Der errechnete Mensch

Von Miriam Lenz

Unsere Daten sind mittlerweile überall – ob wir sie nun selbst herausgeben (z. B. indem wir ein Nutzerprofil anlegen) oder ob sie abgegriffen werden (z. B. durch die GPS-Funktion im Handy oder Cookies im Netz). Die wenigsten wissen, wer wo welche Daten von ihnen hat. Trotzdem fühlen sich viele nicht bedroht; schließlich hat man nichts zu verbergen. Was macht es schon, wenn jemand durch meine Paybackkarte weiß, was ich einkaufe?! Gleichzeitig haben aber auch immer mehr Menschen ein ungutes Gefühl, weil sie die Warnungen etlicher Experten im Kopf haben, laut denen uns unsere Unvorsichtigkeit noch teuer zu stehen kommen wird. Denn laufend werden unsere Daten gesammelt, an die Wirtschaft verkauft und dort ausgewertet, um dann wiederum gezielt Profit aus uns herausschlagen zu können. Kann man da wirklich noch behaupten, dass das Internet kostenlos ist?

Wem nutzen die Daten?

In der Zukunft und auch jetzt schon fahren wir nicht mehr einfach nur Auto. Wir produzieren dabei am laufenden Band Daten. Das Fahrzeug weiß, wann ich wie wo hinfahre. Es wird mich mithilfe dieser Daten unterstützen und mich z. B. um einen Stau herumlenken oder warnen, wenn mein Fahrstil Anzeichen von Müdigkeit aufweist. Die erzeugten Daten dienen aber nicht nur meiner persönlichen Unterstützung, sondern können auch an Versicherungen verkauft werden. Die Versicherung weiß dann, ob ich ein moderater oder aggressiver Fahrer bin, ob ich oft oder selten fahre und wie oft die Fahrzeugassistenz eingreifen musste. Je nach Daten werde ich teuer oder günstiger versichert werden. Wenn ich einen Unfall habe, werde ich mit hoher Wahrscheinlichkeit kurz darauf per Werbebanner oder Post ein Angebot für einen Neuwagen erhalten. Sei es aufgrund der vom Auto produzierten Daten, weil ich meinen Unfall in einer Mail erwähnt habe oder weil ich auf der Website eines Autoherstellers gesurft bin.

Auch im Bereich Gesundheit geht der Trend hin zu mehr Datensammeln. Fitnessarmbänder und Gesundheits-Apps erstellen ganze Datenbanken über unseren gesundheitlichen Zustand, wofür sich auch die Krankenkasse oder diverse Versicherungen brennend interessieren. Schon jetzt belohnen Krankenkassen die Kunden, die via Gesundheits-App nachweisen, dass sie sich fit halten. Wie lange wird es dann wohl noch dauern, bis diejenigen höhere Beiträge zahlen müssen, die dies nicht tun?

Die systematische Abschöpfung unserer Daten, die Erstellung riesiger Datenbanken und die Auswertung und Verknüpfung unserer Daten dringen in jeden Bereich unseres Lebens vor. Viele Anwendungen und Apps (auch die, von denen man das nicht erwartet) etwa greifen nebenbei Standortdaten, Freundeslisten, Gefällt-mir-Angaben, Adressbücher und Kalender ab. So entstehen sehr genaue Profile über unsere Bildung, Wohnsituation, Beschäftigung, Interessen, Bewegungsverhalten, Finanzen und Gesundheit. Schnell kann es da passieren, dass aufgrund der Datenbasis ein Kredit nicht bewilligt wird oder eine Beförderung bei der Arbeit ausbleibt.

Anhand der errechneten Profile und aufgrund von Statistiken versucht man vorherzusagen, wie man uns am besten manipulieren oder Profit aus uns herausschlagen kann. Apple-Nutzern werden Produkte z. B. oft teurer angezeigt als Windows-Nutzern, weil sie als finanzstärker eingeschätzt werden. Dass der einzelne Mensch unberechenbar bleibt und dass Statistiken irren können, wird der Nachteil des einzelnen sein. Gehört man statistisch zu einer Risikogruppe, kann man das z. B. in Form von teureren Beiträgen zu spüren bekommen. Da hilft es nicht mal, wenn man vorsichtig mit seinen Daten umgegangen ist: Denn je weniger Daten zu einer Person vorliegen, desto weniger ist diese einschätzbar und somit wieder ein Risiko.

Doch es entsteht ein noch verheerenderer Schaden. Wenn ich weiß, dass überall Daten über mich existieren, ich beobachtet und analysiert werde, ändert sich mein Verhalten. Nicht, weil ich glauben würde, dass ich mich falsch verhalte, aber eben doch, um bloß keinen Zweifel aufkommen zu lassen. Ich werde vorsichtiger, verhalte mich konformer, bin weniger kreativ und werde weniger kritisch denken, geschweige denn mich äußern. Das aber entspricht nicht dem Wesen unserer teuer erkämpften freiheitlichen Gesellschaft. Warum der Schutz unserer Privatsphäre so wichtig ist und warum das Argument nicht zieht, dass wer nichts zu verbergen hat, nichts zu befürchten hat, erklärt der Journalist Glenn Greenwald in einem TED Talk. Er gehörte zu den Ersten, die Edward Snowdens Dateien einsehen durften:

Was sagt das Gesetz?

Bisher hatte jeder der 28 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union ein eigenes Datenschutzgesetz. Nun ist eine Reform geplant, die den Datenschutz vereinheitlicht und die Rechte der Nutzer stärkt. Unlängst gab es außerdem einen Durchbruch. Der Europäische Gerichtshof gab dem Österreicher Max Schrems recht, als dieser klagte, weil seine auf Facebook erzeugten Daten von der europäischen Niederlassung Facebooks in Irland an die Vereinigten Staaten weitergegeben wurden. Dort konnten bisher die Behörden und der Geheimdienst die personenbezogenen Daten nutzen.

Durch das Urteil dürfen nun Tausende von Unternehmen die in Europa gesammelten Daten nicht mehr an die Vereinigten Staaten weitergeben, dort sammeln und analysieren. Im Zuge dessen wurde nun auch das Safe-Harbor-Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und der Europäischen Union für ungültig erklärt.

Das Thema Datenschutz ist keine Frage der Wirtschaft oder der technischen Möglichkeiten, sondern primär eine politische und juristische. Nur weil wir keine direkte Bedrohung etwa in Form von Waffen spüren, heißt das nicht, dass wir sicher sind. Mit zunehmender Überwachung entsteht ein Gefängnis in unseren Köpfen, weil wir uns immer die Frage stellen müssen, ob die Daten, die durch unser Verhalten erzeugt werden, an jemanden gelangen könnten, der diese zu unserem Nachteil einsetzt.

Foto: flickr.com/Dennis Skley (CC BY-ND 2.0)

Das Streben nach Perfektion

Von Valerie Heck

Schlauer, aktiver, fitter – dank Technik ist das jetzt möglich. Denn immer mehr Apps und Gadgets werden entwickelt, um den Menschen in seinem Streben nach Optimierung und Perfektion zu unterstützen. Vor allen Dingen im Bereich der Gesundheit und Fitness kann der Mensch immer mehr auf die Unterstützung von Technik bauen. Aber auch die Grenzen des menschlichen Gedächtnisses können beispielsweise mit Kameras, die alle paar Sekunden ein Foto schießen, überwunden werden. Lifelogging heißt der Trend, sein Leben in all seinen Facetten aufzuzeichnen.

„Ein Stück irdische Unsterblichkeit“

Lifelogging (2)

Gordon Bell mit SenseCam

Was als neuster Trend des digitalen Zeitalters gilt, macht Gordon Bell schon seit Jahrzehnten. Dabei trägt der Microsoft-Ingenieur nicht nur bei jedem Schritt, den er macht, eine so genannte SenseCam um den Hals, die alle 20 Sekunden automatisch ein Bild von seiner Umgebung macht. Er speichert auch Artikel, Bücher, CDs, Briefe, Mitteilungen, Präsentationen, private Filme, besuchte Websites, tägliche Aktivitäten und sogar Transkripte von Telefongesprächen und Chats. Sein Ziel ist es, eine lückenlose Enzyklopädie seines Lebens zu erstellen. Das Ganze begann 1998 mit dem Projekt „MyLifeBits“, doch auch nach der Beendung des Projekts 2007 machte Bell mit dem Lifelogging weiter. Nach all den Jahren findet es Bell praktisch, sein digitales Gedächtnis aufrufen zu können

In seinem Buch „Your life, uploaded“ beschreibt Bell die Vorzüge des Lifeloggings: „Man gewinnt mehr Einsicht in sich selbst, die Fähigkeit, die eigene Lebensgeschichte mit proust‘scher[1] Detailtreue nachzuerleben, die Freiheit, weniger im Gedächtnis zu behalten und mehr kreativ zu denken, und sogar ein Stück irdische Unsterblichkeit, weil das Leben im Cyberspace bewahrt wird.“ (Morozov: „Smarte neue Welt“) Für Bell ist das Archivieren seiner Lebensgeschichte ein Versuch, die Grenzen des menschlichen Gedächtnisses zu überwinden.

Auch Software-Pionier Stephen Wolfram protokolliert seinen gesamten Tagesablauf und hat mittlerweile ziemlich verlässliche Daten über sein Verhalten der letzten 25 Jahre gesammelt. Seine Prämisse dabei ist allerdings: Es darf kein Aufwand dahinter stecken, die Daten zu erfassen; das Ganze muss im Hintergrund ablaufen. Technik macht dies möglich: Eine Uhr überwacht seine Herzfrequenz und seine Schritte, sein Computer macht alle 15 Sekunden einen Screenshot, seine Tastatur erfasst jeden Tastendruck, ein Mikrofon nimmt die Geräusche um ihn herum auf und eine kleine Ansteckkamera schießt alle 30 Sekunden ein Bild.

Alle Zeichen stehen auf Optimierung

Tatsächlich spielt die Technik bei dem Drang nach Optimierung eine große Rolle. Es werden Fitnessarmbänder, Smartphone Apps und immer kleinere Ansteckkameras entwickelt, damit die Menschen möglichst alle ihre Daten aufzeichnen und diese zur Optimierung der körperlichen und geistigen Leistung nutzen können.

Und die neuen Gadgets werden von den Leuten angenommen: Sie versehen ihren Körper mit Sensoren, die körperliche Parameter wie Körpertemperatur, Schritte und Herzfrequenz aufzeichnen, tragen nachts Stirnbänder zur Messung der Gehirnaktivität beim Schlaf und lassen sich von Apps vorschreiben, wie viele Kalorien sie heute noch zu sich nehmen dürfen. Kurz: Die Menschen vermessen sich selbst. Dabei ist ihr Ziel häufig die Optimierung des eigenen Lebens – man will mit  Hilfe von Technik fitter, gesünder oder sogar weniger gestresst werden. Seit 2007 wird dieser Trend mit dem Begriff „Quantified-Self“ zusammengefasst. Dabei werden zwei Tendenzen der Zeit vereint: Der Wunsch nach menschlicher Perfektion und der Glaube an die Segnungen digitaler Technologie.

Die Unternehmen freuen sich…

„Alles wird verschlüsselt sein, elektronische Erinnerungen werden in Schweizer Datenbanken lagern, man wird vorsichtig und begrenzt Informationen mit anderen teilen.“ (Morozov: „Smarte neue Welt“) So spricht Gordon Bell vom Speichern der gesammelten Daten – als eine private Angelegenheit. Doch die Wirklichkeit sieht ganz anders aus: Lifelogging findet in der Öffentlichkeit statt. Damit ist nicht nur gemeint, dass Lifelogger die Fotos, die alle 20 Sekunden automatisch geschossen werden, auf verschiedenen Plattformen veröffentlichen, egal wie trivial die Situationen und unscharf die Bilder auch sind, wie diese Aufnahmen mit dem Narrativ Clip zeigen:

Lifelogging (3) Lifelogging (5) Lifelogging (4)

Sondern es ist vor allen Dingen gemeint, dass die Unternehmen durch Apps, Fitnessarmbänder und andere Anwendungen an die Daten ihrer Kunden gelangen und mit Daten lässt sich bekanntlich Geld verdienen. So gibt Travis Bogard von Jawbone, dem Hersteller von Fitnessarmbändern und –apps ganz offiziell zu, dass sein Unternehmen in Zukunft mit Daten und nicht mehr mit Hardware Geld verdienen wolle. Auch das kleine Unternehmen Exist profitiert von den Daten verschiedener Quantified-Self-Anwendungen, indem es diese nach Trends und Korrelationen durchsucht und die Ergebnisse der Analysen an die User verkauft.

Für Stefan Selke, Professor für Soziologie und gesellschaftlichen Wandel an der Hochschule Furtwangen, ist das kommerzielle Interesse an Lifelogging entscheidend für die Verbreitung des Trends und auch der Grund dafür, dass Lifelogging in Zukunft eine immer größere Rolle spielen wird. Unternehmen verdienen an den Daten und an den neuen Geschäftsideen, die sich daraus entwickeln. Denn in Zukunft sollen noch mehr Messungen als Schritt zählen und Puls kontrollieren möglich sein. Google hat bereits ein Patent für ein Armband angemeldet, das Krebszellen erkennen, zählen und am besten noch zerstören soll und wer weiß, was sonst noch in der Zukunft möglich sein wird.

Sinnloser Solutionismus?

Genau diesen kommerziellen Nutzen kritisiert der Autor des Buches „Smarte neue Welt“ Evegny Morozov: „Technologie ist ständig auf der Suche nach Problemen, die sie lösen kann, ohne dass sie einer Lösung bedürfen.“ Diese Tendenz fasst Morozov als „Solutionismus“ zusammen.

Nehmen wir das Beispiel des menschlichen Gedächtnisses, dessen natürliche Lücken für Menschen wie Gordon Bell und andere Lifelogger ein Problem darstellen, das es durch Techniken wie SenseCams, Archivierung und Lifelogging-Apps zu überwinden gilt. Sind die Lücken im Gedächtnis wirklich ein Problem oder manchmal nicht sogar nützlich, wenn man zum Beispiel ein schreckliches Ereignis aus der Vergangenheit verarbeiten möchte. Das Gedächtnis trifft eine Auswahl aus Auslöschen und Bewahren, während der Computer einfach nur speichert. Und wenn man wirklich darüber nachdenkt, braucht man auch Anwendungen wie Fitnessarmbänder oder „Schlafrhythmusüberwacher“ nicht. Doch es werden Probleme wie zu geringe Aktivität oder nicht ideale Tageseinteilung kommuniziert, die die neuste Technik überwinden kann. Und irgendwie ist es auch interessant, die Aktivität des Körpers zu überprüfen und lustig, eine unübersichtliche Menge an Fotos, die automatisch geschossen wurden, zu durchforsten und sich so an Momente zu erinnern, die man sonst wahrscheinlich vergessen hätte.

Es zeigt sich, dass durch die geschaffenen Probleme und die dadurch entwickelte Technik Trends entstehen. Daher werden auch in Zukunft „sinnlose“ Gadgets zur Optimierung des Lebens verwendet werden. Einfach, weil es sie gibt.


Literatur: Morozov, E. (2013). Smarte neue Welt: digitale Technik und die Freiheit des Menschen: Karl Blessing Verlag.

Fotos: flickr.com/N i c o l a (CC BY 2.0), flickr.com/JulianBleecker (CC BY-NC-ND 2.0), flickr.com/Roland Tanglao (CC BY 2.0), flickr.com/Roland Tanglao (CC BY 2.0), flickr.com/Roland Tanglao (CC BY 2.0)

 

[1] In seiner fiktiven Autobiographie „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ versucht der französische Schriftsteller Marcel Proust vergeblich, sich an seine Kindheit und Jugend zu erinnern. Es helfen ihm schließlich eine Reihe von „unwillkürlichen Erinnerungen“ oder Sinnesassoziationen, die Erlebnisse der Vergangenheit auf intensive Weise vergegenwärtigen und damit erinnerbar machen.

Scrollst du noch oder weißt du’s schon?

Von Anita Mäck

Kommunikation funktioniert in unserer Welt längst global. Wir rufen Informationen ab oder stellen sie ein und teilen unser Wissen mit allen Menschen, die einen Zugang zum Netz haben und danach suchen. Währenddessen wächst das Internet kontinuierlich. Sowohl die Anzahl der Server, die Informationen bereitstellen, als auch die Zahl der Nutzer sowie die Intensität der Interaktionen erhöhen sich.

Unsere Erdkunde-Lehrerin in der Schule sagte damals, es sei nicht wichtig alles zu wissen, man müsse nur wissen, wo es steht. Recht hat sie, dachten wir. Ihre Aussage nahm einen gewissen Druck von uns. Das Gefühl, es sei nicht schlimm etwas nicht zu wissen, bezog sich also auf unser Erdkunde-Buch. Heute steht uns eine viel größere Quelle zur Verfügung, das Internet. Das Scrollen auf unseren Smartphones und Tablets ist zur alltäglichen Bewegung geworden. Vergessen wir sie einmal zu Hause, fühlen wir uns nackt. Wie lebt es sich in unserer Informationsgesellschaft? Wie gehen wir mit der Bandbreite an Inhalten um?

Wissen auf dem Silbertablett serviert

Der Begriff der Informationsgesellschaft ist bislang nicht allgemein definiert und wird häufig mit dem der Wissensgesellschaft gleichgesetzt. Er steht für eine Gesellschaftsform, die Informationsverarbeitung, insbesondere über Computer und Internet, nutzt, um Wissen zu teilen. Dies können wir stets erweitern und wiederum anderen Menschen, einschließlich der Ursprungsquelle, zur Verfügung stellen. Durch dieses Verhalten entstand z.B. Wikipedia, die größte Wissensdatenbank der Welt. Der mittlerweile einfache Zugang zu einer mächtigen Bandbreite an Wissen verführt dazu, unmittelbar zum Smartphone zu greifen, wenn man etwas nicht weiß. Im Internet trifft man dann auf Menschen, denen man im realen Leben normalerweise nicht begegnen würde. Oldtimer-Fans etwa tauschen sich in Foren über ihre geliebten Autos aus. Dabei spielt es keine Rolle, dass sie quer über den Globus verteilt wohnen, solange sie über dasselbe Automodell sprechen. So vielfältig und weit unsere Welt durch das breite Angebot an Informationen wird, so eng rückt sie dadurch auch zusammen.

Intelligenter Umgang mit Wissen als Schlüsselkompetenz

„If I have seen further it is by standing on the shoulders of giants. “ Mit diesem Satz wollte Isaac Newton ausdrücken, wie wichtig es vor allem in der Wissenschaft sei, Informationen zu teilen, um Dinge nicht permanent ein weiteres Mal erfinden zu müssen. Gemeint ist also die Möglichkeit, die eigene Forschung auf den Ergebnissen anderer „Giganten“ aufbauen zu können. Doch nicht nur die Menge an Wissen vergrößert sich, auch die Verfügbarkeit erhöht sich kontinuierlich. Informationen bereitzustellen kostet vergleichsweise wenig. Das „virtuelle Bücherregal“ ist also günstiger als ein echtes, lässt sich einfacher aufbauen und mit ein paar gezielten Klicks intelligent durchsuchen. Wer sich nicht auf unseren rasanten technologischen Wandel einstellt, läuft Gefahr, zum sogenannten Analphabit zu werden. Ja, der Begriff ist richtig geschrieben. Er beschreibt diejenigen, die den Umgang mit Computern und digitalen Informationen scheuen. Wer nicht fähig ist, das Internet geschickt zu verwenden, bekommt früher oder später berufliche und gesellschaftliche Nachteile zu spüren.

Sich im komplexen Informationsdschungel zurechtzufinden und Wissen intelligent zu nutzen, erfordert wiederum Kenntnisse über die Vorzüge und Tücken des Internets. Hier sind u.a. Medienkompetenz, Recherchekompetenz und Urteilungsvermögen über die Qualität von Quellen gefragt. Genauer gesagt sollten sich Nutzer mit internetfähigen Geräten auskennen und wissen, mit welchen Schlagworten sie etwa zu ihrer gewünschten Information gelangen. Darüber hinaus sollte man Quellen kritisch auf ihre Richtigkeit prüfen, da im Netz jeder alles veröffentlichen und miteinander verlinken kann. Durch den einfachen Zugang zum Internet hinterfragen wir Inhalte häufig nicht näher, vor allem, wenn wir sie schnell benötigen. Warum sollten wir uns auch die Mühe machen, selbst nachzudenken, wenn wir die Information nach ein paar Klicks auf dem Silbertablett serviert bekommen? Vielen Nutzern fällt daher falsches Wissen nicht auf, welches sie dann weitertragen.

Doch wir beziehen nicht nur Informationen, wir liefern sie auch. Inzwischen ist es keine Neuigkeit mehr, was William Gibson, ein US-amerikanischer Science-Fiction-Autor, auf den Punkt bringt: „Wir leben in einer Informationsgesellschaft. Das lernt man schon in der Schule. Was man dabei nicht lernt, ist, dass man dabei auf Schritt und Tritt Spuren hinterlässt, immer und überall, winzige Bruchstücke, scheinbar bedeutungslose Datensplitter, die wieder aufgefunden und neu zusammengesetzt werden können.“ *

Immer schneller, immer weiter, immer mehr – was ist das richtige Maß?

Unsere Welt gestaltet sich durch rapiden Wissenszuwachs zunehmend komplexer. Umso wichtiger ist es, sich ihr anzupassen, um sie zu verstehen. Sowohl im Berufsleben als auch bei der privaten Nutzung ist es von Bedeutung, sich den Möglichkeiten des Internets zu öffnen und den entsprechend richtigen Umgang mit Informationen zu erlernen. Jedoch sollte man sich trauen selbst zu denken, Inhalte kritisch zu hinterfragen und nicht alles sofort glauben, was im Internet und über andere Medien vermittelt wird.

Wie schnell unsere Welt noch werden kann, ist nicht abzusehen. Oben noch als Empfehlung formuliert, stellt sich am Ende durchaus die philosophische Gegenfrage, ob der technologische und gesellschaftliche Wandel neben Anpassung auch Raum für etwas Abstand lässt? Wir definieren einen unzureichenden Wissensstand bei uns selbst als Auslöser für die Suche nach Information. Doch was genau bedeutet unzureichend für uns im digitalen Zeitalter? Wir haben rund um die Uhr die Möglichkeit Suchmaschinen zu befragen, aber sollten wir uns deshalb bei jeder noch so kleinen Wissenslücke „unnormal“ fühlen?

 

Foto: flickr.com/Ewa Rozkosz (CC BY-SA 2.0)


*Dieses Thema wird in anderen Teilen der Artikelreihe genauer beleuchtet, weshalb es hier nur der Vollständigkeit halber angedeutet ist.

Die Gedanken sind frei?!

Von Miriam Lenz

„Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten, sie fliehen vorbei wie nächtliche Schatten. Kein Mensch kann sie wissen, kein Jäger erschießen, es bleibet dabei: die Gedanken sind frei.“ Seit jeher ist diese Aussage, die in einem deutschen Volkslied getroffen wird, wahr. In der menschlichen Geschichte veränderten zwar Kriege die Landkarte und Kulturen und Religionen setzten sich zu Ungunsten anderer durch, doch niemals wurde etwas anderes als äußere Grenzen angegriffen. Die Grenze, nämlich die zu unseren Gedanken, vor der wir dank der Technik heute stehen, ist eine ganz andere als alle, die wir davor verschoben oder zerstört haben. Fällt diese Grenze, verändert sich alles.

Gedankenlesen mittels Gehirn-Computer-Schnittstellen

Mit Gehirn-Computer-Schnittstellen oder brain-computer-interfaces wird Gedankenlesen möglich. Es handelt sich um eine mit technischen Mitteln hergestellte direkte Interaktion zwischen Gehirn und Maschine. Hierbei werden Hirnaktivität und Hirnströme einer Person mittels EEG beobachtet und analysiert. Grob gesagt: Weiß man einmal, wie das Muster für den Befehl, den Arm zu heben, aussieht, erkennt man ihn immer wieder. Für einen reibungslosen Ablauf muss der Computer einerseits lernen, die individuellen Muster der interagierenden Person zu erkennen, und die Person muss andererseits lernen, den Computer zu steuern. Jede Schnittstelle passt somit genau zu einer Person. Bisher werden Gehirn-Computer-Schnittstellen vor allem in der Medizin eingesetzt, sollen bald aber auch in Computerspielen Anwendung finden und auf immer mehr Bereiche unseres Lebens ausgeweitet werden.

Wie genau es Gehirn-Computer-Schnittstellen möglich machen, mit Gedankenkraft etwas nicht Körpereigenes zu bewegen, zeigt das Video der Max-Planck-Gesellschaft auf anschauliche und verständliche Weise:

Das Video verdeutlicht, dass ein Gehirn unglaublich viele Rechenoperationen gleichzeitig ausführt. Deshalb konzentrieren sich die Forscher stets nur auf einen Hirnbereich, wenn sie nach Mustern in den Hirnströmen suchen. Zum Beispiel auf den, der für die Ausführung von Bewegung zuständig ist. Dort wiederum separiert man die Signale, die etwa für die Beinbewegung zuständig sind. So wird es möglich, dass Personen, die einen Schlaganfall hatten, nur durch einen Gedanken eine Beinprothese bewegen. Sind allerdings die Neuronen im motorischen Cortex beschädigt, wie das bei Locked-in-Patienten der Fall ist, sind die Signale für den Computer zu schwach. In solchen Fällen kann man den Computer darauf trainieren, statt Bewegungsimpulsen Emotionen als solche zu deuten. Stellt sich der Patient dann Freude vor, kann das der gespeicherte Befehl für das Heben des Beines sein.

Dem direkten Gedankenlesen kommt das Brain-to-Text-Verfahren noch näher. Hier können aus Gehirnströmen mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit Wörter und Sätze rekonstruiert werden. Hierfür wird ein Elektrodennetz direkt auf die Großhirnrinde einer Person gelegt, während diese spricht. Anhand der gewonnenen Daten und des Wissens, was gesagt wurde, wird ein Spracherkennungs-Algorithmus auf die Signale trainiert. Auch von diesem Prozedere könnten Locked-in-Patienten profitieren und wieder eine Möglichkeit bekommen, zu kommunizieren. Bisher ist die Datenbasis allerdings noch zu gering. Dafür ist ganz anderes bereits möglich. So gelang es Forschern, den Bewegungsimpuls einer Person aufzufangen und mittels Internet auf eine andere Person zu übertragen, die diesen dann ausführte.

Ein schmaler Grat zwischen Nutzen und Gefahr

Die Gedanken sind frei 2So faszinierend und hilfreich diese Erkenntnisse auch sind, sie sind auch beängstigend. Wenn das Gedachte über das Internet übertragen wird, kann es theoretisch jedem zugänglich und nur schwer aus dem Netz zu entfernen sein. Auch wird schon darüber nachgedacht, Gehirn-Computer-Schnittstellen in militärischen Einsätzen zu verwenden. So könnte ein nicht fachkundiger Soldat aus dem Hintergrund von einem Fachmann gesteuert werden. Ebenso könnten Gehirn-Computer-Schnittstellen in Verhören eingesetzt werden, wie das schon auf freiwilliger Basis mit Lügendetektoren gemacht wird. Gelangt die Technologie allerdings in falsche Hände, könnte sie auch dafür eingesetzt werden, Gefangenen Geheimnisse zu entreißen. Und auch die Wirtschaft wird ein großes Interesse an den Gedanken und Kaufpräferenzen ihrer Kunden haben. Es wird daher Regelungen brauchen, die wenn die Technik einmal so weit ist, festlegen, was gemacht werden darf und was nicht. Allerdings schützen auch Gesetze nicht vor Missbrauch. Zudem muss man sich bewusst machen, dass es nicht immer ein EEG oder Elektrodennetz auf der Großhirnrinde braucht, um zu erraten, was wir denken. So sagte bereits der Vorstandsvorsitzende von Google, Eric Schmidt: „Wir wissen, wo du bist. Wir wissen, wo du warst. Wir können mehr oder weniger wissen, was du gerade denkst.“ Denn Google hat ein globales Netzmonopol, speichert und analysiert unsere Daten, kann unsere E-Mails mitlesen und weiß anhand unserer Suchanfragen, was uns interessiert. So groß ist da der Unterschied zum direkten Gedankenlesen mittels EEG gar nicht mehr.

Noch gibt es keine universale Gedankenlesmaschine. Die Datenbasis ist zu gering, die Hirnströme und die daraus abgeleiteten Muster von Menschen zu unterschiedlich und sogar die Muster einer einzelnen Person können sich im Laufe ihres Lebens ändern. Auch ist es noch nicht möglich, komplexe Gedankengänge zu erkennen. Die Wissenschaft ist sich daher einig, dass niemandem gegen seinen Willen Gedanken entrissen werden können. Allerdings glaubte man auch noch bis vor Kurzem, die Gedanken seien frei.

Fotos: flickr.com/Ars Electronica (CC BY-NC-ND 2.0), flickr.com/Derek Bruff (CC BY-NC 2.0)

Eine Frage der Macht

Von Miriam Lenz

Sagt Ihnen „Cold Turkey“ etwas? Damit ist allgemein ein Entzug gemeint, richtig. Aber es ist auch ein Computerprogramm, das für eine vom Nutzer bestimmte Zeit ausgewählte Internetseiten auf dem eigenen Rechner blockt, sozusagen den Entzug einleitet. Das Programm wird von Menschen benutzt, die es nicht mehr aus eigener Kraft schaffen, nicht im Internet zu surfen. Dieses Gefühl kennen immer mehr Menschen, denn erhöhter Medienkonsum kann suchtartige Symptome erzeugen. Doch lässt das bereits den Schluss zu, dass viele von uns von Medien abhängig sind und uns diese dominieren?

Vollkommene Selbstbestimmtheit ist unmöglich. Das sagt der amerikanische Medientheoretiker Harold A. Innis. Er glaubt, dass die aktuell dominanten Medien stets die Gesellschaft prägen. So haben wir beispielsweise einen Großteil unseres Lebens, wie etwa unser Kommunikationsverhalten oder unsere Jobs, an die Arbeit mit dem Computer angepasst. Ebenso ist es für uns normal geworden, immer weniger Wissen im Kopf zu behalten, weil wir uns daran gewöhnt haben, dieses mit einem Mausklick online abrufen zu können. Aktuell fühlen sich aber viele schon so sehr verändert und fremdbestimmt, dass sie wie etwa mithilfe von „Cold Turkey“ versuchen, sich aktiv der Macht eines Mediums zu entziehen.

Dass wir jetzt überhaupt gegensteuern müssen, liegt laut dem Medienwissenschaftler Neil Postman daran, dass wir nur zu Beginn der Nutzung eines Mediums dieses kontrollieren können. Ist es erst einmal Teil unseres Alltags, wird es immer schwieriger, das Medium unabhängig zu betrachten. Mit den Worten von McLuhan stehen wir dann unter einem unsichtbaren, aber dominanten Regime der Medien. Ein gewisse Skepsis sollte daher allen Medien gegenüber bestehen bleiben, denn Medien, das wussten schon der französische Soziologe Michel Foucault und sein Landsmann Jean-Louis Baudry, wirken vor allem unterbewusst, wodurch es leicht passieren kann, dass der Nutzer unter ein Diktat gestellt wird. Unsere Unmündigkeit wird aktuell vor allem dann sichtbar, wenn es um den Verkauf unserer im Internet erzeugten Daten an die Wirtschaft geht. „So eine Unverschämtheit!“, sagen wir empört, aber unsere Accounts bei den betreffenden Unternehmen löschen, das wäre dann doch auch zu schade.

Mit Prothesen zur Göttlichkeit

Mit all seinen technischen Hilfsmitteln und Prothesen will der Mensch seine eigene Begrenztheit, wie etwa nicht an verschiedenen Orten gleichzeitig sein zu können, überschreiten, da sind sich Ernst Kapp, Marshall McLuhan, Arnold Gehlen und Sigmund Freud einig. Dagegen ist grundsätzlich auch nichts einzuwenden, doch hat der Mensch sich schon allzu sehr an seine Prothesen und die Nutzung der Medien gewöhnt. Auflehnungsversuche wie „Cold Turkey“, „Managerurlaub im Funkloch“ oder „Handy-Fasten“ fallen hierbei nicht wirklich ins Gewicht. Es ist so gut wie nicht möglich, aus unserer Medienkultur auszusteigen, da sonst die aktive Teilnahme am gesellschaftlichen Diskurs gefährdet ist, so Hans Magnus Enzensberger.

Muss man Horkheimer und Adorno also recht geben, die den Menschen als Glied in einer Produktionskette sahen, der durch immer neue technische Möglichkeiten darüber hinweggetäuscht wird, dass nie wirklich Neues angeboten wird? Wird der Mensch tatsächlich von Medien produziert, von der Technik beherrscht, und legen technische Standards fest, was Menschsein bedeutet, wie Friedrich A. Kittler glaubte?

Ohne den Menschen geht es nicht

Medien können abhängig machen, manipulieren und beeinflussen. Deshalb muss man den Menschen aber noch lange nicht als wehrlosen Rezipienten sehen, der den Anschluss an die Außenwelt verliert, wenn er sich nicht durch die Medien up to date hält.

Es liegt bei uns, wie viel Macht wir den Medien zugestehen und wie abhängig wir uns von ihnen machen. So können wir uns beispielsweise bemühen, bewusst wahrzunehmen. Dadurch haben wir Zeit, alles zu verarbeiten, einzuordnen und zu hinterfragen, und werden nicht an die von Walter Benjamin beschriebene Reizflut gewöhnt. Wir sollten uns zudem, wie der tschechoslowakische Medienphilosoph Vilém Flusser rät, informieren und mündig werden. So verhindern wir, dass wir im Chaos untergehen, das droht, wenn wir ständig von Wissen umgeben sind. Und wir können darüber hinaus unsere Kultur aktiv mitproduzieren, indem wir uns nicht immer konform, und so wie die Medienproduzenten es intendieren, verhalten, erklären Michel de Certeau und die Vertreter der Cultural Studies.

Nehmen wir uns doch die Begrüßungsworte „Cold Turkeys“ zu Herzen, die bei Programmstart erscheinen: „Admitting it is the first step.“ Sind wir uns also der Gefahr einer Abhängigkeit von den Medien bewusst und beobachten uns selbst und unseren Medienkonsum kontinuierlich, sinkt die Gefahr, unter einem medialen Diktat zu stehen, erheblich. Wir müssen uns bewusst machen, dass es nicht DIE Medien sind, die an allem schuld sind, sondern dass es auch wir sind, die unseren Teil dazu beitragen, wie sehr die Medien uns beeinflussen können.

Foto: flickr.com/Gongashan (CC BY-NC-ND 2.0)

„Ein Freund, ein guter Freund…“?

Von Anita Mäck

Permanente Erreichbarkeit durch Online-Kommunikation kann Segen und Fluch zugleich sein. Einerseits besteht die Möglichkeit, wichtige Dinge unmittelbar zu teilen und zeit- und ortsunabhängig zu besprechen. Andererseits kann einen die Informationsflut in sämtlichen Kanälen schlichtweg überfordern. Der Bedarf nach Vernetzung ist hoch und stellt gleichzeitig eine Belastung dar, da er auch etwas mit Druck und Erwartung zu tun hat. Wie beeinflusst ständige Verfügbarkeit Freundschaften? Werden sie intensiver, da man häufiger und schneller in Kontakt treten kann? Oder entfernen sich Freunde voneinander, weil sie lieber chatten während sie parallel andere Dinge erledigen, anstatt sich Zeit für persönlichen Kontakt zu nehmen? Dieser Artikel gibt einen Einblick, inwiefern sich Freundschaften in der digitalen Welt verändern.

ein Freund ein guter Freund2

Das Chatprotokoll ist ein Beispiel von Kommunikation unter Freunden, wie wir sie heute oftmals zwischen Tür und Angel über das Smartphone pflegen. Ob es um spontane Verabredungen, um banale oder wichtige Informationen geht, Online-Kommunikation ermöglicht uns permanenten Austausch. Sherry Turkle, eine US-amerikanische Soziologin und Professorin für Science, Technology and Society am Massachusetts Institute of Technology, nutzte diese Unterhaltung in ihrem Vortrag:

Sie spricht über eine Auswirkung von Online-Kommunikation, die sie den „Goldilocks effect“ nennt. In der Psychologie spricht man von diesem Effekt, wenn sich z.B. Kinder bevorzugt Aufgaben widmen, die ihrem Entwicklungsstand entsprechen und sie weder über- noch unterfordern. Übertragen auf Online-Kommunikation haben wir die alleinige Kontrolle darüber, wem wir wann und mit welcher Ausführlichkeit antworten. Wir steuern, wie nah wir andere an uns heranlassen und mit welcher Intensität wir Kontakt halten. Durch verzögerte Rückmeldung entkoppeln wir beispielsweise den natürlichen Prozess zwischen Sender und Empfänger, der uns im face-to-face-Gespräch durch eine Reaktion Aufschluss über unseren Gesprächspartner gibt. Turkle betont daher, dass Online-Kommunikation nicht dazu führen könne, einen Menschen tiefgründiger kennenzulernen.

Bedeutet vereinfachte Kommunikation gleich vereinfachte Freundschaft?

Kai Erik Trost, akademischer Mitarbeiter an der Hochschule der Medien mit dem Spezialgebiet Medien- und Sozialforschung, hat sich ebenfalls mit der Auswirkung von Online-Kommunikation auf Freundschaften befasst. Die oben erwähnte Chat-Unterhaltung entspricht dem, was Trost Vereinfachungslogik nennt. In sozialen Netzwerken sei es Jugendlichen wichtig, informativ und ökonomisch zu kommunizieren. Dem gegenüber stehe die moralische Interpretation von Freundschaft in der Lebenswelt, also sich zu treffen, sich zu umarmen, real füreinander da zu sein. Gerade wenn wir reduziert kommunizieren, ohne die Mimik und Gestik des Gegenübers zu erleben, erhöht sich das Risiko eines Missverständnisses – auch unter Freunden.

Trost fragt sich, ob dadurch ein neues Paradigma von Freundschaft entstehe und kommt zu dem Schluss, dass dies nicht der Fall sei. Soziale Netzwerke stellen lediglich einen ergänzenden Weg der Beziehungspflege dar. Verändert habe sich Freundschaft dennoch: Durch die ständige Verfügbarkeit entstehen eine Omnipräsenz und eine erhöhte Kontaktgeschwindigkeit. Freundschaftliche Beziehungen durchdringen unseren Alltag daher zunehmend. Es ist inzwischen einfach geworden, innerhalb weniger Augenblicke ein Gruppengeschenk von zehn Leuten für einen gemeinsamen Freund zum Geburtstag zu organisieren. Freundinnen schicken sich gegenseitig Fotos von Outfits und binden sich so in eine Alltagsentscheidung ein, die innerhalb kurzer Zeit gefällt werden sollte. All das erfordert jedoch, dass wir immer auf Sendung sind.

Immer schneller, immer weiter – auch als Freunde?

Unser Alltag in der digitalen Welt wird zunehmend schnelllebiger. Im Job wird ein hohes Maß an Mobilität und Flexibilität von uns verlangt. Da können Freundschaften schon mal auf der Strecke bleiben. Der Spagat zwischen den genannten Vor- und Nachteilen von Online-Kommunikation und permanenter Erreichbarkeit beinhaltet viele Facetten. Sie alle einmal auf die Seite gestellt, bedeutet intensives Chatverhalten doch auch, dass uns Beziehungspflege im Alltag wichtig ist. Wir teilen Erlebnisse, Vorlieben, Werte, und Ziele durch die virtuelle Simulation gemeinsamer Aktivitäten. Doch genau dann, wenn uns mal wieder alles zu viel und zu schnell wird, schadet es nicht, einmal innezuhalten und zu reflektieren, wie wir unsere Freundschaften gestalten möchten. Denn: „Ein Freund, ein guter Freund, das ist das Beste, was es gibt auf der Welt.“

Foto: flickr.com/kodachrome65 (CC BY-NC-ND 2.0)

Das Identitätsdilemma im digitalen Zeitalter

Von Valerie Heck

Nur noch sehr wenige Menschen sind nicht in mindestens einem sozialen Netzwerk wie Facebook, Instagram oder Twitter angemeldet. Es wird neben der realen eine virtuelle Welt geschaffen, in der der Mensch die Möglichkeit bekommt, sich so zu präsentieren, wie er sein möchte. Doch was bedeutet dies für die eigene Identität? Gibt es noch das eine Ich, wenn im Internet eine Vielzahl virtueller Identitäten aufgebaut werden können?

Ich – Das können viele sein

Daniela Schneider ist Aktionistin für Veganismus, die regelmäßig Beiträge und Artikel zu diesem Thema auf ihrer Facebook-Seite postet. Bei Instagram heißt sie „danispics“, ist Hobbyfotografin und veröffentlicht die schönsten Schnappschüsse aus Alltag und Urlaub. Und bei Tinder ist sie „Daniela“, die gerne kocht und sportlich ist, um mit diesen Eigenschaften die Männer in der Umgebung zu beeindrucken. Es sind drei Namen und drei Identitäten, doch eigentlich steckt nur eine Frau dahinter.

Was im realen Leben nicht denkbar ist, wird in der virtuellen Welt Wirklichkeit, denn das Internet und soziale Netzwerke ermöglichen es, in viele verschiedene Rollen zu schlüpfen oder bestimmte Facetten der Persönlichkeit in den Vordergrund zu stellen. Man spricht von „virtuellen Identitäten“ und meint damit die Art und Weise, wie Menschen sich selbst in der computervermittelten Kommunikation präsentieren. Gründe für den Aufbau von virtuellen Identitäten gibt es viele.

Zum einen geht es darum, bestimmte Eigenschaften zu betonen, um mehr Akzeptanz im virtuellen Umfeld zu erlangen. Wie Daniela, die bei Facebook ihre vegane Lebensart betont, weil viele Freunde Veganer sind. Bei Instagram stellt sie ihre aktive Seite mit Fotos von Reisen und Ausflügen in den Mittelpunkt. Bei Tinder hebt sie Eigenschaften hervor, die bei Männern gut ankommen könnten. In diesem Fall sind die Grenzen zwischen den Identitäten fließend. Zum anderen ist es durch die Anonymität in Chatrooms möglich, seine wirkliche Identität vollkommen zu verbergen und eine Tarnidentität aufzubauen. Die Person macht sich dünner, erfolgreicher oder attraktiver, um befreit von Vorurteilen und sozialem Druck ernst genommen zu werden. In diesem Fall spricht man von „Selbstmaskierung“: Es wird eine virtuelle Identität konstruiert, die sich stark von der Realität unterscheidet, um etwas ausleben zu können, was im realen Leben nicht möglich ist.

Eine selbstidealisierende Maskerade

Identität

In sozialen Medien wie Facebook oder Instagram ist das virtuelle Ich aber nicht länger eine Maske, sondern eng mit dem Offline-Leben verwoben. Die Alltagswelt wird auf den Plattformen geprägt, wo größtenteils Freunde, Familienmitglieder und Kollegen aus der realen Welt durch Fotos, Videos und Kommentare einen Einblick in das eigene Leben bekommen. Das heißt allerdings nicht, dass die „Freunde“ oder „Follower“ in sozialen Netzwerken die eine „echte“ Identität präsentiert bekommen. Die präsentierte Person hat vielleicht Ähnlichkeit mit der Person in der realen Welt, aber heute ist nichts einfacher als sein Selbstbild im Netz mitzubestimmen oder zu idealisieren. Es geht dabei nicht darum zu zeigen, wer ich bin, sondern um die Frage „Wer könnte ich sein?“. Das Selfie wurde in den letzten zwei Jahren zur vorherrschenden Ausdrucksform dieses idealisierten Ichs, denn darin wird das reale Leben häufig wie auf einer Bühne inszeniert. Wer postet schon ein Foto, auf dem er traurig und alleine auf dem Sofa sitzt? Man zeigt sich in Situationen, in denen man etwas Positives aus dem eigenen Leben mitteilen möchte: „Ich habe etwas Leckeres gekocht“ oder „Ich habe eine wunderschöne Zeit im Urlaub“. Der Trend liegt darin, den eigenen Alltag zu überhöhen und so wird im Internet ein „besseres Ich“ bzw. eine idealisierte Identität geschaffen, die sich aus Status Updates, Fotos und Tweets zusammensetzt.

Insbesondere Kevin Systroms Plattform Instagram, bei der Fotos mit schmeichelnden Filtern verschönert und dann hochgeladen werden können, ist zum Sinnbild der öffentlichen positiven Selbstdarstellung geworden. Instagram liefert nämlich kein gnadenlos ehrliches Bild, sondern schmeichelhafte Bilder, die, laut Alex Williams von der NY Times jeden „ein bisschen jünger, hübscher und Cover-würdiger aussehen“ lassen. Nutzer präsentieren sich und ihr Leben „im Layout eines Hochglanzmagazins“. Leute, die durch das Instagram Profil scrollen, sollen wollen, was du hast. Beeindrucken und Selbstreklame ist hierbei vor allen Dingen bei jungen Leuten das Motto, egal wie die Realität dahinter aussieht.

Virtuelle Anerkennung als Existenzbeweis

Identität2

Ist der Urlaub eigentlich wirklich passiert, wenn ich kein Foto vom Strand auf meiner Instagram-Seite veröffentlicht und dazu Feedback in Form von Likes und Kommentaren bekommen habe? Hinter den Fotos, Kommentaren und Videos in sozialen Netzwerken steckt der Wunsch nach Aufmerksamkeit und Anerkennung, der eng mit der Identitätsfrage verwoben ist. Zugehörigkeit und soziale Akzeptanz sind im Kollektiv wichtig: Nur wenn ich von meinem sozialen Umfeld akzeptiert werde, bilde ich eine Identität.

Der Alltag wird immer mehr vom Nachrichtenstrom in den sozialen Netzwerken bestimmt. Mit Tweets und Instagram-Fotos wird das eigene Dasein bewiesen, denn wer nicht postet, hört auf, zu existieren. Jürgen Fritz, Professor am Institut für Medienforschung und Medienpädagogik in Köln, schreibt, dass Aufmerksamkeit die Essenz sei, die die virtuelle Welt mit Leben füllt und die Interaktionen ermöglicht. Über Posten wird eine eigene Relevanz geschaffen.

Mit dieser Erkenntnis wird die am Anfang gestellte Frage, ob es überhaupt noch das eine Ich gibt, wenn im Internet eine Vielzahl virtueller Identitäten aufgebaut werden, fast hinfällig. Wer ich bin wird durch das virtuelle Umfeld bestimmt und damit stellt sich die Frage: Gibt es überhaupt noch eine Identität außerhalb der virtuellen Welt?

Fotos: flickr.com/Zlatko Vickovic (CC BY 2.0), flickr.com/Kroejsanka Mediteranka (CC BY-NC-ND 2.0)

Update completed: Sie sind jetzt vollständig vernetzt

Von Valerie Heck, Miriam Lenz und Anita Mäck

Vollständige Vernetzung, permanentes Einspeisen von Daten und selbstständig miteinander kommunizierende Maschinen – das ist längst kein Zukunftsentwurf mehr. Studenten organisieren den Unialltag über Facebook und WhatsApp. Frischgebackene Mütter tauschen sich in Blogs über Erziehungstipps aus. Familien überprüfen im Urlaub über ein Tablet, ob zu Hause die Tür verschlossen ist. Locked-in-Patienten kommunizieren mit Hilfe von Computern. Sportbegeisterte bekommen immer wieder Werbung für Sneakers, für die sie sich zuvor interessiert hatten. Gesundheitsbewusste überprüfen mit Pulsarmbändern ihre Aktivität.

Es sind alltägliche Kommunikationsmittel und Anwendungen, die zusammenhangslos scheinen, aber zur vollständigen Vernetzung und Profilerstellung führen. Die folgende Artikelreihe beschäftigt sich deshalb damit, was mit uns passiert, wenn wir zunehmend online unterwegs sind, unsere Daten preisgeben und uns auf Maschinen verlassen. Es stellen sich politische und ethische Fragen, wie z. B. wie viel Macht wir Maschinen zugestehen, wie sehr wir uns noch auf unsere eigenen Fähigkeiten verlassen, wie sehr wir zum gläsernen, manipulierbaren Bürger werden und wie sich die Definition von Privatsphäre verändert.

In den kommenden neun Tagen wird täglich ein Artikel veröffentlicht, der eine oder mehrere dieser Fragen behandelt. Das sind die Titel:

  1. Das Identitätsdilemma im digitalen Zeitalter
  2. „Ein Freund, ein guter Freund…“?
  3. Eine Frage der Macht
  4. Die Gedanken sind frei?!
  5. Scrollst du noch oder weißt du’s schon?
  6. Das Streben nach Perfektion
  7. Der errechnete Mensch
  8. Smart Home: Vernetztes Wohnen heute und in Zukunft
  9. Silicon Valley: Die Tech-Elite unter sich

Foto: flickr.com/Sacha Fernandez (CC BY-NC-ND 2.0)

Gewalt als Attraktion

Von Philipp Mang

Gewaltdarstellungen besitzen in unserer Gesellschaft eine lange Tradition: So erzählten sich zum Beispiel bereits die ersten Menschen am Lagerfeuer Horrorgeschichten. Und auch die Höhlenmalereien der Steinzeit beschäftigten sich intensiv mit den grausamen Details der Jagd. Erst mit den technischen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts erreichte die mediale Gewalt jedoch ein neues Niveau. Heute existieren ganze Filmgenres, die für ihre schonungslose Brutalität berüchtigt sind (z.B. der Horror- oder Actionfilm). Jeden Sonntag sitzen Millionen von Deutschen vor dem Fernseher, um zuzusehen wie ein Ermittlerteam der Tatort-Reihe ein neues Gewaltverbrechen aufklärt. Und Ego-Shooter, die Jugendliche in die Rolle eines virtuellen Auftragkillers schlüpfen lassen, erklimmen immer häufiger die Spitzenplätze der Verkaufscharts. Mediale Gewalt, so scheint es, ist in der heutigen Zeit fast omnipräsent.

Warum Brutalität fasziniert

Wie ist diese eigenartige Faszination aber zu erklären? Zunächst einmal ist festzuhalten, dass es sich bei Gewalt um ein äußerst komplexes Konstrukt handelt, das je nach Kontext und den beteiligten Akteuren oft gänzlich unterschiedlich bewertet wird. Nichtsdestotrotz lässt sich ein unveränderlicher Bedeutungskern ausmachen: So bezeichnet der Begriff die physische oder psychische Schädigung eines anderen Menschen. Im Rahmen der Mediengewaltforschung wurde dieses Phänomen in den letzten Jahren intensiv erforscht. Den Wissenschaftlern ist es dabei gelungen, unterschiedliche Motive für die Nutzung gewalthaltiger Inhalte zu identifizieren. So spielt in diesem Zusammenhang etwa die Zu- bzw. Abneigung zu bestimmten Charakteren (affektive Disposition) eine große Rolle. Wird z.B. ein Bösewicht am Ende eines Films bestraft, empfindet dies der Zuschauer häufig als Genugtuung. Überdies sind jedoch auch Phänomene wie das so genannte „Sensation-Seeking“ oder „Eskapismus“ für die Popularität von Gewalt verantwortlich. Nicht zu verachten ist außerdem ein Motiv, das der Medientheoretiker Lothar Mikos als „Angstlust“ bezeichnet – wonach es ein Rezipient genießt, sich aus einem sicheren Kontext (wie z.B. der heimischen Couch oder dem Kinosessel) heraus, lustvoll seiner Furcht hinzugeben.

Mensch & Zombie im Blutrausch

Casey Florig 2In The Walking Dead wird dem Zuschauer hierfür reichlich Gelegenheit geboten. Dafür sorgen nicht nur unzählige Kopfschüsse, sondern auch aufgeschlitzte Torsos und Unmengen Blut. Gewalt gehört praktisch von der ersten Minute an zum Standardrepertoire der Serie. Überraschend wenig Raum wird dabei jedoch der zwischenmenschlichen Brutalität gewidmet. Diese kommt nur vereinzelt zum Vorschein – etwa wenn der Governor mit einer Armee im Rücken ein ganzes Gefängnis in Schutt und Asche verwandelt. Oder Merle zu mittelalterlichen Foltermethoden greift, um an Informationen zu gelangen. Deutlich mehr Screentime kann stattdessen die Gewalt zwischen Mensch und Zombie für sich verbuchen. Nicht selten ist zu sehen, wie ein Untoter seinem Opfer bei lebendigem Leib das Fleisch von den Knochen reißt. Umgekehrt erweisen sich aber auch die Menschen als wenig zimperlich – z.B. wenn sie den Schädel eines Zombies regelrecht zu Brei schlagen.

Inszenierung der Gewalt

Bei der filmischen Umsetzung solcher Szenen bedient sich die Serie einer drastischen Strategie. So werden brutale Handlungen oft in detaillierten Nahaufnahmen ohne Zwischenschnitte gezeigt. Diese Montage-Technik verleiht dem Setting zusätzliche Glaubhaftigkeit: In einer postapokalyptischen Welt ist Gewalt für das eigene Überleben nun einmal unabdingbar. Darüber hinaus setzt The Walking Dead in ästhetischer Hinsicht vor allem auf spritzendes Blut – d.h. auf eine Reihe klassischer Splatter-Effekte (von englisch „to splat“ = spritzen). Der dargestellten Gewalt sind dabei visuell nahezu keine Grenzen gesetzt: Sie reicht von abgetrennten Gliedmaßen bis hin zu herausquellenden Innereien und lässt sich häufig nur durch komplizierte CGI-Effekte realisieren. Hinzu kommt, dass die Kampfszenen lediglich in Ausnahmefällen von bedrohlicher Musik untermalt sind. Stattdessen setzten die Sound-Designer vor allem laute Geräusche ein, um den gewaltsamen Eindruck der Bilder zusätzlich zu verstärken.

Blutiger Höhepunkt

Auf die Spitze getrieben wird diese explizite Darstellung von Gewalt aber schließlich mit Beginn der fünften Staffel, als die Gruppe um Rick mit Terminus einen neuen Zufluchtsort erreicht. Spätestens hier ist für viele Zuschauer die Grenze des Zumutbaren erreicht. In der Eröffnungssequenz ist nämlich eine brutale Hinrichtung zu sehen. Die Gefangenen werden darin zuerst mit einem Baseballschläger ausgeknockt, ehe man ihnen die Kehle aufschlitzt und sie anschließend in einen Trog zum Ausbluten wirft. Auch für die deutschen TV-Wächter (FSF) war damit die „Grenze zur Sendeunzulässigkeit“ überschritten. Der Staffelauftakt wurde deshalb nur unter Schnittauflage zur Ausstrahlung freigegeben.

Macht The Walking Dead aggressiv?

In der Öffentlichkeit ist seitdem eine hitzige Diskussion darüber entbrannt, wie jugendgefährdend die Serie tatsächlich ist. Kritiker stören sich dabei vor allem an der Beiläufigkeit, mit der die einzelnen Gewaltakte regemäßig von statten gehen. Sie kritisieren, dass The Walking Dead seiner gesellschaftlichen Verantwortung als mediales Massenphänomen nicht gerecht werde und Gewalt nur unnötig zelebriere. Doch wie gerechtfertigt sind solche Vorwürfe? Haben die Splatterszenen wirklich eine aggressionsfördernde Wirkung auf Jugendliche? Auch dazu wurde in der Mediengewaltforschung in den letzten Jahren intensiv geforscht. Die Ergebnisse belegen jedoch, dass aggressives Verhalten nicht allein auf gewalthaltige Medieninhalte zurückzuführen ist. Stattdessen spielen in diesem Prozess zahlreiche intervenierende Einflussfaktoren (wie z.B. das soziale Umfeld, Persönlichkeitsmerkmale usw.) eine zentrale Rolle. Nicht jeder Fan der Gewalt in The Walking Dead ist damit automatisch ein potentieller Serienkiller.

 

Fotos: flickr.com/Casey Florig (CC BY 2.0), flickr.com/Casey Florig (CC BY 2.0)

Wenn die Welt untergeht

von Philipp Mang

Eine verlassene Straße irgendwo in den Vereinigten Staaten. Deputy Grimes steigt aus seinem Wagen, kramt einen alten Benzin-Kanister hervor und geht auf eine Tankstelle zu. Soweit erscheint noch alles normal in der Öffnungssequenz der TV-Serie The Walking Dead. Dann schwenkt die Kamera über zerstörte Autos, ein verwüstetes Camp sowie mehrere Leichen und der Zuschauer ahnt, dass in dieser Welt nichts mehr so ist, wie man es kennt. Als Rick kurz darauf von einem Zombie-Mädchen im Nachthemd angegriffen wird, ist dieser gezwungen die Kleine mit einem Kopfschuss hinzurichten. Spätestens jetzt hat jeder begriffen: Die Serie zeigt den harten Überlebenskampf in der Zombie-Apokalypse.

Ein Synonym für die Endzeit

Um zu verstehen, was es mit diesem Begriff überhaupt auf sich hat, sollte man sich zunächst mit seinen Wurzeln auseinanderzusetzen. So bedeutet das griechische Wort apokalypsis ursprünglich nichts anderes als Entschleierung oder Enthüllung. Es ist in seinem Kern damit neutral bis positiv besetzt. Mit Verwendung des Begriffs in der so genannten Offenbarung des Johannes erfuhr die Apokalypse jedoch eine negative Bedeutungsänderung. Hierbei handelt es sich um eine neutestamentarische Schrift, die von der finalen Schlacht zwischen Gut und Böse und schließlich dem Ende der Zeit erzählt. Heute ist der Begriff deshalb ein Synonym für den Weltuntergang und steht im übertragenen Sinne für Unheil und Grauen.

Die Lust an der Apokalypse

02 Waiting for the WordTrotz dieses biblischen Einflusses ist die Idee vom Weltuntergang aber noch einmal deutlich älter als das Christentum. So finden sich bereits in der Antike erste Überlieferungen von der drohenden Zeitenwende. Und auch die Gallier befürchteten, wie Fans der Asterix-Comics nur zu gut wissen, dass ihnen eines Tages der Himmel auf den Kopf fallen könne. Tatsächlich zieht sich die Faszination an der Apokalypse wie ein roter Faden durch die Geschichte der Menschheit. Selbst in der heutigen Zeit lässt uns die Thematik einfach nicht los: Zuletzt datierte der Maya-Kalender das Ende der Welt auf den 21. Dezember 2012 – und lag damit wie viele andere vermeintliche „Propheten“ vor ihm falsch.

Deshalb ist es keine Überraschung, dass auch die Unterhaltungsindustrie zunehmend Gefallen an der Apokalypse findet. So ist in den letzten Jahren beispielsweise eine Vielzahl dystopischer Romane entstanden, in denen sich zumeist jugendliche Charaktere in einem feindlichen Endzeit-Szenario beweisen müssen (Die Tribute von Panem, Die Bestimmung). Darüber hinaus wird das Thema Weltuntergang immer wieder auch von Hollywood aufgegriffen. In Katastrophenfilmen wie The Day after Tomorrow, 2012 oder World War Z muss sich die Menschheit dabei gegen unterschiedlichste Bedrohungen zur Wehr setzen (u.a. Naturkatastrophen, Kriege, Zombie-Seuchen usw.).

Das 9/11-Trauma und seine Folgen

Was sagt diese unverkennbare Lust an der Apokalypse nun über uns als Gesellschaft aus? Sind wir alle nur ängstliche Zukunftspessimisten, die still ihrem Verderben entgegensehen? Oder lässt sich Hollywoods Fixierung auf apokalyptische Stoffe möglicherweise durch die traumatische Geschichte des Landes erklären? Am 11. September 2001 blickte Amerika nämlich zuletzt dem Untergang ins Auge, als zwei entführte Passagierflugzeuge in die Zwillingstürme des World-Trade Centers in New York krachten und tausende Menschen in den Tod rissen. Knapp 15 Jahre später haben viele Amerikaner diesen Schicksalsschlag längst noch nicht überwunden. Ihre Angst vor der Zeitenwende verarbeiten sie deshalb aus sicherer Distanz, z.B. vor dem Bildschirm – mit Geschichten wie The Walking Dead.

Sicherheit als Utopie

01 Daniel SemperteguiWie eingangs bereits deutlich gemacht verliert das Zombie-Franchise keine Zeit bei der Etablierung des postapokalyptischen Settings. Das Leben des Protagonisten Rick und seiner Familie wird praktisch von der ersten Minute an bedroht – und das anfänglich vor allem durch die titelgebenden Walker. Der Tod stellt damit sowohl zentralen Antriebsmotor als auch Lebensmittelpunkt der Charaktere dar. Ständig ist man auf der Suche nach einem sicheren Zufluchtsort. Ein ums andere Mal entpuppt sich dauerhafter Schutz jedoch als trügerische Utopie. Deshalb sind Rick und seine Familie gezwungen, ein fast schon nomadenhaftes Leben zu führen – die Angst immer im Nacken, ohne festen Wohnsitz oder Erinnerungsstücke. Und als wäre das alles nicht schon schlimm genug, entwickeln sich die Menschen mit fortschreitender Handlung auch noch zur weitaus größeren Gefahr als die Untoten. Wann immer die Gruppe auf einen Fremden trifft, regiert das Misstrauen. Gemeinschaftsbildung wird in der Postapokalypse so zur Mammutaufgabe. Viele Charaktere sind diesem täglichen Überlebenskampf nicht gewachsen. Auch angesichts mangelhafter medizinischer Versorgung müssen sie bereits früh ihr Leben lassen. Ein friedliches Sterben findet dabei so gut wie nie statt. Alles in allem erweist sich die Welt in TWD somit als überaus lebensfeindlich.

„Wir sind die wandelnden Toten“

Da passt es, dass es Erfinder Kirkman laut eigener Aussage vor allem darum geht, zu zeigen, wie sich ein Mensch in einer solchen Welt verändert. Und tatsächlich lassen sich bei vielen Charakteren mit fortschreitender Handlung teils drastische Wesensänderungen beobachten. Am deutlichsten wird dies wohl bei Betrachtung des Protagonisten Rick Grimes: Dieser ist zu Beginn der Serie ein besonnener Polizist; ein liebender Vater, der an das Gute in den Menschen glaubt und stets versucht, Konflikte auf friedliche Art zu lösen. Die Apokalypse verwandelt den Deputy jedoch in einen lebenden Toten – in einen kaltblütigen Diktator, der über Leichen geht, um seine Familie zu schützen. Es sind vor allem realistische Charakterentwicklungen wie diese, die den Rezipienten Woche für Woche bei der Stange halten.

Fotos: flickr.com/Casey Florig (CC BY 2.0), flickr.com/Waiting For The Word (CC BY 2.0), flickr.com/Daniel Sempértegui (CC BY-NC-ND 2.0)