Can i haz ur clicks plees?

von Sebastian Luther

Memes haben den virtuellen Raum längst hinter sich gelassen und sich von ihrer Quelle emanzipiert. Was auf einem Imageboard begonnen hat, das ist zu einem eigenständigen Kommunikationsmittel geworden. Grund genug, sich dieser Internetphänomene anzunehmen.

/b/

Im Internet kann man den Glauben an die Menschheit verlieren. 4chan.org ist so ein Ort. Alles was undenkbar erscheint, findet sich auf 4chan.org/b/, dem Board der Webseite mit dem passenden Titel „random“ – willkürlich. Neben zirka 50 anderen Boards, in denen Bilder zu Animes, Mangas, Videospielen oder Fotografie gepostet werden, existiert /b/ – random als virtuelle Petrischale für gedankliche Lebensformen aller Couleur. Die Posts ergießen sich kaskadenartig über die Seiten des Boards, regenbogenfarbene oder verkrüppelte Auswüchse jeder Art – lediglich gebunden an die Gesetze des Hypertexts. /b/ – random ist gleichzeitig mit 350,000 von 450,000 Posts am Tag auch das am höchsten frequentierte aller Boards auf 4chan.org und hat  täglich zirka 180,000 Besucher. Es ist die sonderbare Ambivalenz dieser Auswüchse, die sie in einem schillerenden Licht erscheinen lässt. Jeder findet, was er finden will. Es beginnt bei schier unglaublichem, abgrundtiefen Rassismus, Faschismus oder Sexismus und geht über vergleichsweise harmlosen Katzen- und Ponybilder bis hin zu Postings, die auf konnotativer Ebene eine gänzlich neue Bedeutungsebene bekommen haben. Denn seitdem Christopher ‚moot‘ Poole die Seite im Oktober 2003 online stellte, hat sie hervorgebracht, was fast jedem Internetnutzer einmal begegnet und auf die mögliche Präsenz von Rick Astley hindeutet: Memes. Worin besteht allerdings die Verbindung zu einem US-amerikanischen Popstar der 90er?

Never gonna give you up

Dem virtuell gewordenen LSD Trip sind die ersten Memes Mitte des letzten Jahrzehnts entsprungen, so auch das „Rickrolling“. Auf der Seite knowyourmeme.com, einer Art Lexikon für Memes aller Art, wird dieses frühe Meme so beschrieben:

Rickrolling is a bait-and-switch practice that involves providing a web link supposedly relevant to the topic at hand, but actually re-directs the viewer to Rick Astley’s 1987 hit single ‚Never gonna give you up’“.

Neben Rickrolling zählt auch „Caturday“ zu einem der ältesten Memes. Gemäß der Tradition wurden Samstags auf /b/ – random LOLcats, Bilder von Katzen mit bestimmten Bildunterschriften, gepostet. Die Bezeichnung dieser Katzen wiederum entstammt dem Internet-Slang lolspeak, in der ein rudimentäres, absichtlich verfälschtes Englisch zum Einsatz kommt. Die Ursprünge von lolspeak lassen sich nur schwer zurückverfolgen, es ist jedoch in Teilen der Internetcommunity derart populär, dass seit 2007 ein Übersetzungsprojekt der Bibel läuft – in lolspeak. Angekommen in einer derartigen Tiefe des grotesken Kaninchenbaus ins Wunderland WWW stellen sich verschiedene Fragen, ohne deren Antwort es nicht weiter geht: Warum? Wozu? Und warum soll DAS ein Kommunikationsmittel sein? Was der ein oder andere mit ‚42‘ beantworten würde, lässt sich weiter verfolgen, schluckt man die rote Pille und folgt Alice weiter in die Tiefe. Aufbauend auf der Grundstruktur des Internets, dem Hypertext, lässt sich erklären, was hinter den Phänomenen steckt.

Hyper, hyper

Der Hypertext wurde 1963 von Ted Nelson geschaffen. Nelson beschrieb den Hypertext als ein elektronisch verknüpftes, multisequentielles Netzwerk von Texten. Sie ermöglicht eine interaktive Benutzung und mithilfe der Links einen Dialog zwischen ursprünglichen Texten und weiteren Kon-Texten. Ein Prozess, der sich ewig fortsetzt. So stellt etwa Rickrolling, ausgehend von einem augenscheinlichen Text, durch einen Link eine Verbindung zum Kontext, also dem Video, her.

Von allen Memes stellt Rickrolling durch den faktischen Link jedoch eine der offensichtlichsten Verbindungen dar. Ironischerweise angesichts der ganz und gar nicht offensichtlichen Manier, mit der Rickrolling den Link-Verfolger konfrontiert. Caturday, Xibits Yo Dawg, Pedobear, sowie die meisten anderen Memes, enthalten zwar ebenso eine textuelle und eine visuelle Referenz, die auf einen Kontext hindeuten. Dieser lässt sich allerdings weitaus schwerer finden. Ist es nämlich bei dem unerwarteten Antreffen von Rick Astley noch offensichtlich, dass man reingelegt wurde, geben textuelle und visuelle Referenz bei anderen Memes nicht zwangsläufig Aufschluss über deren Bedeutung.

Memologie

Ähnlich einer neuen Sprache oder einer neuen Form von Kommunikation, entstanden durch die Memes im Umfeld des Hypertextes neue Vehikel. Im kulturellen Schaffensprozess wurden Memes arbiträre Bedeutungen zugewiesen, die sich wie bei Symbolen nur durch Kenntnis eben jener Kultur erschließen, der sie entsprangen. So fasst die ursprünglich von Richard Dawkins erdachte Bedeutung von „Memes“ diese Gedanken zusammen: Memes sind Ideen, (Verhaltens-)Konzepte oder Glaubenssysteme, die sich in einer Kultur von Person zu Person verbreiten und, ähnlich den Genen, selbst replizieren, mutieren und auf äußeren Druck durch Anpassung reagieren. Internet-Memes sind Kommunikation, kondensiert, komprimiert und ambivalent. Und in der unabschließbaren Neuschreibung des Hypertexts durch neue Links und Kontexte, gleich dem ewigen Wuchern eines Wurzelgeflechts, sind Iteration und Reproduktion von Memes gleichsam unendlich. Eines der besten Beispiele ist die Seite 9gag.

 

 

Bilder: /b/ Copyrightinhaber anonym; Caturday. Copyrightinhaber anonym; Meme faces by deviantart.com, Nyrow (CC-BY-NC-ND 3.0)

Kultur im Netz – Ein Spannungsfeld: Wer hat Angst vorm Slender Man? Teil II

von Stefan Reuter

In Teil I des Artikels „Wer hat Angst vorm Slender Man?“ wurde aufgedeckt, wie aus einer simplen Fotomontage der unheimliche Star eines Alternate Reality Games mit dem Titel Marble Hornets wurde. Teil II hinterfragt, welche modernen Erzählmittel die Macher von Marble Hornets verwenden und verfolgt die mediale Karriere des Slender Man weiter.

Von Hexen, Zombies und dem Slender Man

Die Macher des Projekts Marble Hornets verbinden zwei filmische und serielle Erzählparadigmen des 21. Jahrhunderts. Mit Hilfe des Internets und minimalem Budget schaffen sie eine Erzählung, die sich vor ihren Vorbildern nicht zu verstecken braucht. Die verwendeten zwei Paradigmen sind: Found Footage, das Realität und Fiktionalität verschwimmen lässt, und und puzzlehaftes, mit Rätseln gespicktes Erzählen.

The Blair Witch Project von 1999 stellt den Durchbruch des sogenannten Found Footage-Filmes dar, in dem künstlerisch erschaffenes Filmmaterial als „echte Dokumentaraufnahmen“ behandelt werden. Eine Gruppe von Studenten will der Legende einer Hexe auf den Grund gehen, die angeblich in den Wäldern um Burkittsville, Maryland, ihr Unwesen treibt. Sie verschwinden spurlos, lediglich die Videoaufzeichnungen ihrer Suche werden gefunden. Diese liefern das Material für den Film. Ihr dokumentarischer Gestus und die unprofessionell wirkenden Bilder, aufgezeichnet mit einer Handkamera, machten The Blair Witch Project zu einem Kinoerfolg.

Die scheinbare Authentizität und die radikal subjektive Kameraführung sorgen für pure Gänsehaut. Die Ästhetik scheinbar echter Videos sorgt vor allem im Bereich des Horrofilms für etliche Nachahmer: Der bereits vierte Teil der Paranormal Activity-Reihe ist vergangene Woche in den deutschen Kinos gestartet. Überwachungskameras sollen Aufschluss über unerklärliche Ereignisse in einigen Häusern geben und deren Ursache ergründen. Im Laufe der Handlung nimmt der Spuk immer weiter zu und der Zuschauer verfolgt das scheinbar authentische Geschehen durch das Auge der Kamera.

Das Genre des Found Footage-Films ist inzwischen sehr vielfältig. In der spanischen Produktion REC von 2007, ihrer amerikanischer Neuverfilmung Quarantine und Diary of the Dead von George A. Romero, der 1968 mit The Night of the Living Dead den modernen Zombiefilm erfand, kommt der Zuschauer den wandelnden Toten dank Found Footage näher als im lieb sein kann. In Trollhunter werden skandinavische Trollerzählungen auf links gedreht und modernisiert. Währenddessen zeichnet in Cloverfield eine Handkamera gleich die Zerstörung New Yorks durch ein gigantisches ausserirdisches Monster auf.

Im Fall von Marble Hornets macht die Verwendung der narrativen Technik des Found Footage doppelten Sinn: Zum einen ist sie naturgemäß günstig zu produzieren und benötigt wenig Equipment. Die Macher Troy und Joseph mussten sich nur eine Story überlegen, einige Freunde als weitere Darsteller verpflichten. So konnten sie schnell die ein- bis zehnminütigen Einträge drehen, ohne zuvor großen Organisationsaufwand betreiben zu müssen. Zum anderen profitieren sie natürlich von der scheinbaren Authentizität und dem Wandeln zwischen Fiktion und Realität.

Messages everywhere, signs everywhere

Wie bereits erwähnt wirft die Erzählung von Marble Hornets unzählige Fragen auf: Was ist Filmemacher Alex wirklich zugestoßen? Wer ist User totheark? Was hat es mit dem Slender Man auf sich?

Ein weiteres Vorbild von Troy und Joseph könnte die Serie Lost von J. J. Abrams und Damon Lindelof sein. Sie gilt als Paradebeispiel einer modernen Form seriellen Erzählens. Lost ist ein Spiel mit Wahrnehmung, wirft Fragen auf und bietet verschiedene Lesearten für das puzzlehafte und fragmentarische Erzählen an. Die Geschichte der Überlebenden auf einer scheinbar einsamen Insel oszilliert dabei zwischen Abenteuergeschichte, Drama und philosophischer Parabel. Die Tübinger Medienwissenschaftlerin Susanne Marschall (siehe unten) erklärt worin der Reiz dieser Erzählform liegt und unterscheidet, in Anlehnung an Umberto Eco, zwei verschiedenene Kategorien des Zuschauers:

Die erste Kategorie genießt die Serie, weil sie hervorragend und mit großem Aufwand erzählt, besetzt und inszeniert ist. Der Modell-Leser der zweiten Kategorie schätzt die Vielschichtigkeit und spielt das Rätselspiel mit, weil es seinen Bildungsstand bestätigt. Was er nicht weiß, googelt er im globalen Gedächtnis des Internets und erlebt dabei manche Überraschung, unter anderem dass der Schauspieler Terry O’Quinn in puncto weltweiter Popularität zumindest unter den Internetnutzern dem Philosophen John Locke für eine Weile den Rang abgelaufen hat. […] Fortgeschrittene Mediennutzer stöbern die Episoden zusätzlich im Netz auf, genau in der Struktur, in der man sich als Lost-Fan bereitwillig verheddert. Dort schreiben sich Serien wie Lost und Heroes auf den Portalen Lostpedia und Heroespedia und in zahllosen Blogs fort und fort.

Auch Marble Hornets setzt auf aktive Zuschauer, die versuchen, sich zu vernetzen und so Verborgenes zu entdecken. Im Video Indicator des geheimnisvollen Users totheark verweisen zwei Satzfragmente auf diese tiefere Ebene: „Messages everywhere, signs everywhere“. Eine Aufforderung, diese Nachrichten und Zeichen zu suchen. Und tatsächlich: Im selben Video erscheint ein Binärcode, der übersetzt und rückwärts gelesen, bedeutet: HE LIES. Doch wer lügt? Alex‘ Freund Jay? Was ist die Lüge? Ähnlich wie Lost wirft Marble Hornets mit jeder Antwort neue Fragen auf.

Eine weitere Ähnlichkeit besteht darin, dass nicht strikt chronologisch erzählt wird. Jay arbeitet sich durch Alex‘ Material, stellt interessante Funde online und versucht sie zu kontextualisieren, um zu verstehen, was geschehen ist. Die Zuschauer folgen ihm dabei und tauchen so immer weiter in die Geschichte ein. Die besonders aktiven unter ihnen tauschen auf diversen Wikis verschiedene Hinweise, entschlüsselte Nachrichten und Theorien aus.

Slender Man transmedial

Marble Hornets war das Erste einer Reihe von Alternate Reality Games, die von Amateuren produziert wurden und sich irgendwie mit dem Slender Man beschäftigen. Ein weiteres ist EverymanHYBRID (EMH). Es startete 2010 und öffnete eine Metaebene, die den Hype um den Slender Man, der inzwischen fester Bestandteil einiger, vor allem amerikanischer, Online-Communities geworden war, reflektiert. Vor allem amerikanische Jugendliche nutzen die Figur, um Freunde und Geschwister zu erschrecken und diese Streiche online zu stellen, außerdem wurde der Slender Man selbst in Sketchen veralbert. EMH selbst beginnt als eine Art Online-Fitnessratgeber mit Videos auf YouTube, wobei in einigen der Slender Man im Hintergrund zu sehen ist. Dieser wurde von einem Freund der Videomacher gespielt, um auf den Hype aufzuspringen. Es handelt sich also um einen Gag innerhalb der Videos. Allerdings kommt es bald zu einem Twist: eine Gestalt taucht auf, die nicht von dem Freund gespielt wird. Aus den humoristischen Gesundheitsvideos entwickelt sich so ein Horrorthriller, der wie Marble Hornets mit Pseudoauthentizität spielt. EMH geht allerdings einen Schritt weiter, was die Erzählplattformen angeht. Beispielsweise gab es Liveaufzeichnungen von Streams, in denen Fans Fragen an die vermeintlichen Fitnessberater, also die Macher von EHM, stellen konnten und so selber Teil des ARG wurden. Eine der Protagonistinnen postete auf ihrem Blog ab und an Songs, die von den Usern auf mögliche Hinweise zur Geschichte analysiert wurden. Dieselbe Figur war zudem auf Twitter aktiv.

Der Slender Man selbst ist inzwischen, gepusht durch die ARGs und andere Fanbeiträge, zu einem transmedialen Phänomen geworden. Er ist der Star von Slender, einem Indie-Game, das kostenlos heruntergeladen werden kann. Der Spieler begibt sich, lediglich mit einer Taschenlampe ausgerüstet, in einem finsteren Wald und einem verlassenen Gebäude auf die Suche nach acht Notizen. Dabei ist ihm der Slender Man auf den Fersen. Jedes Mal, wenn der Spieler ihn erblickt und sich wegdreht, wird der Slender Man beim nächsten Zusammentreffen näher herankommen. Logischerweise heißt es GAME OVER, wenn der Slender Man die Spielfigur in die Finger bekommt.

Trotz, oder gerade wegen dieser einfachen Mittel ist Slender eine sehr gruselige Erfahrung, wie unzählige Videos von kreischenden Spielern beweisen. Einen weiteren Gastauftritt hat „Slendy“, wie er inzwischen liebevoll genannt wird, im Musikvideo „First Of The Year (Equinox)“ des Dubstepproduzenten Skrillex.

Auch einer Filmkarriere steht nicht mehr viel im Wege, auf der Crowdfunding-Plattform Kickstarter konnte ein entsprechendes Projekt sein Ziel von Zehntausend Dollar bereits erreichen. Die Popularität des Monsters nimmt immer weiter zu, weswegen das Augreifen des Mythos für eine professionelle Filmproduktion nicht vollkommen abwegig ist. Wer bis dahin auf dem Laufenden bleiben will, kann Slendy natürlich auf Facebook adden oder ihm auf Twitter folgen.

Fotos: flickr/Ella Patenall (CC BY 2.0), flickr/mdl70 (CC BY 2.0)

Quelle: Marschall, S. (2008). Semipermeable Welten. Automimetische Szenografien des Bewusstseins im fiktiven Film. In M. Bauer, F. Liptay & S. Marschall (Hrsg.), Kunst und Kognition (S. 27-55). München: Wilhelm Fink.

Internet und Meinungsfreiheit im Lichte der UN

von Pascal Thiel

Paris, Palais de Chaillot, am 10. Dezember 1948: Die Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet mit Resolution RES 217 A (III) die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (UDHR). In 30 Artikeln hatte eine Menschenrechtskommission um US-Präsidentenwitwe Eleanor Roosevelt zuvor ein Paket international konsensueller Menschenrechte formuliert. Im Laufe der Jahre durch einige Übereinkommen erweitert, gilt sie als Grundlage der UN-Menschenrechtsarbeit.

In Artikel 19 der Erklärung ist die freie Meinungsäußerung (= Meinungsfreiheit) festgeschrieben. Dort heißt es:

Everyone has the right to freedom of opinion and expression; this right includes freedom to hold opinions without interference and to seek, receive and impart information and ideas through any media and regardless of frontiers.

Im Lichte unserer heutigen Zeit, dem digitalen, dem Internetzeitalter, eine Formulierung mit Weitsicht. Denn der Artikel schreibt Meinungsfreiheit in jedem Kommunikationsmedium vor: Somit auch im Internet.

Freie Meinung im Internet

Dass das Internet ein zweischneidiges Schwert ist, brachte 2011 auf einer Podiumsdiskussion des UN-Menschenrechtsrats Norwegen auf den Punkt. Einerseits bescheinigte der skandinavische Staat dem Internet einen „unglaublichen Mobilisierungseffekt“, andererseits zeigte es sich besorgt vom Potential desselben, „Menschenrechte zu untergraben“.

Ersteres wird vor allem durch drei Säulen ermöglicht: Die Information durch das Internet, der Ausdruck im Internet und die Organisation über das Internet. Die Bündelung dieser Faktoren findet in sozialen Netzwerken statt. Es ergeben sich neue Möglichkeiten zur Wahrnehmung der Äußerungs- und Meinungsfreiheit.

Beispiel Ägypten: Noch in den Wirren der Revolution entsteht der Begriff „Facebookrevolution“. Glaubt man dem Blogger und Journalisten Richard Gutjahr, der Anfang 2011 selbst in Kairo weilte, boten soziale Netzwerke wie Facebook oder MSN vor allem Jugendlichen eine gute Möglichkeit, den jahrzehntelang aufgestauten Unmut zu kanalisieren: „[Die Jugendlichen] lösen sich von der Mundpropaganda und verschieben sich zugunsten digitaler Chaträume und Internet-Netzwerke.“ Zwar fällt die Revolution nicht allein auf soziale Medien zurück, dennoch habe es „die schnelle Ausbreitung der Proteste […] ohne die Netzwerke wohl nicht gegeben.“

Auch die Vereinten Nationen haben diese Entwicklung erkannt. Der UN-Sonderberichterstatter zur Förderung und des Schutzes des Rechts auf freie Meinungsäußerung Frank La Rue beschreibt das Internet in einem Bericht (A/HRC/17/27) vom 16. Mai 2011 vor dem Menschenrechtsrat als „entscheidendes Mittel“ (§ 20) bei der Wahrnehmung des Rechts zur freien Meinung und Meinungsäußerung.

Probleme

Im gleichen Atemzug warnt La Rue doch auch vor zwei zentralen Problemen bezüglich des Internets: vor dem oftmals nicht vorhandenen Zugang zum Internet bzw. die Inexistenz einer Infrastruktur zur Nutzung des Internets und das Problem inhaltsbezogener Restriktionen von staatlicher Seite.

Gerade in Entwicklungsländern seien die Menschen bei der Internetnutzung oftmals mit Hindernissen konfrontiert, so UN-Sonderberichterstatter La Rue. Auch daher bilden die Entwicklungsländer die Kerngruppe der „Feinde des Internets 2012“ von  „Reporter ohne Grenzen“ (ROG). Mit Weißrussland, China, Iran, Saudi Arabien, Syrien, Turkmenistan, Usbekistan und Vietnam sind acht von zehn der „Feinde des Internets“ Entwicklungsländer. Als besonders bedenklich gelten der Iran und China, da in diesen Staaten die Internetüberwachung zusehends intensiviert wird.

Gerade China fiel in der Vergangenheit immer wieder mit Negativschlagzeilen auf – zudem befindet sich das Land seit Jahren mit Google in einem Streit, der seit 2010 durch das einstweilige Zerwürfnis der Volksrepublik mit dem Internetkonzern geprägt ist. Damals hatte Google China vorgeworfen, E-Mail-Konten von Gmail-Nutzern gehackt zu haben.

Während in vielen Ländern die staatliche Regulierung des Internets kontrovers diskutiert wird, ist dies in mindestens ebenso vielen Ländern Realität: Diese inhaltsbezogenen Restriktionen sind  zumeist nicht ausreichend legitimiert, sondern basieren auf willkürlich bis rechtswidrig beschlossenen Gesetzen.

Dies und mehr kritisiert UN-Sonderberichterstatter La Rue in seinem Bericht. Doch auch die oftmals fehlende Transparenz bei der staatlich durchgeführten Sperrung von Internetseiten ist ihm ein Dorn im Auge. Als besorgniserregend erachtet er zudem die Schaffung neuer Gesetze, die einerseits den Ausdruck im Internet nachträglich als kriminell erklären und andererseits „vorsorglich“ die Meinungsfreiheit im Internet einschränken. Außerdem kritisiert er verstärkt stattfindende Eingriffe von Staaten in die Arbeit von Intermediären. Intermediäre sind private, digitale „Organisationen“, die Intermediationsfunktionen wahrnehmen, das heißt ähnlich einer Agentur dem Internetnutzer Dienstleistungen vermitteln.

Weiterhin verurteilt der Sonderberichterstatter die Unterbrechung des Internetzugangs in vielen Staaten als eklatante Verletzung von Art. 19 UDHR. La Rue zeigt sich zudem besorgt über die Zunahme von Cyber-Angriffen: Es sei die Pflicht eines jeden Staates, seine Bürger vor digitalen Angriffen Dritter zu schützen, insbesondere bei Gefährdung der Meinungsfreiheit. Zudem komme es dadurch immer wieder zu Verletzungen des Rechts auf Privatsphäre.

Noch viel zu tun

Zusammenfassend ist festzuhalten: Ist die Internetfreiheit nicht gegeben, so kann keine Meinungsfreiheit über das Internet wahrgenommen werden – und der Mensch ist somit in seiner Handlungsfreiheit nach der UDHR eingeschränkt.

Das Internet Governance Forum (IGF) in Nairobi, Kenia, 2011, bezeichnete das Internet als „Raum mit begrenzter Regulation“. Doch wie das erreicht werden kann, steht weiter in den Sternen: Auf konkrete Lösungswege wartet man bislang noch.

Bilder: flickr/robyoung (CC BY 2.0); flickr/skinner08 (CC BY-NC 2.0)

Schriftsteller für Zahnpasta

von Nicolai Busch

Scholz&Friends gehört zu den größten und erfolgreichsten Werbeagenturen Europas.  Unser Redakteur Nicolai Busch ist zur Zeit Praktikant im Bereich „Werbetext“ und berichtet über kreatives Ausrasten, die Regeln im Job und Phrasen, die Konsum auslösen.

Die Botschaft muss ins Hirn. Sie muss sich wie ein Ohrwurm in den Köpfen der Menschen einnisten. Sie muss sofort begriffen werden und sprachlich wie inhaltlich vollkommen überzeugen. Natürlich muss sie auch Spaß machen. Doch vor allem muss sie eins: Sie muss neu sein.

Das Texten, wie es sein sollte

So neu, dass die Botschaft über die vermeintliche Innovation des Produkts hinaus einen Neuigkeitswert für den Alltag der Menschen besitzt. So neu, dass sie altbekannte Kontexte und Klischees möglichst laut sprengt und aus den umherfliegenden Trümmern neue, nie gesehene Konsumphantasien erbaut. Werbung, die diese Sprengkraft hat und Slogans, die uns derart überraschen, geben uns ein schönes Gefühl. Sie beweisen uns, dass die Dinge selbst in der Krise nur noch besser werden. Und lassen uns die Zweifel darüber vergessen, ob denn in unserer westlichen Welt heute überhaupt irgendetwas wirklich “neu“ oder “originär“ sein kann.

Jede gute Headline auf einem Plakat, im Fernsehen oder im Netz nimmt uns mit auf eine unterhaltsame Reise.  Sie erzählt uns in drei bis sieben Worten eine kleine Geschichte. Eine Story, die uns so viel eher überzeugt als das gewöhnliche „Jetzt neu und noch besser!“ Ein Ausspruch, der zwar alles sagt, was Werbung sagen möchte,  aber heute längst nicht mehr als Alleinstellungsmerkmal guter Werbung gilt.

Das Texten, wie es wirklich ist

Es ist Neun Uhr morgens in Berlin und mein erster Arbeitstag als Werbetexterpraktikant bei Scholz&Friends beginnt. Die Kollegen sind cool drauf, das Büro ist schick, ich bin gespannt und freue mich auf die nächsten sechs Monate!

Meine erste Aufgabe: Headlines für eine Plakatanzeige schreiben. Der Kunde ist deutschlandweit bekannt und wird seit Jahren von Scholz&Friends betreut. Sofort fallen mir viele, wie ich finde, lustige, knackige, bestimmt nie gesehene Überschriften ein. Ich schreibe ganz ausgelassen vor mich hin und freue mich heimlich über meine ach so grandiosen Geistesblitze, als man mir plötzlich einen dicken Stapel Papiere reicht. Es handelt sich um die Briefings der Aufträge und das Kommunikationsmuster, also die Vorgaben des Kunden. Schnell begreife ich beim Lesen, was viele Kreative manchmal gerne vergessen würden: Werbung bedeutet nur in den seltensten Fällen kreatives Ausrasten.

Die Marke wird zur Marke, weil sie immer wieder gleich auftritt. Durch Kontinuität in Vokabular, Satzstruktur und Wortwitz konstruiert sich die Marke und wird erst dadurch für den Leser unverwechselbar. Werbetexten heißt deshalb zuallererst, die bereits etablierte Corporate Language des Kunden sprechen zu lernen. Die Explosion der Konventionen haben viele große Unternehmen erstens gar nicht nötig und sie entspricht auch häufig nicht dem Lebensgefühl ihrer Verbraucher.

Gut Ding will Weile haben

Nach langem Drücken der Entf-Taste fange ich erneut an zu schreiben. Diesmal eben ganz nach den Vorstellungen des Kunden. Ich schreibe 20 Headlines an meinem Ersten und 30 am nächsten Tag. Von diesen 50 Lines gefallen Sebastian 10. Sebastian ist seit etwa einem Jahr Junior-Texter bei Scholz&Friends und weiß, was dem Kunden gefällt und was nicht. Er weiß, welcher Witz zieht, was bereits geschrieben wurde und auch, was man lieber nicht schreiben sollte. Die zehn ausgewählten Lines zeigt er einem unserer Senior-Texter, der daraus wiederum die besten drei erwählt. Die werden später von Artdirectoren gelayoutet, von Creative Directoren abgesegnet und dem Kunden dann vorgestellt. Von meinen ursprünglich 50 Ideen wird somit im besten Falle eine Idee umgesetzt. Sollten dem Kunden alle drei Headlines nicht zusprechen, geht der Kreislauf von vorne los, und ich fange wieder von vorne an.

Kreativsein auf Knopfdruck

Ich denke also weiter nach. Und jetzt auch etwas schneller. Vielleicht liegt die größte Herausforderung des Werbetexters überhaupt darin, möglichst viele Ideen nicht innerhalb von zwei Tagen, sondern innerhalb von zwei Stunden zu erdenken. Das Geschäft mit Wort und Bild erlaubt es nicht, allzu lange zu sinnieren oder darauf zu warten, dass einem ein Licht aufgeht.

Ich denke an Wortspiele, Redensarten, Floskeln, Alltagsphrasen und Reime. Ich denke an die Sehnsüchte des Verbrauchers, an die Wünsche und Träume der Menschen, an Mythen, kulturelle Vorurteile und Codes,  an das Emotional- Unbewusste in uns, das sagt: “Kauf DAS und NICHT DAS“. Ich versuche, das Produkt, den Verbaucher oder den Prozess des Konsums in meinen Texten zu personifizieren oder zu abstahieren. Fast alles was mir einfällt kritzele ich  verbildlicht auf ein Blatt Papier. Kritzeln ist wichtig. Eine Idee, die nicht gekritzelt werden kann, ist es häufig nicht wert, weitergedacht zu werden. Leute, die Werbung für Zigaretten machen, kritzeln vielleicht Cowboys und Pferde. Jene dagegen, die einen  Deodorant bewerben, sicher gut aussehende Bikini-Mädchen im Sex-Rausch. Es geht eben nicht nur um das Mehr-oder-Weniger. Es geht nicht um Mit-oder-Ohne-Filter und nicht einmal um Neuer-und-Besser. Es geht vor allem um Freiheit, Spaß und Abenteuer, um Begehren und das Gefühl, begehrt zu werden.

Und bestimmt noch um vielmehr – nach gerade mal 4 Wochen Praktikum.

 

Bilder: Scholz&Friends Logo, Copyright Scholz&Friends; Eingangsfassade, Copyright Nicolai Busch; Creativity, von flickr.com/Mediocre2010 (CC BY 2.0)

Frankfurter Buchmesse – Verärgerte Vögel erreichen Kultstatus

von Sandra Fuhrmann

Ein Haufen bösartiger grüner Schweine, gestohlene Eier und wütende Vögel, die durch die Luft katapultiert werden – viel mehr braucht es nicht, um ein Spiel mit Suchtfaktor zu kreieren. Längst schon hat Angry Birds einen weltweiten Siegeszug angetreten und ist zu weit mehr geworden als nur einem Casual Game.

Wenn Schweine kochen..

Selbst im Gedränge der Frankfurter Buchmesse fiel es schwer, den Stand von Rovio Entertainment zu übersehen. Direkt am Ausgang des Messegeländes türmten sich überdimensionale Plüschvögel. Menschen in Pullovern mit Vogelmotiv tummelten sich am Stand – in den Händen Tragetaschen, verziert mit wütend dreinblickendem Federvieh. Das finnische Medienunternehmen Rovio brachte Ende 2009 mit Angry Birds das erfolgreichste Handyspiel aller Zeiten auf den Markt. Auf der Messe präsentierte das Unternehmen nun die Nachfolgerversion des Kochbuchs „Bad Piggies‘ Best Egg Recipes“. Das Buch, das den selben Titel trägt, wie sein Vorgänger, enthält 41 Kochrezepte, illustriert mit Fotos von den Gerichten und gewürzt mit den bekannten Figuren aus dem Spiel, die in einer Kochbuch-App zum Leben erwachen. Nicht fehlen darf hier selbstverständlich die integrierte Eieruhr. Wer es gerne etwas handfester mag, der kann sich das Kochbuch auch als Printversion zulegen.

Der Stolz des großen Adlers

Tatsächlich hat Rovio längst die Grenzen des Handy- und App-Markts überschritten. Als der erste Teil der Serie vor drei Jahren erschien, hatte Rovio zwölf Angestellte. Heute sind es allein in Finnland über 400. Die Zahl der Angry-Birds-Fans beträgt inzwischen etwa eine Milliarde. „Wir sind die erste Firma, die das geschafft hat“, verkündet Peter Vesterbacka, Chief Marketing Officer – oder, wie es auf seiner Visitenkarte steht, „Mighty Eagle“ bei Rovio Entertainment. In seinem roten Pullover, auf der Brustseite einen groß aufgedruckten Angry Bird, präsentiert er das Unternehmen auf der Buchmesse. Er bezeichnet Rovio nicht als ein Medienunternehmen, sondern als „Lifestyle- und Entertainment Company“. In der Tat machen sogenannte Consumer Products, also alle möglichen Arten von Fanartikel zum Spiel, mittlerweile 40 Prozent des Unternehmensumsatzes aus. Vesterbacka prophezeit, dass es in einem halben Jahr bereits 50 Prozent sein werden.

Alle haben einen Vogel

Auf der Frankfurter Buchmesse gibt es eine eigene Abteilung voller Kochbücher. Warum also gewinnt ausgerechnet dieses Kochbuch den „Best First Cookbook of the Year“ der Gourmet World Cookbook Awards 2012?  Eine Kochanleitung voller, geht man nach den Bildern im Buch, absichtlich schlecht angerichteter Eierrezepte, die von grünen Schweinen zubereitet wurden.

Bei den Angry Birds-Kochbüchern muss bedacht werden, dass es weniger darum geht, den Leuten eine Vorlage für das perfekte French-Omelette zu liefern. „Es geht vor allem um die Marke“, sagt Vesterbacka. Das gilt für die Kochbücher und überhaupt. Kaum ein Produkt, das man inzwischen nicht mehr mit eingesticktem Angry Bird oder aufgemaltem Bad Piggy ergattern kann. Bereits beim Spielen des Spiels im Internet wird man auf die Consumer Products aufmerksam gemacht. Ende April dieses Jahres hat in Finnland der erste Angry Birds-Themenpark eröffnet. Das erste Büro in Japan wurde gerade eingerichtet und die Produktion von Angry Birds-Mangas ist dementsprechend schon angelaufen. Die Rückseite der Visitenkarten der Mitarbeiter ist ohnehin bereits auf Chinesisch und die Firmensprache von Rovio Englisch. Das nächste Projekt? In Zusammenarbeit mit Lukas Films soll schon sehr bald eine Star Wars-Variante von Angry Birds entstehen.

Was im Jahr 2003 in den Köpfen dreier Studenten in Helsinki entstand, hat inzwischen Kultstatus erreicht. Oder, um es mit den Worten des Mighty Eagle auszudrücken: „Angry Birds soll zur permanenten Popkultur werden.“ Coca-Cola und Micky Mouse haben es vorgemacht – Angry Birds ist bereits auf dem besten Weg dorthin. An den Wänden von Rovios Firmengebäuden finden sich Bilder aus Spielszenen. Die Anzeige der unternehmenseigenen Kaffeeautomaten zeigt statt Wiener Melange herumtollende Vögel. Rovio ist ein Unternehmen, das sein Produkt lebt. Und genau diese Einstellung will es auch an seine Fans weitergeben. Ein Plan, der bis zu diesem Punkt hervorragend aufzugehen scheint.

 

Fotos: Logo, Copyright Frankfurter Buchmesse; Peter Vesterbacka, Copyright Sanja Döttling; Angry Birds, Copyright flickr/methodshop (CC BY-SA 2.0)

Kultur im Netz – Ein Spannungsfeld: Wer hat Angst vorm Slender Man?

von Stefan Reuter

Immer mehr Quellen im Netz berichten von einem Furcht einflößenden, gesichtslosen Anzugträger, dessen Opfer spurlos verschwinden – oder auf grausame Weise ums Leben kommen. Der sogenannte „Slender Man“ ist eine urbane Legende, entstanden im Internet. Er ist auf dem besten Weg, eine moderne Mythenfigur zu werden. Teil I – Geburt und Aufstieg des Slender Man.

Die Geburt einer urbanen Legende

1986, photographer: Mary Thomas, missing since June 13th, 1986.

Am 10. Juni 2009 veröffentlichte der User Victor Surge zwei Bilder in einem Thread im Forum von somethingaweful.com. Sie sind schwarz-weiß und zeigen Kinder bei einer Wanderung und auf einem Spielplatz. Erst auf den zweiten Blick entdeckt man die seltsame Gestalt, die sich bei beiden im Hintergrund aufhält. Ein Schemen, dem scheinbar Tentakel aus dem Rücken ragen. Über die Herkunft des nebenstehenden Bildes sagt Victor Surge:

One of two recovered photographs from the Stirling City Library blaze. Notable for being taken the day which fourteen children vanished and for what is referred to as „The Slender Man“. Deformities cited as film defects by officials. Fire at library occurred one week later. Actual photograph confiscated as evidence.

Ob ihm klar war, was diese Bilder auslösen würden? Sicher ist: Der ganze Thread war als Gag gedacht, die User sollten von ihnen selbst bearbeitete Fotos hochladen, auf denen gruselige Erscheinungen zu sehen sind. Dennoch entwickelte der Slender Man schnell ein Eigenleben, vielleicht weil Surge durch Bezug auf ein scheinbar wahres Ereignis ein Stück weit Authentizität suggerieren konnte. Gleichzeitig lieferte er mit dem Brand in der Bücherei – auch wenn dieses Ereignis in der Realität nie stattgefunden hat – ein erstes kanonisches Element des Slender Man-Mythos.

Besonders im Bereich der Fanfiction hat der sogenannte „Canon“ einer fiktiven Welt eine wichtige Funktion:

Canon: Bezeichnung für Figuren, Ereignisse, Umstände etc., die „offiziell“ zur jeweiligen fiktiven Welt gehören. Beispiel: Alles, was jemals in einer Star Trek-Episode etabliert wurde, ist „Canon“ und darf von späteren Episoden nicht umgestoßen werden.

Im Fall des Slender Man gibt es keine Serie, oder andere „originale Quelle“, nach denen sich die Arbeiten der Anhänger richten können. Dennoch haben sich einige der „Sichtungen“ als feste Grundlagen des Mythos etabliert und so einen Canon gebildet.

Weitere Geschichten mit Bezug auf ihn wurden nach und nach auf diversen Plattformen veröffentlicht. Sucht man im Netz nach Bildern des Slender-Mans, stößt man früher oder später auf einen Holzstich namens „Der Ritter“. Das Bild zeigt eine skelettartige Gestalt, die einen Ritter mit einem an eine Lanze erinnernden Arm aufspießt. Angeblich stammt es von dem deutschen Künstler Hans Freckenberg aus dem 16. Jahrhundert. Ein früher Beleg für die Existenz des Slender Man?

Nein. Dieses Bild ist eine digitale Bearbeitung eines anderen Holzschnitts – und es hat vermutlich niemals einen Hans Freckenberg gegeben. Dennoch gehört dieses Bild zum kanonischen Material des Mythos. Je mehr sich seine Anhänger kreativ mit der Thematik auseinandersetzten, desto mehr wurde das Wesen in der Menschheitsgeschichte verankert. Beispielsweise wurde dem Slender Man eine Verbindung zu Hitler zugeschrieben oder angebliche Anspielungen auf ihn im Struwwelpeter entdeckt. Der ursprüngliche Original-Mythos erfuhr so einige Veränderungen.

Die Figur des Slender Man hat jetzt schon kulturellen Wert: Sie ist ein Produkt des Internets, eine urbane Legende. Sie wurde geboren und ausgeformt durch unzählige Beiträge von Fans und Amateuren, (bisher) ohne wirklichen Einfluss großer Medienunternehmen. Dabei wird bewusst die Grenze zwischen Realität und Fiktion aufgebrochen.

Die Videobänder des Alex K.

Bereits acht Tage nachdem Victor Surge die Fotos auf somethingaweful.com veröffentlichte, postet ein gewisser „ce gars“, mit Klarnamen Jay, im selben Thread. Sein Freund Alex, ein Filmstudent, gab vor einigen Jahren den Spielfilm Marble Hornets aus heiterem Himmel auf und ist seitdem verschwunden. Zuvor überließ Alex Jay sein bereits gefilmtes Material:

There were tons of them. He grabbed a couple of plastic shopping bags and piled the tapes in and gave them to me, then shooed me out of the attic. Right as I was walking out the door, he said, in the most serious tone I’ve ever heard from someone, „I’m not kidding, don’t ever bring this up around me again.“ Alex’s comment was so sudden that I didn’t have time to react before he had closed the door on me. He transferred to an out of state school soon after that and I haven’t seen him since. I filed the tapes separately from my others, and was honestly too freaked out to look at them at the time, and eventually forgot about them. But reading about the slender man has peaked my interest again. Maybe it’s what Alex was talking about that day.

Jay beginnt die Aufzeichnungen zu sichten und veröffentlicht sie auf einem YouTube-Kanal namens Marble Hornets. Schnell zeigt sich, dass Alex tatsächlich von einem großen Mann im schwarzen Anzug verfolgt wurde, dessen Gesicht nicht zu sehen ist. Je mehr Jay sich mit dem Material auseinandersetzt, desto mehr schlägt es ihm auf die Psyche. Er leidet unter Paranoia und Gedächtnislücken und dokumentiert das ebenfalls auf YouTube und seinem Twitter-Account. Ab Jays neuntem Video veröffentlicht ein weiterer User namens totheark kryptische Antworten auf seine Beiträge. Diese bestehen aus scheinbaren Tonstörungen, seltsamen Symbolen und einzelnen Nachrichten, ein Sinn dahinter ist nicht zu erkennen. Später wird Jay von einer maskierten Gestalt angegriffen, vermutlich handelt es sich um totheark.

Die Geschichte wirkt real: Sie ist im Internet kommuniziert, wie Millionen von Internetnutzern täglich mit der Welt in Kontakt treten. Allerdings zeigt sich bald, dass sie der Beginn einer fiktiven Erzählung ist – getarnt als wahre Begebenheit.

Marble Hornets ist ein Alternate Reality Game (ARG), ein Spiel mit Realität und Fiktion, ausgetragen im das Internet. Die Macher, Troy und Joseph, zwei Jungs aus den USA, griffen die damals vollkommen neue Figur des Slender Man auf und nutzten sie als Grundlage für ein mutiges Projekt. Es veredeutlicht, wie Amateure im digitalen Zeitalter selber zu Produzenten werden können. Sie machen sich die Möglichkeiten des Internets zu Nutzen, um eine Geschichte zu erzählen, deren Machart bewusst auf Authentizität abzielt. Doch das ist erst der Anfang: Der Slender Man und Marble Hornets sind interessante Beispiele für die Produktion von Kultur im Netz.

Im zweiten Teil von „Wer hat Angst vorm Slender Man?“ geht es um die Vorbilder von Marble Hornets und darum, wie weit der Slender Man seine Tentakel noch ausgestreckt hat.

Fotos: Victor Surge im Foum von somethingaweful.com (Thread: Create Paranormal Images, S. 3), flickr/bearstache (CC BY-SA 2.0)

Frankfurter Buchmesse – Spielen ist das neue Lesen

von Sanja Döttling und Henry Ledig

Die Buchmesse hatte mehr zu bieten als Bücher. Für die Play Station 3 erscheint demnächst das Spiel „Wonderbook: Buch der Zaubersprüche“, eine augmented Reality-Software voller Zaubersprüche und -duelle, die in Kooperation mit J.K. Rowling entstand. Außerdem wurde die neue Nintendo Konsole Wii U vorgestellt.

Sony und Rowling – ein Traumpaar

Die Oma mit dem Märchenbuch auf dem Schoß – das war gestern. Heutzutage werden Bücher nicht mehr gelesen, sondern erlebt. Das zumindest lässt das neue Produkt von Sony für die Play Station 3 vermuten. „Wonderbook“ verbindet Geschichtenerzählen mit interaktivem Spiel. Der erste Titel, der für die Wonderbook-Technologie erschienen ist, trägt den Titel „Buch der Zaubersprüche“. Der Move-Motion-Controller der Konsole wird auf dem Bildschirm zum Zauberstab, das futuristisch anmutende blau-graue Buch zum Zauberbuch. Realität und Spiel verschwimmen auf den Bildschirm. Die angewandte Technik nennt sich passenderweise „Augmented Reality“, erweiterte Realität.

„Das Buch der Zaubersprüche“ ist ein Spiel, das sich um das Zauberbuch herum entfaltet. Die reale Umgebung wird dabei von der Kamera erfasst und so mit ins Spiel eingebunden. Die „Lektüre“ des Buches wird grafisch unterstützt, am Anfang mit vielen vorgelesenen Texten und Filmchen in Faltbuchoptik, die man durch die Wahl bestimmter Wörter – wie beim Lückentext – beeinflussen kann. Später kann sich der Spieler selbst darin üben, Zauber auszuführen.

Autorin und Mitentwickelerin ist J. K. Rowling. Kein Wunder also, dass das Wonderbook ein Spin-off des Harry-Potter-Universums ist. Rowling ist bekannt für ihre innovative Weiterentwicklung des Buchinhalts. Sie startete, wieder in Kooperation mit Sony, im April 2012 die Webseite Pottermore, auf der Harry-Potter-Fans selbst nach Hogwarts gehen und dabei die Bücher noch einmal grafisch umgesetzt und mit Zusatzinformationen erleben können. „Wonderbook“ ist ein weiteres Spin-Off der berühmten Harry-Potter-Serie, die aus dieser Kooperation entstand. Rowling selbst sagt über das Projekt:

Wonderbook: Book of Spells is the closest a Muggle can come to a real spellbook.  I’ve loved working with Sony’s creative team to bring my spells, and some of the history behind them, to life.  This is an extraordinary device that offers a reading experience like no other.

Das Wonderbook ist eine interessante neue Entwicklung, allerdings ist die Zielgruppe eher beschränkt. Das Spiel ist auf die jüngeren Harry-Potter-Fans ausgelegt und ist für Kinder bis zum Alter für 12 Jahre sicher spannend. Es ist aber mehr ein interaktives Bilderbuch als ein Konsolenspiel. Die etwas älteren Hogwarts-Anhänger können sich natürlich weiterhin kostenlos auf Pottermore tummeln. So spart man sich auch die 40 Euro für das Spiel und die zusätzlichen technischen Voraussetzungen (wie den Move-Controller und die Play Station 3 Kamera.)

Wir für Dich. Die neue Wii U

Nicht nur Sony war auf der Buchmesse vertreten. Nintendo stellte für die Nintendo Wii nicht ein einziges neues Spiel, sondern eine ganz neue Konsole vor. Die Wii U tritt die Nachfolge der bestverkauften Konsole Nintendo Wii an. Neben technischen Neuerungen bietet das neue Wii U GamePad, eine neuartige Steuerungseinheit,  die Möglichkeit des asymmetrischen Gameplay. Ein Beispiel ist das Casual Game Nintendo Land, dessen Level Ghost Mansion man auf der Frankfurter Buchmesse anspielen konnte.

Während ein bis vier Spieler mit dem normalen Wii-Controller auf dem Fernsehbildschirm die Geisterjäger spielen, spielt ein anderer Spieler den Geist auf dem GamePad-Bildschirm. Der Geisterführer ist der Einzige, der den Geist selbst sehen kann – auf dem großen Bildschirm erscheint er nur, wenn das Taschenlampenlicht der Geisterjäger auf ihn trifft.

Mit dem GamePad will die Wii U weiterhin die Casual Gamer bei der Stange halten. Dafür sorgt das neue Spielgefühl des asymmetrischen Spielens, das vor allen für die Wii-typischen Mini- und Casual-Games ausgelegt ist. Diese Spiele sind vor allem auf das Spielen in der Gruppe ausgelegt. Doch die neue Konsole soll auch den Markt der Core Gamer zurückerobern. Für die etwas älteren Gamer wurden in den Sparten Spiele ab 16 und ab 18 wurden auf der Buchmesse  Assassin‘s Creed 3, Batman: Arkham City: Armoured Edition sowie ZombiU vorgestellt. Ab 30. November ist die Wii U im Handel erhältlich, die weiße Variante kommt mit 8 GB Speicher für 299€ in den Handel, die schwarze mit 32 GB schlägt mit 349€ zu Buche.

 

Foto: Logo, Copyright Frankfurter Buchmesse; Wonderbook, Copyright Sony Entertainment; Wii U, Copyright Sanja Döttling

Trends der Buchmesse – Die Zukunft ist Digital

von Sandra Fuhrmann


Kunstvoll aufgeschichtete Bücherstapel, bunt beleuchtete Regale und Bücher, die sich wie Marionetten an Fäden zu einem baumelnden Kunstwerk formieren: Allein optisch ist die Frankfurter Buchmesse ein einzigartiges Erlebnis, das für alle Kunst-, Kultur- und Geschichtenliebhaber keine Wünsche offen lässt. Doch bei allem Flanieren und Staunen durch das Märchenwunderland bleibt dem aufmerksamen Beobachter eines nicht verborgen: Ein deutlicher Trend zeichnet sich ab, der stark in Richtung digitaler Medien führt.

Die Zukunft ist jetzt

Aus einem Heft, das über Zahlen und Fakten der Frankfurter Buchmesse 2011 informiert, geht hervor, dass sich bereits im vergangenen Jahr bei 47 Prozent der Aussteller auch digitale Angebote im Portfolio befanden und sogar sieben Prozent ganz auf digitale Angebote setzten.„Die Digitalisierung verändert die Branche und prägt die Messe“, heißt es im Bericht. Bei 42 Prozent der Fachbesucher des Vorjahres wirkt sich die Digitalisierung merklich auf das Geschäft aus.

Die Zahlen für die diesjährige Messe werden die des Vorjahres mit großer Wahrscheinlichkeit noch toppen. Kaum ein Verlagsstand, an dem man nicht auf die zusätzliche digitale Verfügbarkeit der gedruckten Werke hingewiesen wird. Mit der Verfügbarkeit von E-Books wächst gleichzeitig der Markt rund um die digitalen Texte. media-bubble.de berichtete bereits darüber, wie die soziale Komponente beim Lesen durch die Möglichkeiten des Internets zunehmend an Bedeutung zu gewinnen scheint. Auf der Buchmesse wurde nun die neue Plattform BookShout! Vorgestellt. Die Seite ermöglicht es, E-Book-Nutzern ihre gekauften Titel hochzuladen und abzuspeichern. Anstatt nur auf einem Tool verfügbar zu sein, kann der entsprechende Text damit zum ersten Mal immer und von überall abgerufen werden. Während die Seite zu Anfang nur vom iPhone oder dem iPad aus genutzt werden konnte, ist sie nun auch mit dem Apple Standardbetriebssystem für mobile Geräte iOS mit Android und über das Web verfügbar. Die Seite nimmt weiterhin das Angebot vieler bereits vorhandener Leseforen auf: Leser können sich in Gruppen austauschen, Autoren mit ihren Lesern in Kontakt treten und für Verlage bietet sich die Chance, einen guten Überblick über Trends auf dem Lesemarkt zu bekommen.

Kuhfantofrosch und Co.

Nicht nur die Besucherdrängten sich in den Gängen der Frankfurter Messehallen, sondern auch zahlreiche weitere Anbieter mit Angeboten rund ums E-Book. So beispielsweise eBook.de, diesen Monat hervorgegangen aus der Seite Libri.de. Interessant ist, dass sich auch bei den Angeboten für Kinder ein wachsender e-Markt herauszubilden scheint. So ist zum Beispiel die bekannte Sachbuchreihe „Was Ist Was“ nun auch als App für iPhone und iPad erhältlich. Die Angebote in diesem Bereich jedoch gehen weit über die bloße Digitalisierung von Büchern hinaus. Interaktivität wird hier ganz groß geschrieben. Das zeigt beispielsweise die Firma Manuvo, die interaktive Bücher und Erlebniswelten für Tablets und als Apps produziert. Mit It Is So ergibt sich beispielsweise für manche Eltern eine Antwort auf die Frage, wie dem Kind am besten der Zyklus von Leben und Tod zu erklären ist. Mit dem Universal Animalarium können neuartige Tiere, etwa ein Kuhfantofrosch, kreiert, mit bunten Farben ausgemalt und anschließend in sozialen Netzwerken mit Freunden geteilt werden. Über den pädagogischen Wert solcher Angebote wird es wie üblich wohl viele Meinungen geben, eine Entlastung des elterlichen Nervenkostüms bei manch langer Autofahrt dürfte allerdings garantiert sein.

Neue Türen öffnen sich

Wo ein neuer Markt entsteht, da gibt es gleich zahlreiche Nischen, die zuerst gefunden werden müssen und dann besetzt werden können. Nicht anders ist es im Falle E-Books. Schaut man in den Veranstaltungskalender der Messe 2012, finden sich dort Diskussionsrunden, Vorträge und nicht zuletzt Workshops von Verlagen zu digitalen Medien. Auch für Autoren und die, die es noch werden wollen, öffnen sich mit diesem Trend ganz neue Tore. Dahinter mag vielleicht nicht unmittelbare Berühmtheit liegen, zumindest jedoch die Chance, ein Buch selbst zu veröffentlichen, das von anderen Verlagen abgelehnt wurde. Bei einem gewöhnlichen Werk liegt die Autorenbeteiligung je nach Art (Roman oder Sachbuch) und Ausführung (Hardcover oder Taschenbuch) bei fünf bis zwölf Prozent des Nettoladenpreises. Beim Self-Publishing sind es laut dem Unternehmen ebubli 60 bis 80 Prozent. Dabei steht es dem Autor frei, ob er das Buch nun als gebundene Version, als E-Book oder auch beides veröffentlichen möchte. Auf der Seite des Unternehmens finden sich jedoch Angebote zur Hilfe bei Konvertierung und Design. Je nach Anzahl, Format oder Seitenzahl, kann schon vorab im Internet berechnen lassen, wie viel einen dieser Weg zur Veröffentlichung kosten wird.

Auf einer Bühne in einer der Messehallen läuft ein Mann auf und ab und übt immer wieder denselben Text vor der Kamera. Der Inhalt ist in etwa folgender: „Hätte es zuerst das E-Book gegeben, keiner hätte am Anfang gedruckte Bücher lesen wollen.“ Der digitale Markt ist nicht erst im Kommen. Nimmt man die Eindrücke der Frankfurter Buchmesse 2012, ist er bereits da. Ob einem das gefällt oder nicht, bleibt letztendlich jedem selbst überlassen.

 

Fotos: Logo, Copyright Frankfurter Buchmesse; Bücherstapel, Copyright Sandra Fuhrmann; Kindle, Copyright Sanja Döttling.

Kultur im Netz – Ein Spannungsfeld: Verkaufe gebrauchtes E-Book, wie neu

von Stefan Reuter

E-Books und mp3s dürfen im Gegensatz zu ihren analogen Vorläufern nicht weiterverkauft, verliehen oder vererbt werden. Zumindest nach der aktuellen Gesetzeslage. Auch für Hollywood-Stars werden keine Ausnahmen gemacht, weswegen Bruce Willis angeblich Apple verklagen wollte. Doch die Gesetzeslage ändert sich. Es könnte also bald wirklich Flohmärkte für digitale Kulturgüter geben.

Stirb langsam, Apple

Auch ein Action-Held vom Format eines Bruce Willis muss sich mit zunehmendem Alter Gedanken darüber machen, wie er seinen Besitz unter seinen Liebsten verteilen will. Der Star der „Stirb langsam“-Reihe will angeblich seine beachtliche Musiksammlung seinen drei Töchtern vererben – und darf das nicht, wie die Sun berichtete. Das Problem liegt darin, dass die besagte Sammlung auf iTunes erworben wurde.

Was vielen nicht bewusst ist: Mit dem „Kauf“ eines digitalen Musikstücks erwirbt der Kunde lediglich Nutzungsrechte, die mit dem Tod aufgehoben sind. Auch wenn die Nachricht, Willis wolle Apple deswegen verklagen, eine Ente war, hat sie einige Fragen über den Umgang mit digitalen Gütern aufgeworfen: Wem gehören meine mp3s? Kann ich digital erworbene Filme weiterverkaufen? Und warum darf ich meine E-Books nicht verleihen?

Warum es keinen digitalen Flohmarkt gibt

Noch mal auf Anfang. Wer alte Schallplatten,CDs, VHS-Kassetten oder Bücher auf Flohmärkten, über eBay oder sonstige Plattformen verkaufen will, darf das, da hier der sogenannte Erschöpfungsgrundsatz gilt. Unter §17, Abs. 2 des Urheberrechtsgesetzes heißt es:

Sind das Original oder Vervielfältigungsstücke des Werkes mit Zustimmung des zur Verbreitung Berechtigten im Gebiet der Europäischen Union oder eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum im Wege der Veräußerung in Verkehr gebracht worden, so ist ihre Weiterverbreitung mit Ausnahme der Vermietung zulässig.

Mit dem Kauf eines gedruckten Buches wird also gleichzeitig auch das Recht erworben, diese Kopie weiterzuverkaufen. Und auch unentgeltlich an Familie und Freunde zu verleihen. Dasselbe gilt für Musik oder Filme, solange sie auf einem physischen Datenträger gespeichert sind. Ein E-Book oder ein mp3-Album aber ist an den jeweiligen User-Account gebunden, um so eine unrechtmäßige Weiterverbreitung zu verhindern. Immer mehr Menschen erwerben Musik, Literatur oder Filme ausschließlich digital. So stellt sich die Frage, warum diese Medien nicht wie ihre analogen Vorgänger gehandelt werden dürfen. In der Wirtschaftswoche (Nr. 40 vom 1.10.2012, Artikel Digitaler Flohmarkt) heißt es dazu:

So drängt sich der Verdacht auf, dass bei Amazon & Co. weniger technische Hürden dahinterstecken als vielmehr der Versuch, einen Zweitmarkt zu verhindern. Denn während benutzte CDs meist Kratzer haben und Bücher mit der Zeit regelrecht zerlesen werden, nutzen sich digitale Güter nicht ab. Eine Zweitverwertungsmöglichkeit von Produkten in identischer Qualität würde deren Preise deutlich drücken.

Dabei könnte die Branche selber durch mehr Kundenfreundlichkeit in diesem Bereich profitieren. Zum einen entfiele damit einer der Gründe, statt der digitalen Version lieber die gedruckte Form zu kaufen. Zum anderen ist gut vorstellbar, dass das durch den Zweitverkauf erworbene Geld in neue digitale Produkte investiert wird.

Ein wegweisendes Urteil

Am 3. Juli diesen Jahres urteilte der Gerichtshof der Europäischen Union, dass der Erschöpfungsrundsatz auch für gebrauchte Software-Lizenzen gilt, sie dürfen also wie gedruckte Bücher zum Verkauf angeboten werden. Der Software-Anbieter Oracle hatte die Firma Used Soft verklagt, die sich genau auf diese Art der Zweitverwertung von Software spezialisiert hat. Programme werden oft lediglich über Lizenzen, also den Erwerb von Nutzungsrechten veräußert. Somit kommen keine Kopien auf Datenträgern in Umlauf. Oracle sah sich durch die Zweitverwertung von Used Soft in seinem Verwertungsmonopol verletzt. Das Gericht befand aber, dass der Erwerb unbegrenzter Nutzungsrechte über eine Lizenz einer Kopie gleichkommt, egal ob sie in physischer Form vorliegt oder nicht.

Mit einem jeweils einzigartigen Lizenzschlüssel zur Aktivierung der Software ist schließlich sichergestellt, dass der Erstkäufer seine weiterverkauften Nutzungsrechte nicht mehr selbst in Anspruch nimmt. Aus juristischer Sicht ist eine Übertragung dieses Urteils auf digitale Kulturgüter durchaus möglich. Auch, wenn es um die Frage des Vererbens geht. Der Rechtsanwalt Christian Solmecke, der in der auf Medienrecht spezialisierten Kanzlei Wilde Beuger Solmecke arbeitet, sagt dazu:

Ob diese Entscheidung auf heruntergeladene Musik übertragbar ist, ist unter Juristen umstritten. Ich meine, dass eine solche Übertragbarkeit möglich ist. Gewissheit werden erst künftige Gerichtsentscheidungen bringen.“ Geht man also davon aus, dass Musik auf diese Weise übertragen werden kann, dann kann auch das Vererben nicht durch Allgemeine Geschäftsbedingungen untersagt werden. „Aus den deutschen iTunes Nutzungsbedingungen ist ein solcher Wegfall der Lizenz im Todesfall ohnehin nicht ohne Weiteres ersichtlich.“

Vorbild USA

Wie ein entspannterer Umgang der Handelsriesen mit den Nutzungsrechten digitaler Medien aussehen könnte, zeigen zwei Beispiele aus den vereinigten Staaten.

Die Website ReDigi erlaubt ihren Usern, auf iTunes erworbene Titel weiterzuverkaufen. Bei Verkauf erhalten sie Gutschriften für ReDigi oder iTunes als Erlös. Die „gebrauchten“ Songs sind günstiger als Neuerwerbungen im iTunes-Store. Sie kosten nur 69 statt 99 Cent oder 1,29$, allerdings sind natürlich nur die Titel zu erstehen, die andere loswerden wollen. Eine spezielle Software sorgt dafür, dass der Verkäufer nach einer abgeschlossenen Transaktion keinen Zugriff mehr auf die entsprechende Datei hat, das gilt auch für etwaige Sicherheitskopien, zum Beispiel auf einem USB-Stick. Außerdem ist die Software dafür verantwortlich, dass nur legal erworbene Titel in Umlauf kommen. Den Befürchtungen um einen digitalen Schwarzmarkt wird damit der Wind aus den Segeln genommen.

Das zweite Beispiel liefert sogar Amazon selbst: In den USA ist es Kindle-Usern gestattet, ihre E-Books untereinander zu verleihen. Dazu müssen sie lediglich die E-Mail-Adresse des Ausleihers angeben, dieser darf dann bis zu zwei Wochen lang auf das Buch zugreifen. Der eigentliche Besitzer kann das für diesen Zeitraum nicht – ganz wie im echten Leben. Laut Wirtschaftswoche sollen beide Angebote im kommenden Jahr auch in Deutschland starten.

Fotos: flickr/roboppy (CC BY-NC-ND 2.0), flickr/warein.holgado (CC BY-NC-SA 2.0)

That’s so gay!

von Pascal Thiel

Cybermobbing hat Konjunktur – besonders aus den USA erreichen uns ständig Schlagzeilen über neue Vorfälle. Immer wieder ist Homophobie Auslöser von jugendlichen Tragödien – und das Internet spielt dabei eine zunehmend bedeutsamere Rolle. Betroffen sind dabei, glaubt man der medialen Berichterstattung, vorrangig junge Homosexuelle. Doch diese These wird nicht nur von den unzähligen „Einzelfällen“ gespeist, sondern auch von der Existenz einer anderen, in den Augen mancher „harmloseren“ Form der Homophobie: einer homophoben Alltagssprache.

Den Beweis der Existenz liefert Twitter. Das soziale Netzwerk ist bis zum Bersten gefüllt mit homophoben Postings. Im Sekundentakt kommen neue hinzu. Einschlägige Ausdrücke wie „That was so gay“, „Faggot is in my college course“ oder „Fuck off with you gay fucking annoying laugh u faggot“ sind nur drei Beispiele homophober Sprache bei Twitter unter vielen.

Seit einigen Jahren haben sich Forscher der Universität von Alberta, Canada, dem Kampf gegen diese Tweets verschrieben: Vor drei Monaten riefen sie eine Internetseite ins Leben, die jedem Besucher in Echtzeit vor Augen führt, wie es sich bei Twitter mit homophoben Tweets verhält.

Homophobie in Daten

Die besagte Internetseite, nohomophobes.com, ist ein Projekt des „Institute for Sexual Minority Studies and Services“ der Faculty of Education der Universität von Alberta in Edmonton, Canada. Anfang Juli 2012 als „social mirror“ (Quelle: Pressemitteilung 26.09.12) ins Leben gerufen, zählt es seitdem „faggot“-, „so gay“-, „no homo“- und „dyke“-Tweets – in der Übersetzung: „Schwuchtel“-, „so schwul“-, „kein homo“- und „Lesbe“-Tweets. Die Macher sehen das Projekt als „soziales Gewissen“:

Perhaps, what this website does best, and why it has received so much international attention, is how the site serves as a form of collective social conscience, which reminds us about the powerof our words and how we have to take responsibility for our actions. (Quelle: Pressemitteilung 26.09.12)

Über 5 Millionen homophobe Tweets hat nohomophobes.com in den letzten drei Monaten gezählt. Von dieser gewaltigen Zahl zeigte sich selbst Institutsdirektor Kristopher Wells überrascht. Mit einem solchen Ausmaß habe man nicht im Geringsten gerechnet: „We never imagined the scale of casual homophobia that actually exists on social media“ (Quelle: Pressemitteilung 26.09.12).

Tatsächlich ist die Bilanz erschreckend: Im Schnitt werden auf Twitter täglich etwa 30.000 „faggot“-Tweets, 10.000 „so gay“-Tweets, 8.000 „no homo“-Tweets und etwa 3000 „dyke“-Tweets gepostet.

Homophob oder nicht?

Die Frage, ob die Verfasser tatsächlich alle homophob sind, lässt sich zwar nicht beantworten, doch es ist relativ unwahrscheinlich, dass hinter jedem besagten Tweet Hass gegenüber beziehungsweise Angst vor Homosexuellen steht.

Plausibler erscheint eine These, die von der Entstehung einer neuen Modesprache ausgeht. Während vor ein paar Jahren erste Fragmente vor allem auf Schulhöfen lediglich aus den Kehlen naiver Vorpubertierender schallten, hat sie sich bis heute zu einem hippen „Slang“ entwickelt, der jenseits von jeglich empathischen Empfinden sein Unwesen treibt. Längst haben sich Ausrufe wie „Das ist doch schwul!“ oder „So ein Homo!“ in der Sprache der Jugend festgesetzt.

Selbige Begriffe bezeichnen nach dem Verständnis vieler nicht mehr vorrangig eine andere sexuelle Identität, sondern stehen als Synonym etwa für „langweilig“ oder gar „scheiße“.

Seit dem Beginn des digitalen Zeitalters erhält diese Verschiebung der linguistischen Bedeutung besagter Begriffe nun Einzug in diversen sozialen Netzwerken. So unbewusst sich dort viele Internetnutzer dieser vermeintlichen Alltagssprache bedienen, so gefährlich ist die Konsolidierung derselben in der digitalen Gesellschaft. Denn es muss bedacht werden: Der mediale Ausdruck über Twitter geschieht hier immer auf Kosten einer gesellschaftlichen Gruppierung.

Menschen sind „desensibilisiert“

Kristopher Wells, Leiter des „Institute for Sexual Minority Studies and Services“ sieht das ähnlich. Gegenüber media-bubble.de sagt er:

While not all people tweeting are homophobic, their use of derogatory language hurts, stereotypes, and further isolates sexual and gender minorities, their friends, and families. We believe that many people have simply become desensitized to these words and the devastating impact they have in our society.  These words quite simply serve to reinforce stereotypes and are often used as powerful weapons to defile and further marginalize gay, lesbians, bisexual, and transgender people.

Gerade im Hinblick auf die geistige Entwicklung (homosexueller) Jugendlicher sei diese Desensibilisierung äußerst problematisch:

We are particularly concerned about the negative environment or climate these words have on youth who may be coming to terms with or questioning their sexual orientation or gender identity.

Die, durch die These der Modesprache, dargelegte Assoziation negativer Eigenschaften birgt zudem die Gefahr einer gesellschaftlich anerkannten Verachtung von Homosexuellen, die schließlich über soziale Netzwerke „globalisiert“ werden kann. Daher muss man sich gegen eine homophobe Sprache stellen – das will auch nohomophobes.com:

Ultimately, we hope that the website […]will encourage people to think critically before they speak or tweet! After all, words have the power to hurt, or to help. If casual homophobia is to end, we all must help to break the silence that surrounds the power of these words. If we don’t speak up, who will?

Um Wells Argumentation aufzugreifen: Internetnutzer müssen resensibilisiert werden für die Sprache, die sie verwenden – im wirklichen Leben wie in sozialen Netzwerken. Nur wenn sie sich bewusst die wahre Bedeutung ihrer Worte vor Augen führen, kann Einsicht erreicht werden.

Bilder: Pressebilder (erhalten via E-Mail)