Das lesende Herdentier

von Sandra Fuhrmann

Der Mensch ist ein Herdentier. Er sehnt sich nach sozialer Interaktion. Doch manchmal, da zieht er sich zurück in sein stilles Kämmerchen, greift ins Regal und schlägt die Seite eines Buches auf, um mit sich und der fremden Welt, die sich zwischen den Seiten verbirgt, allein zu sein. Aber warum allein in fremden Welten wandeln, wo es da draußen doch so viele willige Mitstreiter gibt? In Zeiten des Internets nennt sich das Social Reading – und ist doch ein alter Hut.

Social Reading – ein alter Hut

Lesekreise gibt es vermutlich in der ein oder anderen Form seit der Mensch Schriftzeichen mit Bedeutung versieht. Besonders im religiösen Umfeld finden wir in der Geschichtsschreibung zahlreiche Beispiele für das gemeinschaftliche Lesen von Schriften. Etwa den Castelberger Lesekreis, der im Zusammenhang mit der Täuferbewegung im 16. Jahrhundert bekannt wurde. Social Reading – das ist intellektueller Austausch, das ist im bereits Entdeckten Neues zu entdecken, neue Perspektiven, die sich erschließen oder Dinge, die einem erst durch den Austausch mir anderen klar werden.

Ist für den einen die Bibel das Buch der Bücher, so ist es für den anderen vielleicht Tolkiens Herr der Ringe. Lesekreise gibt es heute in mehr Varianten denn je. Sie sind so vielfältig, wie die Menschen, die an ihnen teilnehmen. Längst muss man zum gemeinsamen Lesen nicht mehr Platons Garten aufsuchen. Bequem lässt sich der literarische Dialog dank Internet vom heimischen Sessel aus führen. Internetforen wie lovelybooks.de, Book-Clubs-Resource.com oder literatur-commuinity.de, über das media-bubble in einem anderen Beitrag berichtete, Social Media und nicht zuletzt E-Books lassen ganz neue Varianten des gemeinschaftlichen Lesens und des Austauschs entstehen. Waren die typischen Teilnehmer traditioneller Buchklubs meist über 60-Jährige oder nicht berufstätige Mütter, so ziehen vor allem Onlineangebote vermehrt ein junges Publikum an. Online-Foren werden oft auch nur genutzt, um sich Listen mit Lesevorschlägen anzusehen und sich so für das nächste Buch zu entscheiden.

Das Lesen von Büchern heißt heute lange nicht mehr nur, sich über schwarze Buchstaben auf weißem Papier zu beugen, mit der Hand über die Seiten zu fahren bis man irgendwann bemerkt, wir rau die Haut geworden ist und wie müde die Augen. Die Plattform lovelybooks.de ist ein gutes Beispiel dafür, dass auch Lesen multimedialer geworden ist als je zuvor – hier kann man auch mit den Autoren diskutieren und an Leserunden teilnehmen. Die Seite ist nicht nur Diskussionsforum, wo es ein Leichtes ist, sich mit Menschen mit ähnlichem Lesegeschmack zu vernetzen, über Neuheiten zu informieren und ein virtuelles Bücherregal zu erstellen. Die Website lässt sich zudem als App auf dem Smartphone installieren und es werden Livestreams zu Autoren-Talks geschaltet, die dem Zuschauer die Möglichkeit bieten, via Chat Fragen an die Autoren zu richten. Aber auch die Bücherwelt gibt es noch offline, etwa in Talkrunden mit Autoren im Fernsehen, wie bei der zdf-Sendung „aspekte“ und Buchvorstellungen wie bei 3sats „Kulturzeit„. Auch Autorenlesungen, beispielsweise in Buchhandlungen, gibt es noch analog.

Der Stoff, auf dem Welten entstehen

Lesen – das ist Versunkensein, das ist sich an einem anderen Ort zu befinden, ohne das Zimmer verlassen zu müssen. „Von allen Welten, die der Mensch erschaffen hat, ist die der Bücher die Gewaltigste“, so ein Zitat von Heinrich Heine. Aber können diese Welten auch vor anderen Hintergründen bestehen? Etwa vor dem von Metall und Plastik? E-Books scheinen noch einmal eine ganz neue Kategorie zu öffnen. Mit ihren Möglichkeiten des Markierens und der Weitergabe von Informationen über das Wie und Was des Lesens dringen sie vor bis auf den Grund der Informationen über unser Leseverhalten, bis auf die nackte Haut. Sie machen Lesen zu einem so sozialen Erlebnis, wie es davor vielleicht höchstens durch intensivsten verbalen Austausch möglich war. Sie zeigen der Welt unsere lesende Seele.

Neue Features wie Before you Go für Amazons Kindle ermöglichen es, das Buch zum einen auf einer Skala von eins bis fünf, wie man sie aus den üblichen Amazon Rezensionen kennt, zu bewerten. Zudem ist es möglich, seine Gedanken dazu direkt in Social Networks wie Facebook und Twitter mit anderen zu teilen. Dass Anmerkungen und Markierungen des Lesers für den Rest der Welt sichtbar werden, ist das eine. Die Frage ist jedoch auch, ob das neue technische Spielzeug E-Reader der ohnehin fleißig geführten Debatte über die zunehmenden Multitaskinggewohnheiten und wie viel unserer Konzentration ihnen zum Opfer fallen wird, zu Recht zusätzliches Brennmaterial liefert. E-Reader könnte durch ihre Möglichkeiten unser Leseverhalten auf Dauer verändern, so die Befürchtung. Es ist wahr, dass Austausch eine Bereicherung für den eigenen Horizont und das Verständnis sein kann. Doch muss nicht erst einmal die Fläche geschaffen werden, über die man zu diesem Horizont blicken kann? Die Angst ist, dass uns das sogenannte Deep Reading, das versunkene Lesen, durch die ständige Unterbrechung des Leseflusses, die diese neuen Gewohnheiten mit sich bringen mögen, verloren gehen könnte.

Wie wir witschaftlich werden

Fast ein wenig grotesk, dass gerade E-Books und die digitale Verfügbarkeit von Texten als eine große Gefahr gesehen werden, zum Beispiel wenn es um die Debatte zur Buchpreisbindung geht. Dabei bieten sie auf der anderen Seite wiederum herrliche neue Möglichkeiten für die Vermarktung. Dem gläsernen Konsumenten können passende Angebote direkt vor die Nase gepostet werden, was letztendlich auch den Verkauf optimieren müsste. Doch nicht nur E-Books sind im Bereich sozialer Leseangebote ein wirtschaftliches Wunderkind. Vermutlich keiner, der nicht schon einmal von einer Tupper-Party gehört hat. Tupper verdient damit laut dem Marketingexperten Jochen Krisch rund 230 Millionen Dollar jährlich. Warum nicht dasselbe mit Büchern machen?

In Amerika gibt es über eine halbe Million Lesekreise. „Rudelbildung stützt den Buchmarkt!“, sagt Florian Kessler. Laut dem Tagespiegel-Autor werden in Deutschland mittlerweile sogar schon Romanausgaben speziell für Lesekreise herausgegeben. Manche Unternehmer haben diese neue Absatzmöglichkeit, die dem Verkauf des gedruckten Wortes auf die Sprünge helfen könnte, bereits auf die ein oder andere Weise für sich entdeckt. So zum Beispiel die Buchhandlung Riemann: „Die Buchpicker“ ist ein Leseklub für Kinder, in dem sich 9- bis 13-Jährigen alle vier Wochen treffen und unter Anleitung gemeinsam Bücher entdecken können.

Social Reading ist durchaus kein neues Phänomen. Es ist ein alter Hut, den man mit neuem Putz drapiert hat. Nicht nur, dass neue technische Entwicklungen dem Ausdruck ganz neue Dimensionen verleihen, Social Reading muss durch die Veänderungen in der Medienlandschaft auch in einem neuen Kontext gesehen werden. Richtig genutzt kann es eventuell das ein oder andere Potenzial bereithalten. Denn eines ist sicher: Der Mensch war und ist ein Herdentier, das sich im Allgemeinen im Rudel nunmal am wohlsten fühlt.

Fotos: flickr/diepuppenstubensammlerin (CC BY-NC-SA 2.0) , flickr/Simon Cocks (CC BY 2.0)

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