registrierten Nutzer daran teilnehmen. Sollten weniger als 30 % teilnehmen, so erhält die Abstimmung einen beratenden Charakter.“

Und Facebook sorgte dafür, dass diese 30 Prozent nicht erreicht werden. Wer sich, wie der Standarduser, auf Facebook einloggt, um ein wenig durch Timeline und Profile zu stöbern, wird von der Abstimmung nichts erfahren: Denn die Einladung bekam nur zu sehen, wer Facebook Site Governance abonniert hat – das sind gerademal 0,23 Prozent aller Facebook-Nutzer. Doch selbst diejenigen, die zum Kreis der Auserwählten gehörten und von der Facebook-Wahl erfuhren, konnten nicht viel ausrichten.

Pest und Cholera

„Welche Schriftsätze sollten die Nutzung von Facebook regeln?“ lautete die Frage, die zur Abstimmung stand. „Vorgeschlagene Dokumente“ oder „Bestehende Dokumente“ waren Antwortmöglichkeiten. Hinter den Dokumenten verbergen sich juristische Texte über die Datenschutzvereinbarungen, ohne Kommentare und ohne Angabe der Unterschiede. Für Nicht-Juristen also ellenlange Hieroglyphentexte. Was soll der Facebook-Normalo nun wählen? Gerademal eine Woche Zeit hatten die Facebook-Nutzer, um sich untereinander zu beraten und vor allem überhaupt auf die Abstimmung aufmerksam zu machen.

Schlussendlich blieb es eine Wahl zwischen Pest und Cholera, wie auch Facebook-Widersacher Max Schrems und seine Wiener Studentengruppe europe-v-facebook.org betonen. Kritiker bemängelten, dass sich Facebook durch die „vorgeschlagenen Dokumente“ mehr Rechte als bisher einräume. Europe-v-facebook.org kritisierte, dass aufgedeckte „Missstände“ beim Umgang mit Nutzerdaten mit den neuen Regeln legitimiert würden. Unter anderem sieht der neue Entwurf für die Datenschutzrichtlinien vor, dass Informationen länger als bisher aufgehoben werden können. In der neuen Ordnung heißt es dazu: „Wir werden Daten so lange einbehalten, wie dies erforderlich ist, um den Nutzern und anderen Dienstleistungen zur Verfügung zu stellen. Diese umfassendere Verpflichtung gilt für alle Daten, die wir über Dich sammeln und erhalten, einschließlich Informationen von Werbetreibenden.“

Facebook macht sich keine Freunde

Obwohl 87 % der Wählerschaft, wie von einschlägigen Blogs empfohlen, für das bestehende Dokument stimmten, kann der Konzern machen, was er will. Da die 30%-Hürde nicht überwunden wurde, erhält die Wahl nur einen „beratenden Charakter“. Das große Medienecho blieb aus – Facebook bleibt in seiner Handlungsfreiheit uneingeschränkt und wird die „vorgeschlagenen Dokumente“ als neue Richtlinien einsetzen. Der Datenschützer Thilo Weichert nannte die Abstimmung eine „Farce“, außerdem enthielten beide Alternativen rechtswidrige Klauseln.

Facebook zeigt, auf eine ganz eigene Art und Weise, wie gut sie das Social Networking verstehen. Und vor allem, wie sie es aushebeln können. Alle für Facebook typischen Eigenschaften wie Interaktivität, Multimedia, schnelle Klicks waren bei der Abstimmung nicht vorhanden – an echter Mitbestimmung hat der Konzern offenbar kein Interesse.

Bild: flickr/smemon (CC BY 2.0)

Große Bilder, wenig Worte – 60 Jahre BILD

von Nicolai Busch

Ein Boulevardblatt wird 60. Ein Leitmedium, eine Zeitung mit Machtanspruch, das sinnbildliche Megafon des deutschen Wutbürgers, der immerwährende Angriff auf Irgendetwas und Irgendwen – kurz – die BILD feiert Geburtstag. Wer BILD hört, denkt an landesweit einmalige, reißerische Schlagzeilen, die ein Entsetzen, eine Emotion, zumindest aber ein großes Gefühl heraufbeschwören. Wie kein zweites deutsches Printmedium hat sich BILD der Aufgabe verschrieben, der bürgerlichen Kollektiv-Fantasie, sei sie politisch-korrekt oder diskriminierend, geschmackvoll oder pervers, sinnvoll oder absurd, eine Stimme zu geben. Eine Stimme, die schreit, die laut ist und übertönt, die den Einen verstummen lässt und den Andren gar zur Stellungnahme nötigt.

BILD-Gegner klären auf

Für den Schriftsteller und Nobelpreisträger Günter Grass ist die Bildzeitung deshalb „ein Instrument des Appells an die niedrigsten Instinkte“ und „regelrecht widerlich“. Doch nicht allein Grass ist dieser Meinung. Die Liste der Bildgegner ist lang. Sie reicht von Hans Leyendecker, dem vielleicht profiliertesten, investigativsten Journalisten Deutschlands, über NGO’s wie Campact bis Günther Wallraff, der Mann, der bei Bild Hans Esser war, wie der Untertitel seines 1977 erschienen Buchs lautet, in dem der Enthüllungsjournalist seine Erfahrungen mit BILD-Redakteuren in der Lokalredaktion Hannover schildert. 60 Jahre BILD gehen Dank Wallfraff & Co. einher mit einer Bewusstseinsveränderung des BILD-Rezipienten sowie der Zeitung selbst. Niemals zuvor sind die journalistischen Fehler und ethischen Abgründe der BILD-Redaktion derart kritisch betrachtet worden, wie in den letzten Jahren. Vor allem die Gründung des mit Preisen überhäuften bildblogs im Jahr 2004 erwies sich als Meilenstein kritischer Medienbeobachtung im Netz. Auf bildblog.de wird auf Verstöße des 60 jährigen Geburtstagskindes gegen den Pressekodex aufmerksam gemacht. Hier wird der BILD ihr Status des Lustigen-Quatschblatts endgültig aberkannt.

Die Macht der BILD

In den letzten Jahren waren es die berühmten Feinde des berüchtigten Boulevardblatts, die im Rahmen ihrer investigativen Recherche und Aufarbeitung der in BILD ausgeschlachteten Inhalte auf einen stetigen Verlust von Macht, eine daraus resultierende Veränderung der redaktionellen Vorgehensweise und auf eine kulturelle Öffnung der Zeitung verweisen. In Bild.Macht.Politik, einer ARD-Dokumentation, die im April diesen Jahres erschien ist, erkennen Günter Wallraff und der Kommunikationsberater Wolfgang Storz, der 2010 und 2011 als Autor der Studie Drucksache.BILD der Otto Brenner Stiftung beteiligt war, klare Zeichen steigender Machtlosigkeit bei BILD innerhalb der letzten Jahre. „Auf der Ebene wichtiger poltischer Entscheidungen ist BILD heute ein zahnloser Tiger“, sagt Storz dort und begründet diese These u.a. mit der geplatzten Keinen-Cent-für-Griechenland-Aktion, in deren Rahmen BILD im November 2011 eine Volksabstimmung über die geplante Änderung europäischer Verträge gefordert hatte. Auch die geplatzte Blase um Karl-Theodor zu Guttenberg, den BILD vor dem Aufkommen des Plagiatsverdachts als möglichen Kanzlerkandidaten gehyped und während der Vorwürfe die Rückendeckung gesichert hatte, gibt Storz in diesem Punkt Recht.

Weg vom Schmuddelimage

Auch, wenn BILD zum Sturz des Bundespräsidenten Wulff entscheidend beitrug, hat das Blatt begriffen, dass heute Veränderungen nötig sind, um als Ausdruck von Volkes-Stimme auch politisch ernst genommen zu werden. BILD will seriöser werden. In dem 2011 im WDR gezeigten Film “Das Wallraff-Urteil und die Folgen“ bedauert Springer-Chef Mathias Döpfner die durch Wallraff aufgedeckten, schockierenden Recherchemethoden der Zeitung in den 1970ern und plädiert für eine Aufarbeitung damaliger Fehler.

Am 09. März, und damit ausgerechnet am Weltfrauentag, verabschiedet sich BILD nach 28 Jahren von zuviel nackter Haut auf Seite 1. BILD will weg vom Schmuddelimage. Und auch der Chefredakteur setzt auf Veränderung. Kai Diekmann trägt die Haare jetzt ungegelt. Die leicht verwegene Bartpracht und auch die schwarze, alternative Rundbrille stehen ihm gut. Der wohl mächtigste Journalist Deutschlands muss ein anständiger, gutmütiger und vertrauenswürdiger Mann sein. Das Image des rigorosen Geschäftsmanns passt nicht länger ins neue Konzept. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

Die digitale Zukunft der BILD-Zeitung

Anlässlich des 60. Geburtstags versendet BILD am 23. Juni 41 Millionen kostenlose Sonderausgaben an deutsche Haushalte. Eine teure Werbeaktion, die nicht überall auf Vorfreude stößt und sich bereits mit Gegeninitiativen zahlreicher BILD-Gegner konfrontiert sieht. Trotz solcher fragwürdigen Geburtstagsspäßchen im Stile des Print-Zeitalters gilt es, die Digitalisierungsstrategie des Springer-Konzerns nicht zu unterschätzen. Während das digitale Geschäft immerhin ein Drittel des Gesamtumsatzes bei Springer ausmacht, erweist sich bild.de bereits als das meistgelesene journalistische Angebot in Deutschland. Damit, dass sich BILD auch in Zukunft digitaler Trends bedienen wird, um weiterhin am Markt bestehen zu können, darf gerechnet werden. Gerade die anstehende, halbjährige “Forschungsreise“ Kai Diekmanns ins Silicon Valley, dem globalen Zentrum der Computer- und Internetindustrie, lässt für die nächsten Jahre eine voranschreitende Digitalisierung der BILD erahnen.

Im Alter von 60 Jahren begreift BILD zur rechten Zeit, dass eine wichtige Aufgabe des gedruckten Boulevards, nämlich die Suche, Verurteilung und Hinrichtung eines Schuldigen, heute Aufgabe des Cybermobs ist. Diesen gilt es im Netz zu mobilisieren und wirtschaftlich sinnvoll zu kanalisieren. Für eine Zeitung, die seit jeher, gleichsam dem Netz, ein professionelles Spiel mit den Gefühlen seiner Rezipienten betreibt, sollte diese Aufgabe nicht zum Problem werden. „Wenn Springer überhaupt ein Problem hat, dann vielleicht, dass das Unternehmen zu klein ist“; so Döpfner im April diesen Jahres in der ZEIT.

Fotos: flickr/fscklog (CC BY-NC-SA 2.0) , flickr/campact (CC BY-NC 2.0)

So viel bist du im Web wert

von Alexander Karl

Es ist ein Schreckensszenario: Der Wert eines Menschen wird nur noch in Likes, Kommentaren und Retweets gemessen. Das Lebewesen hinter den Posts verschwindet. Doch längst ist das Realität, zumindest dann, wenn man Klout nutzt. Die App misst nämlich die Reputation von Menschen anhand von Facebook und Twitter – und der gläserne Mensch verschwindet hinter Bits und Bytes.

Das Ideal: Justin Bieber

Klout, das ist die Schufa unter den Apps: Sie sagt, was ein Mensch im Netz wert ist. Ob anderen gefällt, was er tut. Ob er beeinflusst. Und ob er vernetzt ist. Berechnet wird das – mal wieder – über einen Algorithmus, der ähnlich wie Google verfährt. Nur werden hier keine Webseiten gerankt, sondern real existierende Menschen. Und das anhand von Twitter-Retweets und Erwähnungen, Facebook-Kommentaren, Likes und Chronik-Posts. Ist man auch bei LinkedIn oder Google+ angemeldet, werden auch dort Kommentare und Co. gemessen. Es geht also um drei Säulen: Die Verstärkung (Retweets und Co.), die Reichweite (wie viele Follower lesen meine Tweets?) und das Netzwerk (Habe ich Kontakt mit „wertvollen“ Personen?) – und fertig ist der eigene Online-Wert! Wer also mit Justin Bieber befreundet ist, viele Follower hat und der eigene Status von Lady Gaga geteilt wird, der kann sich sicher sein, auch bei Klout einen hohen Wert zu erreichen. Außerdem hilfreich: Viel posten und das am besten immer wieder zum gleichen Thema. Der Maximum-Wert bei Klout ist 100 (den hat Justin Bieber), der Durchschnitt liegt bei 20, und bei null – dann existiert man quasi nicht.

Klout-Scores ist auch für Firmen interessant, um Meinungsmacher zu finden. Denn wer beeinflusst, kann für das Unternehmen nützlich sein. Dann bekommt man Geschenke, etwa ein Windows Phone, weil die Firmen um den Einfluss der Privatperson wissen – und sie mit Werbegeschenken dem eigenen Produkt zuneigen wollen. Was sich im ersten Moment als ein nettes Gadget anhört, nimmt gerade auch in den USA erschreckende Züge an. Dort werden Leute mit 15 Jahren Berufserfahrung nicht eingestellt, weil ihr Klout-Score zu niedrig ist, andere mit höheren Scores bekommen den Job.

Wertlosigkeit 2.0

Die Analogie zur Schufa macht durchaus Sinn: Die Reputationswürdigkeit jedes Einzelnen ist nur einen Klick entfernt. Und wer nichts auf der hohen Kante hat, der ist raus. Aber kann man Klout und seinen Bewertungen überhaupt vertrauen? Der Blog netzwertig.com hat da so seine Zweifel:

Auch die Tatsache, dass der US-Jungstar Justin Bieber mit einer Klout Score von 100 nach Erkenntnis des kalifornischen Startups einen größeren Einfluss hat als Barack Obama (Klout Score 93), stellt die Validität der Klout-Algorithmen in Frage – es sei denn, man sieht Klout Scores tatsächlich als reinen Indikator der Onlinereputation, der vollkommen von Image und sozialer Stellung einer Person im “realen Leben” losgelöst ist. Doch eigentlich wollen wir im Jahr 2012 ja genau diese Separation von Online und Offline hinter uns lassen.

Und was den Datenschutz angeht – da muss man erhebliche Bedenken haben. Denn anscheinend wird jeder – egal ob bei Klout registriert oder nicht – im Vorfeld ein Wert zugewiesen, der dann bei der Anmeldung angezeigt wird.

Klout ist vor allem eines: Eine bittere Pille, wenn man ein normales Leben führt. Der Durchschnittsuser, der ein Facebook-Profil hat, wird bei Klout sicherlich keinen Spaß haben. Eher jene, die im Netz viel unterwegs sind und auch selbst posten. Aber in der Ideologie von Klout geht es dabei nicht um die Pflege und Intensität von Freundschaften, sondern von reiner Oberflächlichkeit und Massentauglichkeit: Poste ich etwa einen kritischen Artikel über das (Nach-)Leben im Web, ist das wohl nicht so massenkompatibel, wie wenn ich jeden deutschen Sieg bejubel und dafür Likes von Gleichgesinnten sammele. Aber sollte man deswegen nur noch mit dem Strom schwimmen? Bei jeder Freundschaftsanfrage erst einmal den Klout-Wert checken? Diese Ideologie führt im Endeffekt nur wieder zu einer Blase, in der nicht mehr das Individuum, sondern nur noch die Masse zählt – die Masse an Likes, Freunden und massentauglicher Freunden. Doch das sollte wohl kaum der Sinn des Internet sein. Denn trotzdem sind wir noch mehr als Bits und Bytes.

Übrigens: Mein Klout-Score beträgt derzeit 45. Ich bin also nicht einmal halb so viel Wert wie Justin Bieber. OK, damit kann ich trotzdem irgendwie leben.

Fotos: Screenshot klout.com (19.06.2012)

Ein Tisch tourt durch Tübingen

von Sandra Fuhrmann

Ich bin ein alter hölzerner Schreibtisch. Vielleicht kennt ihr mich ja – in der letzten Woche war ich in ganz Tübingen unterwegs. Was? Ihr denkt ein Tisch kann nicht wandern? Nun – das ist völliger Unsinn.

Gleich am Montag hatte sich unser Chefredakteur Alexander Karl mit seinem Laptop vor dem Clubhaus postiert. Zwar schlotterte er in seinem blauen Cardigan ein wenig vor sich hin, Unterhaltung hatte er dafür genug. Nur als einer der Passanten ihn dann fragte, ob er Hölderlin sei, da wirkte Alex doch ein wenig irritiert.

Tübinger Schreibtische“ ist somit eigentlich nicht ganz richtig. Tatsächlich war es nur ein einziger Tisch, der teilweise sogar mehrmals am Tag seinen Standort in der Stadt änderte. Man fand ihn an der Neckarbrücke, beim Baumarkt, auf dem Marktplatz oder am Bahnhof. In der Tat eine erstaunliche Agilität, die dieses nostalgisch anmutende Holzgestell an den Tag legte. Gewechselt hat der Schreibtisch nämlich nicht nur seinen Standort sondern auch die Menschen, die auf ihm schrieben.

Tibor Schneider fühlte sich am Bahnhof so wohl wie in seinem eigenen Wohnzimmer. Sogar einen Kartoffelsalat bekam er geschenkt. Dann noch ein Bierchen dazu – da schreibt es sich doch gleich doppelt so gut.

Die „Tübinger Schreibtische“ sind ein Teil des Projekts „Megafon“ über das media-bubble bereits in einem anderen Beitrag berichtete. Unter ihrem grünen Sonnenschirm strotzten die Tübinger Autoren Wind und Wetter. „Sie sind greifbar, sie sind in Echtzeit und es geht um eine große Offenheit“, sagt Maria Viktoria Linke, die leitende Dramaturgin des Landestheaters, die zusammen mit der Autorin Sandra Hoffmann das Megafon-Projekt leitet.

Die Autoren, die gewöhnlich unsichtbar zuhause in ihren Zimmern schreiben, sollten für Tübingen sichtbar werden – und Tübingen sichtbar machen. Jeder zu einer anderen Zeit und jeder an einem anderen Ort brachten sie ihren Blick auf die Stadt zu Papier – beziehungsweise auf den Bildschirm ihres Laptops. Elf Autoren waren von Montag bis Samstag in der Stadt anzutreffen. Zwei weitere flanierten inkognito durch die Straßen. Am 22. und 23. Juni werden sie ihre Texte im Landestheater präsentieren.

Wer am Mittwochvormittag zufällig am Bürgeramt vorbeispaziert ist, der hat dort mit großer Wahrscheinlichkeit Eva Kissel getroffen – und ist vielleicht unbewusst Teil ihres Textes geworden.

Man konnte sie sehen, man konnte sie vollquatschen oder man konnte sie ausfragen. Letzteres habe ich dann auch bei drei unserer Autoren an Ort und Stelle getan. Und weil es viel spannender ist selbst zu hören was mir Alexander Karl, Tibor Schneider und Eva Kissel alles erzählen konnten, gibt es meine Gespräche mit den Autoren hier als mp3.

Tübingen hallt und schallt – es lohnt sich also reinzuhören

 

Fotos: Jan Andreas Münster

Bedient euch! – Das Modell Open Source

von Sebastian Luther

Wir schreiben das Jahr 2050. Microsoft und Apple haben den Markt unter sich aufgeteilt: PCs, Tablets, Smartphones; alle Geräte sind zu einem einzigen verschmolzen der Black Box die uns Arbeiten und Zeitvertreib mühelos von Zuhause und unterwegs möglich macht. Die Bedienung von Gerät und Programmen ist intuitiv, Probleme gibt es de facto keine mehr. Falls doch, patchen die Hersteller nach dem Motto „Gefahr erkannt, Gefahr gebannt“ so lange die Konzerne das möchten.

Eine Annahme

Zurück in die Gegenwart: Heutzutage ist der Gedanke der Black Box heftig umstritten. Ein Gerät, das alle Funktionen und Anwendungsgebiete in sich vereint? Der US-amerikanische Wissenschaftler Henry Jenkins egalisiert die Black-Box-Hypothesen, da aus seiner Sicht die Konvergenzprozesse, die sich zwischen Produzenten und Konsumenten abspielen, wesentlich wichtiger sind. Spekulationen über das Gerät selbst sind tatsächlich müßig, betrachtet man die Entwicklung der letzten 40 Jahre. 1970 hatte ein Prozessor, also das Herz jedes rechenfähigen Geräts, noch um die 2000 Transistoren, die die Leistungsfähigkeit des Prozessors bestimmten. 2011 war diese Zahl bereits auf über zwei Millionen angestiegen. Die nach dem Mitgründer von Intel benannte Faustregel „moore’s law“ besagt, dass sich die Rechenleistung knapp alle zwei Jahre verdoppelt, so lange, bis physikalische Grenzen bei der Herstellung erreicht werden. Was also in weiteren 40 Jahren sein wird, kann nur abgewartet und beobachtet werden.

Betrachtet man allerdings das Konzept der Geräte, lassen sich durchaus Tendenzen erkennen. Eigene Text- und Datenverarbeitungsprogramme haben sowohl Microsoft als auch Apple schon seit Langem auf dem Markt und die Imperien, die um das jeweilige Betriebssystem konstruiert werden, wachsen und wachsen. Für Smartphones wurde eine eigene Software entwickelt, eigene Karten- und Navigationsdienste befinden sich in der Entwicklung (Apple wirft Google Maps raus, Microsoft hat Streetside). Ein alter Hut sind eigene Dateiformate, sowie der damit verbundene Ärger. Und Microsoft wird den Cloud-Service iCloud von Apple nicht lange auf sich sitzen lassen. Dass Entwicklungen aus dem gleichen Hause untereinander wesentlich besser kommunizieren können, ist offensichtlich. Für User ist das zunächst sehr vorteilhaft, und so bauen die Konzerne weiter an ihren Netzen.

 Von Spinnen, Wolken und Himmeln

Die Befürchtung, dass diese miteinander verknüpften Entwicklungen sich irgendwann als Spinnennetze entpuppen könnten, ist nicht von der Hand zu weisen. Wieso sollte Apple noch weiterhin Dateitypen von Microsoft unterstützen, wenn das eigene Format an Beliebtheit gewinnt, oder umgekehrt? Entscheidet man sich dann für ein System, kauft sich weitere Software und Geräte dafür, dann ist man schnell schon allein des finanziellen Investments wegen in diesem Netz gefangen.

Dass am 21. April 2011 nicht der Weltuntergang begonnen hat, haben wir dem imaginären, populärkulturellen Ursprung des Menschenfeinds zu verdanken: Skynet, das Computernetzwerk aus dem Terminator-Universum, existiert eben nur dort und konnte somit keine Toaster bzw. humanoide Vernichtungsroboter gegen uns in den Kampf schicken. Diese post-apokalyptische Dystopie spielt mit der Angst des totalen Kontrollverlusts, dass die Menschheit irgendwann vom eigenen technologischen Fortschritt überholt und als die auf der Erde dominierende Entwicklungsform abgelöst wird. Das muss nicht zwangsläufig in totaler Vernichtung enden, ist dennoch aber ein furchteinflößender Gedanke. Der ein oder andere wird dann die Analogie von Skynet zu iCloud mit einem Lachen abtun, aber ein fahles Gefühl behalten, dass ‚morgen‘ vielleicht gar nicht mehr so weit weg ist.

Ein Unternehmen ist auf maximalen Gewinn ausgerichtet. Das Ausbooten der Konkurrenz ist ein probates Mittel in diesem Kampf. Und auch die Kontrolle über unsere Daten, die wir bei Facebook, Google, Apple und Microsoft noch haben, wird von vielen als pure Illusion von Kontrolle gesehen. Wer sollte diese Mogule der Medienwelt in 40 Jahren noch hindern, wenn die eigene Überlebensfähigkeit in der vernetzen Welt von ihnen abhängt?

Open Source als Gegenentwurf

So weit wird es aller Voraussicht nach nicht kommen, wenn wir weiterhin die Unabhängigkeit unserer Versorgungswege beachten. Open Source bzw. die Open Source Initiative (OSI), basiert auf genau diesem Prinzip. Der Quellcode, also quasi die Blaupause, eines Programms wird, im Gegensatz zur Software von großen Unternehmen, veröffentlicht und darf nach diesem Prinzip sogar verändert werden. An Open Source Programmen arbeiten nicht zwangsläufig Entwicklerteams, die von einem Unternehmen für ihre Arbeit bezahlt werden, sondern Entwickler, die auf der ganzen Welt verteilt sind. An dem Open Source Betriebssystem Linux arbeiteten zuletzt über 7800 Menschen aus 80 Ländern, wenn auch nicht alle mit gleichem Einfluss. Es ist das gelebte Paradigma von Wissensgemeinschaften, nach dem niemand alles wissen kann, viele ihr individuelles Wissen allerdings zu einem großen Pool vereinigen können, auf den wiederum jeder zugreifen kann. Zwar ist der Marktanteil von Linux unter gewöhnlichen Desktop Rechnern sehr gering (ca. 1,0 % im Dezember 2011), jedoch werden Server oft mit diesem Betriebssystem versehen, da es als sicherer und einfacher zu warten gilt.

Sollte sich tatsächlich ein Unternehmen in Großmachtfantasien versteigen, dürfte die Popularität dieser Systeme in die Höhe schnellen, sofern nicht schon Kartellbehörden vorher eingreifen. Android, ein Linux-basiertes Betriebssystem für Smartphones und Tablets, dürfte auch den Konkurrenzkampf auf den entsprechenden Märkten ausgeglichen halten und hegemoniale Entwicklungen verhindern. Der faktisch messbare Anteil aller Open Source Anwendungen mag gering sein, gerade weil die Programme beliebig verändert werden können, die Idee, die dahinter steckt, ist jedoch umso stärker. Und was eine Idee im Ernstfall bewirken kann, dafür hat die Geschichte Beispiele im Überfluss zu bieten.

Fotos: flickr/trevi55 (CC BY-NC-SA 2.0), flickr/puntopixel (CC BY-NC-ND 2.0)