Der Online-Student

von Sebastian Seefeldt

Einmal an einer Eliteuniversität zu studieren, das ist der Traum Vieler. Die Webseite Coursera ermöglicht Wissbegierigen weltweit Zugang zu Universistätskursen von Dozenten, die an den Top-Universitäten lehren. Und das auch noch kostenlos. Sebastian Seefeldt besucht online den Kurs „Gamification“, weil er offline nicht genug von Medienwissenschaften kriegen kann. Ein Selbstversuch.

Freie Bildung

„The best courses from the best instructors at the best universities […] for free“. Das ist der Gedanke von Coursera-Gründerin Dephne Koller. In dem TED-Talk, der im Juni diesen Jahres gehalten wurde, stellte sie ihr Projekt vor, das schon damals 650 Tausend Mitglieder umfasste. Heute besuchen 1,8 Millionen Online-Studenten die virtuellen Klassenräume. Und ich bin einer von ihnen.

Durch jenen TED-Talk wurde ich auf die Seite aufmerksam. Zwei Wochen später begann bereits der erste Kurs. Aus den insgesamt 204 angebotenen Kursen wählte ich den Kurs „Gamification“ aus. Mein Dozent, Kevin Werbach, ist zurzeit an der University of Pennsylvania angestellt, eine der 33 Universitäten, die das Projekt unterstützen.

Studentenleben

Sechs Wochen studiere ich an der Internetuniversität. Jede Woche stehen zwei Stunden Videovorlesungen sowie eine Prüfungsleistung auf dem Plan. Doch die Videos rauschen nicht nur im Hintergrund, während ich auf Facebook die neusten Nachrichten aus dem Offline-Studentenleben lese. Die Videos fordern nämlich Interaktion. Alle paar Minuten poppt eine kleine Multiple-Choice-Frage auf, die das Wissen der vorherigen Minuten prüft. Die Fragen fließen zwar nicht in die Benotung ein, beantwortet man sie aber falsch, läuft das Video nicht weiter. Ich will sie trotzdem richtig beantworten.

In der Offline-Vorlesung bekomme ich eineinhalb Stunden zusammengestauchte Weisheit, die viel zu oft, ohne Spuren zu hinterlassen, an mir vorbeizieht. Auf Coursera bekomme ich Wissen in Häppchen. Jedes Themengebiet ist in kleine Einzelvideos von maximal 20 Minuten unterteilt. Habe ich mal etwas nicht verstanden, erklärt mir Herr Werbach die Thematik auch gerne ein zweites oder drittes Mal. Bleibt dann immer noch etwas unklar, hilft ein Blick in das kursinterne Forum. In dieser virtuellen Mensa gibt es zwar kein Essen, aber wichtige Diskussionen mit anderen Kursteilnehmern über den Unterrichtstoff.

Anfangs habe ich 81 Tausend Kommilitonen. In der zweiten Woche sind nur noch 61 % der angemeldeten Kursteilnehmer aktiv. Immer noch ein überdurchschnittliches Ergebnis meint Kevin Werbach in seiner letzten Sitzung. Dass die Anzahl an Kursabbrechern online im Schnitt knapp 50 % beträgt, ist nicht verwunderlich. Virtuell schreibt man sich gerne impulsiv in einen Kurs ein. Am Ende der sechs Wochen erhielten 8280 ein Zertifikat, dass ihre Leistung bescheinigt. Das Zertifikat wird immer dann ausgestellt, wenn mehr als 70 % der Maximalpunktzahl erreicht wurden. Ich gehörte auch dazu.

Virtuelle Universität – reale Leistung

Wer nun denkt, Coursera sei eine Plattform, auf der inflationär Zertifikate renommierter Dozenten verteilt werden, hat sich getäuscht. Die Leistungsansprüche auf Coursera sind hoch. In meinem sechs Wochen habe ich 24 Stunden Onlinevorlesungen gelauscht, vier Tests, zwei kleine schriftliche Abgaben mit jeweils 800 Wörter, sowie eine Abschlussklausur und ein schriftliches Abschlussprojekt mit 1500 Wörtern geschrieben.

Die Tests werden im Multiple-Choice-Verfahren durchgeführt. Bei den schriftlichen Abgaben kommt eine Methode zutragen, die typisch für Coursera ist. Durch das sogenannte Peer-Assessments-Verfahren benoten sich die Studenten selbst. Hierzu bekommt jeder Student die Abgaben von fünf zufällig ausgewählten anderen Studenten. Diese Studenten benotet er dann nach klaren Richtlinien. Zugegebenermaßen hatte ich zu Beginn Respekt davor, Aufgaben anderer zu bewerten, doch die Aufteilung in quantitative (hat der Teilnehmer alle geforderten Punkte behandelt?) und qualitative (hat der Student die Punkte angemessen bearbeitet?) Maßstäbe hilft. Der klare Vorteil der Peer-Assessment-Methode ist, dass der Teilnehmer Einblick in die Lösungen von anderen bekommt.  Mir kam die Benotung der Abgaben fair vor. In den Foren oder in der obligatorischen Facebook-Gruppe stieß man nur selten auf Beschwerden.

Bringt das was?

Die Frage aller Fragen ist natürlich: „Was bringt mir das Ganze?“ Ich kann behaupten, dass ich durch das Seminar Wissen erlangt habe, dass ich offline nicht verfügbar habe. An der Universität in Tübingen gibt es kein Seminar mit dem Titel „Gamification“. Des weiteren bietet Coursera die Chance, Seminare in Psychologie und anderen Fächern zu besuchen, die durch einen NC beschränkt sind. Welchen Wert die Zertifikate im späteren Berufsleben haben, kann ich derzeit nicht einschätzen. Coursera ist in Deutschland noch nicht etabliert, dennoch handelt es sich um ein Zertifikat eines renommierten Dozenten einer Top-Universität.

Würde ich den PC auf Dauer gegen meinen „Real Life Dozenten“ tauschen? Ja. Das Online-Studium war in jedem Fall eine lohnende Erfahrung, da es die eigene Disziplin und Arbeitsmoral fördert. Auch meinem Englisch hat die Online-Uni gut getan, schließlich werden alle Vorlesungen auf Englisch gehalten.  Nicht zuletzt die freie Zeiteinteilung war ein klarer Pluspunkt. So passte sich der Workload meinem Biorhythmus an und nicht umgekehrt.

 

Foto: Copyright Sebastian Luther (CC-BY-NC)

Bastelanleitung für einen Katastrophenbericht

von Sandra Fuhrmann

Sie war eine wilde Lady, die Tod, Armut und Zerstörung hinterließ. Kaum zog der Wirbelsturm Sandy in Richtung New York, wirbelte er auch durch die Berichterstattung der internationalen Presse. Ein wenig vergessen blieb dabei Haiti, das bereits zwei Tage vor New York von dem Wirbelsturm heimgesucht wurde. Purer Zufall? Nein – vielmehr ein klassisches Beispiel für typische Mechanismen und Faktoren, die die Themensetzung in den Medien beeinflussen.

Ein Frankenstorm zu Halloween

Ein kleiner Rückblick zu den Medienberichten der letzten Wochen. Montag, 29. Oktober: Der Wirbelsturm Sandy trifft auf die Küste New Yorks. Bereits Tage zuvor wurde der „Frankenstorm“, groß in den amerikanischen Medien angekündigt. Prophezeiungen über die Störung  der Präsidentenwahlen und Halloween machten die Runde. „The next climate wake-up call?“, titelte die amerikanische Nachrichten-Website Politico am 24. Oktober. Als der Sturm dann auf die Ostküste der USA trifft, überbieten sich die Medien mit dramatischen Katastrophen-Berichterstattungen.

Die Süddeutsche berichtete im im Nachhinein, wie der ABC-Reporter Sam Champion den Beginn des Sturms unbehelligt im Süden von Manhattan verbringt, während sich sein Kollege Matt Gutman am Strand von North Carolina in einem Ganzkörperregenmantel in die Fluten stürzt. Für die US-Medien war der Sturm ein voller Erfolg. Er bescherte hohe Quoten und hohe Werbeeinnahmen.

Nur wenige Tage zuvor..

Während in den USA das große Bangen beginnt und über die Maßnahmen zur Vorbereitung auf die große Katastrophe berichtet wird, zieht Sandy ihre Spur durch die Karibik. Mindestens 69 Menschen kostet der Sturm in Kuba, Jamaika und Haiti das Leben. Durch Erdrutsche und Erdbeben stürzen Häuser ein und begraben die Bewohner unter sich. Besonders das vermutlich ärmste Land Mittel- und Südamerikas oder gar der Welt wird schwer getroffen: Sandy zerstört die Zeltstädte, die für die Opfer des Erdbebens vor zwei Jahren errichtet wurden. In Europa jedoch hören wir davon nur wenig. Zu sehr sind die Medien auf die anstehenden Präsidentschaftswahlen und die befürchtete Verwüstung New Yorks konzentriert.

Als Sandy die Ostküste der USA hinter sich gelassen hat, wird auch hier das Ausmaß der Verwüstung deutlich: 102 Menschen verlieren ihr Leben. Der Sturm richtet einen Schaden von geschätzten 50 Milliarden US-Dollar an, zerstört Häuser, Stromnetze und mehr. Über mangelnde Berichterstattung aber kann sich hier niemand beschweren.

Auch die Philippinen werden in diesen Tagen nicht verschont: Am 28. Oktober werden die Inseln von einem Sturm heimgesucht, den es in dieser Stärke seit sieben Jahren nicht mehr gegeben hat. Son Tinh, ein Taifun der Stärke drei zieht schließlich weiter über Vietnam nach China. In den westlichen Medien wird jedoch nur wenig über Sandys großen Bruder berichtet. Alle Aufmerksamkeit gilt den USA.  Die sinkende Nachbildung der Bounty vor der US-Küste scheint quotengünstiger als leidende Asiaten. Aber warum ist das so?

Der Mythos ist schon länger tot

Versuch nicht, weiß zu schreiben„, so der Titel eines in diesem Jahr veröffentlichten Buchs von Charlotte Wiedemann. Die Journalistin kritisiert, wie Themen von Redaktionen gezielt aus Gründen den Quotensteigerung ausgewählt werden. In der Tat interessieren uns manche Themen einfach mehr ans andere. Die USA sind uns politisch und kulturell näher als Entwicklungsländer in der Karibik. New York interessiert uns mehr als der Vietnam. Flutwellen vor dem Hintergrund der Skyline einer Weltmetropole machen einfach mehr her als überschwemmte Zelte. Was wir in den Medien zu sehen, hören oder lesen bekommen ist weder Zufall noch ist es in Wahrheit objektiv. Dem Mythos der Objektivität im Journalismus kann dieser nicht gerecht werden – und vielleicht will er es auch gar nicht zur.

Schon früher haben sich Medientheoretiker mit diesem Problem befasst. So untersuchte schon Tobias Peucer im Jahr 1960 die Frage nach den Kriterien bei der Nachrichtenselektion. Derartige Überlegungen mündeten später in der Geschichte der Nachrichtenforschung in eine Nachrichtenwerttheorie. 1965 stellten Johan Galtung und Marie Holmboe Ruge dafür eine Liste von zwölf Selektionskriterien auf, die sie als Nachrichtenfaktoren bezeichneten. Zwei Beispiele für diese Faktoren sind etwa der Bezug zu Elite-Nationen, also Nationen, die im Weltgeschehen eine bedeutende Rolle einnehmen, oder die Konsonanz, also wie sehr ein Ereignis Erwartungen und Wünschen des Publikums entspricht. Spätere Theoretiker führten diese Gedanken weiter. Joachim Friedrich Staab schließlich bezog in die Überlegung mit ein, dass der Journalist bestimmten Ereignissen aktiv solche Selektionskriterien zuschreibt, um sie zu Meldungen verarbeiten zu können. Grund dafür ist, dass er sich bereits im Voraus die Folgen überlegt, die die Publikation einer Meldung haben wird. Erhofft er sich also gute Quoten von einem Ereignis, wird er dieses eher auswählen, um es zu publizieren.

Es sei an dieser Stelle nicht bestritten, dass es sehr wohl Unterschiede im Streben nach Objektivität bei unterschiedlichen Medienunternehmen geben mag. Und wollen wir das Wort Objektivität lieber einmal ausklammern, so kann man es Ausgewogenheit in der Berichterstattung nennen. Zudem ist es vielleicht etwas ungerecht, alles nur auf die Medien zu schieben. Es liegt nun einmal in der Natur von uns Menschen, dass wir bei bestimmte Wörtern eher einen zweiten Blick auf die Schlagzeile werfen, dass wir gewisse Bilder länger anschauen als andere und uns für manche Themen mehr interessieren, weil sie uns aus bestimmten Gründen mehr ansprechen. Hier also ein schönes Schlusswort von Bernd Hagenkord, dem Leiter der deutschsprachigen Sektion von Radio Vatikan in Rom: „Wenn die Menschen aufhören würden, die Geschichten von Kapitän Schettino zu lesen, dann würden die Medien sie auch nicht mehr bringen.“

 

Fotos: flickr/zokuga (CC BY-NC 2.0); flickr/un_photo (CC BY-NC-ND 2.0)

 

Trinity und Chewbacca Hand in Hand: Henry Jenkins „Convergence Culture“

von Sebastian Luther

Who the &%&# is Henry Jenkins?

Der Bart, mächtig und schlohweiß, geht fließend in die verbliebenen Haare am Hinterkopf über und rahmt das Gesicht in einer Manier ein, die auf interessante Art an die popkulturelle Darstellung bestimmter Zauberer erinnert. Henry Jenkins steht auf der Bühne der renommierten Vortragsreihe „TEDxTalks“ und referiert über ‚paticipatory culture‘, also eine Mitmach-Kultur, die das Gegenteil zu einer reinen Konsumenten-Kultur bildet, in der Subjekte sich nicht am allgemeinen Schaffensprozess beteiligen können und eben konsumieren. Ein Forschungsfeld, an dessen Erschließung Jenkins selbst maßgeblich beteiligt war und in dem er mithin als Koryphäe gilt. Jenkins hat eine lange Forschungstradition vorzuweisen. Er gründete 1993 das ‚Comparative Media Studies Program‘ am Massachusetts Institute of Technology mit und war 15 Jahre lang dessen Direktor. Er ist Autor, bzw. Editor von insgesamt 12 Büchern, die sich mit Aspekten der Medien- und Popkultur auseinandersetzen. Er fördert darin Erkenntnisse zutage, die die Manager großer Medienkonzerne zum Lockern des Krawattenknotens bringen können. Sein 2006 erschienenes Buch „Convergence Culture“ macht da keine Ausnahme. Was er beschreibt, deutet nichts Geringeres als den kompletten Umbruch der Medienbranche an. „Convergence is coming and you had better be ready.“

Where old and new media collide

Was haben ‚The Matrix‘, ‚American Idol’ und ‚Star Wars’ gemeinsam? Die Beantwortung dieser Frage, die sich bei Jenkins Buch über 300 Seiten streckt, beginnt mit seiner Argumentation, dass sie alle Teil, Antrieb und Opfer zugleich, des Konvergenzprozesses sind, den er in der Medienwelt diagnostiziert.

„By convergence, I mean the flow of content across multiple media platforms, the cooperation between multiple media industries, and the migratory behavior of media audiences who will go almost anywhere in search of the kinds of entertainment experiences they want.“

…the flow of content across multiple media platforms…

In den explorativen Studien anhand besagter Beispiele, die Jenkins in seinem Buch kapitelweise vornimmt, erklärt er, was seiner Definition nach unter Konvergenz zu verstehen ist. ‚Matrix‘ war demnach nie einfach nur ein 1999 erschienener Cyber-Punk Film, der den postapokalyptischen Kampf zwischen menschlicher und künstlicher Intelligenz darstellt. Vielmehr war ‚Matrix‘ der Anfang einer vielschichtigen Unterhaltungsmaschinerie, eines Franchises, das Fans auf eine Reise in ein Paralleluniversum mitzunehmen vermochte und sie dabei von einer Medienplattform zur nächsten führte. So wurden nach dem ersten Kinofilm Webcomics veröffentlicht, die den Haupthandlungsstrang mit Neo, Morpheus und Trinity um diverse Episoden ergänzten und weitere, tiefere Einblicke ins Matrixuniversum erlaubten. ‚Animatrix‚, eine auf DVD erschienene Serie von computeranimierten Kurzfilmen, war 2003 der nächste logische Schritt, in dem noch mehr Hintergrundinformationen zu Nebencharakteren und der Vorgeschichte der ‚Matrix‘ geliefert wurden. Über das erste Computerspiel ‚Enter the Matrix‘, den zweiten und dritten Film und das zweite, abschließende Computerspiel, das Massively Multiplayer Online Game (MMO) ‚The Matrix Online‘ wurde das Universum in einer fortlaufenden Story vollendet. Man hatte eine Umgebung geschaffen, in der diejenigen das meiste verstanden, die alle Veröffentlichungen rezipiert hatten. Denn sie waren in der Lage, verschiedene Handlungsstränge der Filme miteinander zu verknüpfen und Ereignisse erklären konnten, die in den Filmen nicht direkt aufgegriffen wurden. Die Wachowski Geschwister als Produzenten gaben zudem kryptische Interviews, in denen sie Fragen der Fans mit Fragen beantworteten, Hinweise auf Hinweise gaben und die verschiedensten Interpretationen ihrer Filme zuließen, was die Fankultur noch weiter anheizte, da man alles erklären und jede erdenkliche Bedeutung finden wollte. Jenkins charakterisiert das Matrix-Franchise mit dem Begriff ‚Transmedia Storytelling‘, also dem, was er in Verbindung zu Konvergenz als „flow of content across muliple media platforms“ bezeichnet. Jeder Teil liefert dabei eine wertvolle Ergänzung zum Universum.

…the cooperation between multiple media industries…

Lässt sich diese Entwicklung als eine auf horizontaler Ebene beschreiben, also dass sich verschiedene Plattformen aufeinander zu bewegen, so beschreibt Jenkins in einem anderen Kapitel auch eine Entwicklung auf vertikaler Ebene. War der Bereich der Fan Fiction im ‚Matrix‘-Universum noch relativ klein, explodiert dieser förmlich bei ‚Star Wars‘. Durch verbesserte technische Dispositionen werden Fans immer mehr dazu animiert, sich selbst als Produzenten hervorzutun und die originale Geschichte abzuändern oder durch eigens geschriebene Inhalte zu ergänzen. Produzenten und Konsumenten bewegen sich also auf vertikaler Ebene aufeinander zu, die Grenzen verschwimmen bis zu dem Punkt, an dem sich die Erschaffer der ursprünglichen Geschichte fragen müssen, wie sie mit Fan Fiction umgehen wollen – produktiv oder restriktiv. Das ‚Star Wars‘ Franchise unter George Lucas stolpert mit einer schizophrenen Haltung vom einen Extrem zum anderen, indem Fan Fiction zum Teil offiziell übernommen wird. Allerdings nur, wenn sie sich entlang bestimmter, vorgegebener Regeln entwickelt. Neben der Frage nach Urheberrechten spielen hier vor allem finanzielle Motive eine Rolle, da Unternehmen schließlich nur mit Inhalten Geld verdienen können, die zweifelsfrei ihnen gehören. Schaffen sie es allerdings sich den Konvergenzprozessen anzupassen, bieten sich viele Chancen. Diese stecken laut Jenkins nämlich vor allem in der industrieübergreifenden Zusammenarbeit der Konzerne, um weiterhin Franchises, bzw. Universen im Stile von ‚Matrix‘ oder ‚Star Wars’ zu erschaffen. Inhalte können über solche Wege vermarktet werden und in einer Zeit, in der Märkte zunehmend fragmentieren,  ist langfristige Kundenbindung so immer noch möglich. Beispielhaft hierfür analysiert Jenkins ‚American Idol‘. Coca Cola, Ford und der amerikanische Mobilfunkkonzern AT&T arbeiteten eng mit den Produzenten von ‚American Idol‘ zusammen, um die Beliebtheit des Formats einerseits zu steigern und andererseits davon zu profitieren. Coca Cola und Ford drehten jeweils Werbespots mit Akteuren und AT&T versuchte, die Abstimmung über die Kandidaten per SMS durchzusetzen. Konnten die Konzerne so auf der Welle der Beliebtheit mit schwimmen und Product Placement forcieren, so unterschätzten sie die vermeintlich harmlosen Konsumenten allerdings drastisch.

…the migratory behavior of media audiences…

Durch die Möglichkeiten des Internets bilden Konsumenten in rasantem Tempo Gemeinden und tauschen Informationen aus. Daraus entstehen Wissenskulturen, die nach dem Prinzip funktionieren, das eine Gruppe immer mehr wissen und deuten kann, als ein einzelnes Individuum. Im Fall von ‚American Idol‘ wurde in der drittel Staffel bekannt, dass die Wahlen von den Produzenten manipuliert wurden, um bestimmte Kandidatenkonstellationen zu inszenieren. Das negative Echo der Community fiel entsprechend stark aus und traf nicht nur die Produzenten, sondern auch die Sponsoren der Sendung, die sich so nah an das Format gebunden hatten. Jenkins wertet diese Gruppenbildung als weiteren Indikator für die längst unaufhaltbare Konvergenz, die die Medienbranchen erfasst hat und alle Unternehmen verschlingen wird, die sich ihr nicht anpassen. Ein Prozess, dessen Regeln niemand genau kennt, der wesentlich schwerer wird, als er sich vielleicht anhören mag und den man nur überlebt, wenn man sich anpasst und zusammenarbeitet.

Suche Forschungsfeld

Henry Jenkins Buch „Convergence Culture“ wurde äußerst positiv rezensiert und gilt als ein „Must-Read“, wenn man sich mit diesem Gebiet der Medienkultur auseinandersetzt – es ist auch das einzige, das sich mit genau diesem Phänomen befasst. Jenkins forscht hier auf einem Territorium, das ohne Weiteres noch als terra incognita bezeichnet werden darf, weil es schlicht und ergreifend noch nicht lange existiert  zumindest nicht in dieser Form. Das soll dem Ruf des Buches keinen Abbruch tun, sondern lediglich eine vorsichtige Skepsis nahelegen. Denn so sehr Jenkins Worte zu überzeugen vermögen, so bleibt er bei gewissen Begriffen doch eine harte, endgültige Definition schuldig. Es ist auch kein Wunder, denn Jenkins gibt sein Bestes, will allerdings Fehler vermeiden. Begriffe genau abzugrenzen, die noch nicht annähernd erforscht sind, ist denkbar unmöglich und so muss man Jenkins durchaus hohen Respekt für seine explorative Pionierarbeit zollen, die für den Moment als theoretische Forschungsbasis gewertet werden darf. Es liegt an Jenkins selbst, sowie an anderen Forschern, jetzt an der Überprüfung seiner Thesen zu arbeiten.

Zwei Seelen, ach in meiner Brust

Lesen lohnt, in jedem Fall. Selbst wenn er, wie erwähnt, stellenweise ein wenig schwammig wird, so nimmt er den Leser dennoch auf eine bunte Reise durch die digitale Medienkultur und -geschichte mit, auf der man viel Zeitgeschichtliches erfährt. Jenkins schreibt sehr verständlich, greift viele Themen sinnvoll auf und gibt Erklärungen und Denkanstöße. Es ist nicht nur das Buch eines Wissenschaftlers, sondern auch das eines Fans, der eben nicht nur beschreibend vorgeht, sondern begeistert ist. Diese Begeisterung steckt an, was das Buch gleich in mehreren Hinsichten durchaus lesenswert macht.

 

Bilder: flickr/dan4th (CC BY 2.0), flickr/poulepondeuse_coakes (CC BY-NC-ND 2.0), flickr/peyri (CC BY-ND 2.0)

Jetzt reden wir Klartext!

von der Redaktion

Medien bestimmen unseren Alltag. Und viele kluge Köpfe machen sich bis heute Gedanken über Wege, diese zu beschreiben. Sie produzieren einen Berg von Büchern, Theorien und Definitionen, der uns angehende Medienwissenschaftler zu begraben droht. Wir wollen versuchen, ein wenig Licht ins Dunkel zu bringen.

Morgen geht sie endlich an den Start – unsere neue Serie „Klartext“. Also unbedingt reinschauen, wenn wir trockene Theorien für euch mundgerecht verarbeiten und in spannender und verständlicher Form wiedergeben. Jeden zweiten Montag posten wir für euch einen Artikel, der sich mit einer Theorie oder einem wissenschaftlichen Werk befasst, über das jeder Medienwissenschaftler früher oder später zwangsläufig stolpern muss.

Warum bekomme ich bei Amazon plötzlich Stechpaddel angeboten? Wie verändern all die technischen Spielzeuge unsere Wahrnehmung und die Beziehung zu unseren Mitmenschen? Was treibt diese rasanten Entwicklungen an, wer profitiert davon und wo soll das alles noch hinführen? Fragen, die nicht nur Medienwissenschaftler umtreiben. Auch für alle anderen ein spannendes Feld, von dem wir uns jeden Tag umgeben sehen.

From Barbie to Mortal Kombat – wer Bücher mit solchen Titeln veröffentlicht, der muss doch einfach ein paar spannende Gedanken zum Thema Medien haben. Nicht um dieses aber ein nicht weniger interessantes Buch von Henry Jenkins geht es morgen in unserem ersten Beitrag. Convergence Culture: Where Old and New Media Collide nimmt unter die Lupe, welche Rolle Fanbeteiligung in der heutigen Kulturindustrie spielt und wie wir vom Rezipienten zum aktiven Nutzer werden. Was steht eigentlich hinter Fanfictions, Onlinespielen und Co.? Seid neugierig und schaut vorbei!

Logo: Copyright Pascal Thiel

Bond. James Bond?

von Pascal Thiel

In einer actiongeladenen Verfolgung prescht 007 durch die Straßen Istanbuls. Halsbrecherisch geht es durch dunkle Gassen und über hohe Dächer. Hektische Bilder huschen über die Leinwand. Von melancholischer Ruhe keine Spur. Und doch sprüht dieser Film nur so vor Gefühlen. Der neue Bond – britischer Superman oder ein Weichei?

James Bond war seit seiner „Geburt“ 1962 nie mehr als eine starke und charmante Hülle, die lediglich durch die Abwesenheit jeglicher seelischer Eigenschaften geprägt war. Doch diese Zeiten sind vorbei: Hinter der Fassade ist ein Mensch hervorgetreten. Ein Mensch mit Ängsten, Schwächen und einer Geschichte. Was sich bereits 2005 in „Casino Royale“ zwischen venezianischen Gemäuern ankündigte, findet in „Skyfall“ seine vorläufige Vollendung.

Ein neuer Bond?

Der Film wirbt mit einem Bond, den es so noch nie gegeben haben soll: tiefsinnig, schwach, verletzlich. Eine Ahnung, wie diese – mit dem britischen Agenten eigentlich unvereinbare – Eigenschaften mit genau diesem zusammenpassen, erhält der Rezipient in der ersten Sequenz. Denn konträr zur klassischen Bond-Dramaturgie, die dem Zuschauer zuerst feinste Actionszenen serviert, scheitert der Agent Ihrer Majestät im neuen Film noch vor dem Titel.

Was als spektakuläre Verfolgungsjagd durch enge Gassen und über hohe Dächer Istanbuls beginnt, sich zwischenzeitlich in den Trümmern eines Zugwaggons als Inbegriff vollkommener Bond-Coolness manifestiert, endet abrupt mit der Kugel der Partnerin in Bonds Brust. Er stürzt – und verschwindet.

Ungewöhnlich für einen Mann, von dem man Siege gewohnt ist. Doch Bond kehrt zurück. Der Tod scheint ihm allerdings nicht bekommen zu haben, denn es ist keine heldenhafte Rückkehr. Der einstige Unbesiegbare ist angetrunken, von Drogen gezeichnet, ungepflegt und unrasiert. Ein krasser Gegenentwurf zu dem Bond, wie wir ihn kennen und lieben. Wo sind Stärke, Coolness und Sexappeal geblieben?

Doch nicht nur Bond, auch der gesamte MI6 scheint geschwächt. Unter Ms Führung wankt der Geheimdienst von Katastrophe zu Katastrophe: Zunächst erschüttert eine Bombe die Zentrale, wichtige Computer werden gehackt und M wird der Rücktritt nahegelegt. Je weiter der Film fortschreitet, desto gebeugter geht sie, bis sie in den Weiten Schottlands rauer Schönheit wie eine ermattete Oma ihrem Ende entgegenblickt.

Obwohl „Skyfall“ also klassische Bond-Eigenschaften vermissen lässt, hat er in Großbritannien binnen einer Woche bereits über 100 Millionen US-Dollar eingespielt. In Deutschland verzeichnete der Film den erfolgreichsten Kinostart seit drei Jahren. Es gibt fast nur positive Kritiken der großen Medienhäuser und zufriedene Zuschauer. Es scheint, als sehne sich das Publikum nach neu entwickelten Figuren und nicht nach alten, tradierten Mustern und Konstellationen. Die Neuerfindung des James Bond hat jedenfalls eingeschlagen.

Nicht alles ist neu

Doch obwohl der neue Bond so viel anders macht, so bleiben doch einige Eindrücke unverändert und lassen dieses bestimmte britische Actionfeeling aufkommen, für das Bond seit über 50 Jahren sorgt.

Da sind die eindrucksvollen Kampfszenen in Shanghai, ästhetisch auf höchstem Niveau inszeniert. Da ist der Aston Martin DB5 von 1963 – ein Symbol des Alten. Da ist die geheimnisvolle, verlassene Insel inmitten des chinesischen Meeres, die an die Unterwasserstation  Atlantis aus dem Jahre 1977 („Der Spion der mich liebte“) erinnert.

Und ein Kontrahent, wie man sich ihn wünscht: Raoul Silva, ein halb verätztes Relikt des MI6 aus Tagen des Kalten Kriegs, gespielt von einem herausragenden Javier Bardem. Eine ambivalente Figur – verstörend und genial zugleich. Ein Lob auf die moderne Technologie, ein Fluch auf M, die er aus Rache zu töten sucht, ein Flirt mit Bond. Ein Gegenspieler, der Le Chiffre („Casino Royale“) und Green („Ein Quantum Trost“) bei Weitem übertrifft.

Ein Film mit Stärken und Schwächen

„Skyfall“ spielt mit der Figur des James Bond – und seinen Klischees. In vielen kurzen Momenten wird 007 förmlich parodiert. Bond wird als bisexuell dargestellt – als Silva sich ihm vielsagend nähert. Ein homoerotischer Moment entsteht – früher undenkbar, ist Bond doch der Frauenheld in Person. Doch das Genie hinter diesem Film – Sam Mendes – geht noch weiter: Das Symbol des klassischen James Bond, der Aston Martin, wird, erst feierlich enthüllt, von hunderten MG-Kugeln durchsiebt. Ein Appell an die vielen 007-Nostalgiker, die ständig den „alten Bond“ fordern, damit sie endlich Ruhe zu geben?

Trotz diesen genialen Momenten hat der Film dennoch eine Schwachstelle: Anders als bei vorigen Filmen ist in „Skyfall“ nicht eindeutig ein einheitlicher Handlungsstrang zu erkennen. Zu Beginn steht eine gestohlene Festplatte mit den Identitäten aller verdeckt ermittelnden Agenten im Fokus. Zunächst geht es nach Shanghai, weil sich dort der Dieb aufhält, dann nach Macao, weil dieser eine Marke eines dort ansässigen Casinos bei sich trägt. Doch dann verliert die Festplatte sich – ihr Schicksal bleibt ungeklärt. Bond hingegen begibt sich auf die Spur von Raoul Silva. Dieser will sich an M rächen und stellt somit ihre Beziehung in den Mittelpunkt. Den Rest des Films bildet die Jagd auf M. Für einen Film, der für Millionen Menschen produziert wurde, ein kleines, aber auffälliges Defizit.

In „Skyfall“ zeigt James Bond neue, unerwartete Gefühle und Schwächen. Durch wiederholte Fingerzeige auf Altbewährtes wird aber dennoch ein gewisser Bond-Charme erhalten. In jeder Hinsicht ist „Skyfall“ ein Film, den man nicht mehr ohne weiteres in eine Reihe mit seinen Vorgängern stellen kann, weil er der Figur von James Bond eine nie gekannte Tiefe gibt. Trotz einigen Ungereimtheiten auf der Handlungsebene ein sehr sehenswerter Film.

 

Bilder: DANIEL CRAIG (James Bond) in Sony Pictures‘ SKYFALL. © 2012 Sony Pictures Releasing GmbH; DANIEL CRAIG („James Bond“) in Sony Pictures‘ SKYFALL. © 2012 Sony Pictures Releasing GmbH

Zauberwürfel 2.0

von Sanja Döttling

Vorlesungszeit. Alle hören aktiv zu, nur meine Nebensitzerin hackt mit unglaublicher Ausdauer auf ihren iPhone-Bildschirm ein. Als ich schon fragen will, ob das Ding abgestürzt ist, erklärt sie mir ihr spechtartiges Zwangsverhalten. Der Grund ist „Curiosity – what’s inside the cube?“, eine neue kostenlose Spiele-App von 22Cans. Das Ziel ist die gemeinsame Zerstörung eines Pixelwürfels mit über 100 Millionen Teilchen.

Virtueller Bergbau im Viereck

Am Dienstagvormittag erschien die Spiele-App „Curiosity“ für iOS-Produkte. Schon im Voraus gab es viel Gemunkel über den Coup des Erfinders Peter Molyneux, der schon für Titel wie Fable und Black&White verantwortlich war. Mit der neuen Firma 22 Cans will er 22 Spiele entwickeln, die gleichzeitig soziale Experimente sind. Und sein Erstlingsschlag ist gleichzeitig ein großer Hit. Schon jetzt ist Curiosity auf Platz Acht der deutschen Gratis-App-Chartliste. Diese App ist anders als andere Spiele. Das Spielprinzip ist denkbar einfach: Der Würfel ist aufgebaut aus vielen Schichten, die wiederum aus kleinen, pixelähnlichen Blättchen bestehen. Die Spieler, zurzeit knapp eine halbe Million, sehen auf ihrem Bildschirm alle den gleichen Würfel und alle zusammen arbeiten daran, die kleinen Blättchen abzutragen. Das geht durch gute Fingerarbeit und schnelles Tippen – mit In-Game Geld, erworben durch das Entfernen der Blättchen, kann man sich auch Werkzeuge kaufen, um schneller voranzukommen. Molyneux erklärt, was der Tool-Shop darüber hinaus bietet:

„One problem we had is that some people would think ‚this is interesting. I’ll download it, watch everyone else do the hard work and I’ll just come in at the end and have an equal chance.‘ So we layered in a simple mechanic, a simple motivation – if you keep tapping, you get times two, times three and so on and your chain never ends. That earns you coins, which you can spend in the shop.“

Pixeliges Überraschungsei

So weit, so einfach. Doch der Titel gibt schon den Hinweis, warum dieses Spiel so erfolgreich ist: „what’s inside the cube?“ fragt er und das fragen sich auch die eifrigen Hacker. Entwickler Molyneux sagt natürlich nicht, was nur derjenige erhält, der das letzte Blättchen entfernt. Er sagt:

„Inside the cube really is an incredible, amazing, life-changing thing, and it’s taken me years and years and years to get the centre of the cube right. The power of our experiment lies in me not giving any clues at all about what it might be.“

Der Gewinner dieses ominösen Preises kann dann entscheiden, ob er den Gewinn für sich behält – oder ob er der (Internet-)Welt mitteilt, was er da bekommen hat. Ein Faktum, das den Preis noch viel begehrenswerter zu machen scheint. Doch bis dahin ist es ein weiter Weg. 100 Millionen Blättchen müssen wohl pro Schicht abgetragen werden. Und die Anzahl der Schichten ist unbekannt – zurzeit arbeiten die Spieler an der zweiten, grünen Schicht.

Außerdem zeichnet sich „Curiosity“, genauso wie Bubble Explode,  Doodle Jump oder Angry Birds, durch ein einfaches Spieleprinzip aus. Doch „Curiosity – what’s inside the cube?“ sprengt jede Vorstellung von Einfachheit, und weltweit werden nun die Touchscreens attackiert. Molyneux sagt:

„I’d been playing with this idea in my mind of boiling things down to the simplest element, and seeing what happens when you put something mysterious out into the world. It seems to me that a lot of the games on mobile devices are insanely simple – they’re rather like games from the early days of gaming. And I wondered if we could give people a simple and pure way of interacting with something, while also giving us here something to get our teeth into.“

Gemeinsames Gekloppe

Molyneux bezeichnet die App als soziales Experiment – wenn auch nicht im wissenschaftlichen Wortsinn. Zum einen ist es das Gemeinschaftsgefühl, das sich beim weltweiten Blättchen-hacken einstellt. Schon schnell nach der Veröffentlichung wurde klar, dass „Curiosity“ auch die Kreativität der Nutzer fördert: So war die Oberfläche übersät von Inschriften und Bildern. Eine forderte beispielsweise dazu auf, zur Präsidentschaftswahl zu gehen. Und dann das Geheimnis, das sich um das Innere des Cubes rankt. Gepaart mit einem denkbar einfachen Spieleprinzip, und schon hat man ein Spiel, zu dem alle etwas zu sagen haben. Doch ist es auch genug, um die Spieler für eine längere Zeit an das Spiel zu binden? 

 Fotos: Copyright facebook.com/22Cans; facebook.com/22Cans

Die dunkle Seite hat Kekse: Wie Cookies Nutzer analysieren

von Sebastian Seefeldt

Das Internet ist eine Keksdose und alle greifen beherzt zu. Bei jeder Internetsitzung sammeln sich auf den Computern Unmengen Cookies an. Dass es sich bei einigen Cookies um hinterlistige Spione handelt, wissen viele Nutzer nicht.

Inhaltsstoffe

Ein Cookie ist  eine kleine Textinformation. Sie ermöglicht es unter anderem, dass sich eine Webseite an den Browser des Nutzers „erinnert“. Denn HTTP, das Protokoll auf dem Webseiten basieren, ist zustandslos. Das bedeutet, dass jeder Zugriff auf eine Webseite als „neu“ gewertet wird: Das Internetprotokoll, erinnert sich nicht von alleine an vorherige Zugriffe.

Jetzt kommen die Cookies ins Spiel. Sie beinhalten beispielsweise eine sogenannte Session-ID, eine Zahlenkombination, durch die Nutzer eindeutig wieder zu erkennen ist. Somit sind längere Nutzungen möglich, bei denen nicht jeder Aufruf einer Unterseite die erneute Eingabe des Passworts erfordert. Außerdem werden so persönliche Einstellungen beibehalten – auch Warenkörbe basieren auf Cookies.

Cookies werden durch das Öffnen einer Website, auf dem Rechner platziert – ohne den Nutzer zu fragen. Wird die Internetseite erneut besucht, werden die Cookie-Informationen wieder dem Server übermittelt.

Cookies ermöglichen den Internet-Nutzern Bequemlichkeit. Durch Cookies erhält das Internet seinen Komfort, den kaum einer missen möchte. Beinahe jeder Internetservice basiert auf ihnen – sei es nun Online-Shopping oder Facebook.  Die Alternative zu Cookies wäre die Speicherung der IP-Adressen auf den Servern der genutzten Seite, diese würde ihnen die eindeutige Identifikation ihrer Nutzer ermöglichen. Cookies sorgen so, eigentlich, für besseren Datenschutz.  Doch Werbeagenturen und soziale Netzwerke machen sich das gutmütige Vertrauen der Nutzer, oder ihre Bequemlichkeit, auf andere Art zunutze.

Datensammler

Wer hat sich nicht schon mal gefragt, warum der Zalando-Schuh, den man fast gekauft hätte, einen noch tagelang quer durchs Netz verfolgt? Ein Grund hierfür sind Cookies. Diese kommunizieren nicht nur mit dem Server der Webseite, wenn die entsprechende Seite geöffnet ist. Cookies „telefonieren“ auch dann nach Hause, wenn diese Seite Werbung auf einer anderen, aktuell aufgerufenen Seite schaltet. Wichtig ist nur, dass es eine „Verbindung“ zum Heimatserver gibt. So können Webseitenanbieter und Webwerbeargenturen ihre Nutzer durch das halbe Netz verfolgen.

Besonders soziale Netzwerke benutzen diese Art des Trackings. Hinter allen „Share-Buttons“, wie sie auf beinahe jeder Website zu finden sind, verbergen sich solche Verbindungen durch die Daten an den Server vermittelt werden. Damit Facebook weiß, dass man Sascha Lobos Blog ließt, muss man diesen nicht einmal „liken“. Es reicht, die Seite zu öffnen. Die Websites wissen daher immer, wann und wo sich der Nutzer im Netz umhertreibt. Doch was passiert mit den gesammelten Daten?

Web Analysis

Zunächst ein Grundgedanke: Die meisten Websites des Internets sind umsonst. Wir konsumieren Inhalte, für die wir teilweise in Offlinemedien zahlen müssten – sei es nun Spiegel Online oder Youtube. Der Grund, warum diese Inhalte gratis verfügbar sind, ist die Werbung. Durch sie können Webseiten laufende Kosten wie die Gehälter der Redakteure oder die Webseitenpflege decken.

Die über Cookies eingeholten Daten über Nutzer dienen dazu, diesem personalisierte, also persönlich abgestimmte, statt zufälliger Werbung anzuzeigen. Cookies, die von den großen Webwerbeagenturen platziert werden, sind auf einer Großzahl der besuchten Seiten des Netzes vertreten. Installiert man ein Browser Plug-In, dass die Cookies sichtbar macht, wird dies sehr deutlich. Dank Tracking, also der Auswertung der Netzaktivitäten der User, vermindern die Agenturen so die Streurate und zeigen wirklich nur die Werbung, die für den Einzelnen von Belang ist – ihn also wirklich interessieren könnte. Die Agenturen können dank Cookies abzählen, wie oft eine Werbung bereits gesehen wurde, wodurch die Werbung immer unaufdringlicher wird.  Somit entsteht effektivere Werbung. Werbung, die das Netz am Laufen hält.

Opt-in statt Opt-out

Deutschen Datenschützern geht diese Vorgehensweise zu weit. Hauptproblematik: Die Nutzer sind nicht mehr Herr über ihren Datenverkehr. Denn hierzulande gilt das soggenannte Opt-Out Verfahren. Statt den Nutzer bei der Platzierung eines Cookies zu fragen, ob er diesen möchte (Opt-In), kann dieser nur im Nachhinein regeln, welche Cookies er möchte. Im Jahr 2009 wurde eine EU-Richtlinie erlassen, die es nur dann erlaubt Cookies zu platzieren, wenn diese für den technisch reibungslosen Ablauf nötig sind. Die Umsetzung in Deutschland bleibt allerdings bis heute aus. Hierdurch ist der Nutzer dazu gezwungen, sich selbst zu behelfen, wenn er der zugeschnitten Werbung entfliehen möchte. Die großen Webagenturen bieten beispielsweise Opt-Out Cookies an, die zehn Jahre ab Aktivierung alle Trackingaktivitäten der Agentur blockt.

Auf meine-cookies.org findet sich eine Liste der großen Anbieter. Alternativ gibt es auch Browserprogramme, die effektiv alle unerwünschten Cookies blockieren. Ghostery beispielsweise erkennt Cookies nicht nur. Das Programm bietet auch die Möglichkeit, sich über die Firma, die hinter dem Cookie steckt, zu informieren. So kann man anschließend entscheiden, ob man den Cookie behalten will. ShareMeNot bietet die Möglichkeit, Sharebuttons ihrer Trackingfunktion zu berauben ohne die eigentlich Funktion, das Teilen von Inhalten, zu verlieren.

Tools wie diese ermöglichen es zwar das Keksproblem privat zu lösen, für die Gesellschaft als Ganzes sind sie aber keine angebrachte Lösung. Bedenkt man alleine, wie gering der Anteil an Internetnutzern ist, die überhaupt wissen, dass Cookies nicht nur Süßwaren sind, wird klar, dass eine bessere Informationspolitik her muss. Der Nutzer sollte darauf hingewiesen werden, was er tut: Lieber Opt-In statt Opt-Out.

 

Fotos: flickr.com/stallio (CC BY-SA 2.0) flickr.com/ssoosay (CC BY 2.0)

 

 

Schreiben für Fortgeschrittene

von Sanja Döttling

Irgendwie sind wir ja alle Schriftsteller. Wenn wir nur die Zeit hätten! Denn immer kommt irgendwas dazwischen. Deshalb wurde die Initiative „National Novel Writing Month“ gegründet. Wer bei diesem Wettbewerb mitmacht, nimmt es selbst auf sich, innerhalb des Monats November 50,000 Worte zu schreiben. Ein Selbstversuch.

Die Idee

Die Seite nanowrimo.org bietet einen großartigen kreativen Schreibwettbewerb, der Kreatitivät und Disziplin fördert. Der Amerikaner Chris Baty veranstalte 1999 den ersten „National Novel Writing Month“, damals machten 21 Menschen mit. Sechs schafften es, innerhalb von 31 Tagen des Novembers die 50.000 Worte zu schreiben, die sie zu Siegern machten. Dieses Jahr haben sich über 200,000 Schreibwütige angemeldet, um sich im kaltnassen November die Seele vom Leib zu schreiben. Die Idee ist denkbar einfach: Man beginnt am 1. November mit dem Roman – und dann heißt es schreiben, schreiben, schreiben. Zwar mit Punkt und Komma, aber ohne längere Überarbeitungsprozesse: NaNoWriMo will nicht einen fertigen Roman ausspucken, sondern ein Skript – im besten Fall. Plot ist Nebensache. Wichtig ist nur, dass Worte die Seiten füllen. Viele Worte, viele Seiten.

Auf der Internetseite helfen Foren und Aufmunterungs-Mails, in der Wirklichkeit treffen sich die Teilnehmer auf der ganzen Welt, um gemeinsam das Pensum von 1,667 Worten am Tag – das sind zwischen drei und vier Word-Seiten – zu bewältigen. Und das nebem allen anderen Aufgaben, die der Alltag eben so mit sich bringt.

Der Schreibprozess

Wahrscheinlich ist nichts so schwer zu beschreiben wie der Prozess des Schreibens. Jeder hat seine eigenen Regeln und Herangehensweisen. Teilen tun die meisten Hobbyautoren nur den Jammerchor: Ich habe keine Zeit!

Ist es machbar, den NaNoWriMo neben eines Studiums und einem Jobs zu bewältigen? Ich starte den Selbstversuch! – und teile meine Erfahrungen mit euch auf unserer facebook-Seite.

Foto: flickr.com/followtheseinstructions (CC BY-SA 2.0)

Can i haz ur clicks plees?

von Sebastian Luther

Memes haben den virtuellen Raum längst hinter sich gelassen und sich von ihrer Quelle emanzipiert. Was auf einem Imageboard begonnen hat, das ist zu einem eigenständigen Kommunikationsmittel geworden. Grund genug, sich dieser Internetphänomene anzunehmen.

/b/

Im Internet kann man den Glauben an die Menschheit verlieren. 4chan.org ist so ein Ort. Alles was undenkbar erscheint, findet sich auf 4chan.org/b/, dem Board der Webseite mit dem passenden Titel „random“ – willkürlich. Neben zirka 50 anderen Boards, in denen Bilder zu Animes, Mangas, Videospielen oder Fotografie gepostet werden, existiert /b/ – random als virtuelle Petrischale für gedankliche Lebensformen aller Couleur. Die Posts ergießen sich kaskadenartig über die Seiten des Boards, regenbogenfarbene oder verkrüppelte Auswüchse jeder Art – lediglich gebunden an die Gesetze des Hypertexts. /b/ – random ist gleichzeitig mit 350,000 von 450,000 Posts am Tag auch das am höchsten frequentierte aller Boards auf 4chan.org und hat  täglich zirka 180,000 Besucher. Es ist die sonderbare Ambivalenz dieser Auswüchse, die sie in einem schillerenden Licht erscheinen lässt. Jeder findet, was er finden will. Es beginnt bei schier unglaublichem, abgrundtiefen Rassismus, Faschismus oder Sexismus und geht über vergleichsweise harmlosen Katzen- und Ponybilder bis hin zu Postings, die auf konnotativer Ebene eine gänzlich neue Bedeutungsebene bekommen haben. Denn seitdem Christopher ‚moot‘ Poole die Seite im Oktober 2003 online stellte, hat sie hervorgebracht, was fast jedem Internetnutzer einmal begegnet und auf die mögliche Präsenz von Rick Astley hindeutet: Memes. Worin besteht allerdings die Verbindung zu einem US-amerikanischen Popstar der 90er?

Never gonna give you up

Dem virtuell gewordenen LSD Trip sind die ersten Memes Mitte des letzten Jahrzehnts entsprungen, so auch das „Rickrolling“. Auf der Seite knowyourmeme.com, einer Art Lexikon für Memes aller Art, wird dieses frühe Meme so beschrieben:

Rickrolling is a bait-and-switch practice that involves providing a web link supposedly relevant to the topic at hand, but actually re-directs the viewer to Rick Astley’s 1987 hit single ‚Never gonna give you up’“.

Neben Rickrolling zählt auch „Caturday“ zu einem der ältesten Memes. Gemäß der Tradition wurden Samstags auf /b/ – random LOLcats, Bilder von Katzen mit bestimmten Bildunterschriften, gepostet. Die Bezeichnung dieser Katzen wiederum entstammt dem Internet-Slang lolspeak, in der ein rudimentäres, absichtlich verfälschtes Englisch zum Einsatz kommt. Die Ursprünge von lolspeak lassen sich nur schwer zurückverfolgen, es ist jedoch in Teilen der Internetcommunity derart populär, dass seit 2007 ein Übersetzungsprojekt der Bibel läuft – in lolspeak. Angekommen in einer derartigen Tiefe des grotesken Kaninchenbaus ins Wunderland WWW stellen sich verschiedene Fragen, ohne deren Antwort es nicht weiter geht: Warum? Wozu? Und warum soll DAS ein Kommunikationsmittel sein? Was der ein oder andere mit ‚42‘ beantworten würde, lässt sich weiter verfolgen, schluckt man die rote Pille und folgt Alice weiter in die Tiefe. Aufbauend auf der Grundstruktur des Internets, dem Hypertext, lässt sich erklären, was hinter den Phänomenen steckt.

Hyper, hyper

Der Hypertext wurde 1963 von Ted Nelson geschaffen. Nelson beschrieb den Hypertext als ein elektronisch verknüpftes, multisequentielles Netzwerk von Texten. Sie ermöglicht eine interaktive Benutzung und mithilfe der Links einen Dialog zwischen ursprünglichen Texten und weiteren Kon-Texten. Ein Prozess, der sich ewig fortsetzt. So stellt etwa Rickrolling, ausgehend von einem augenscheinlichen Text, durch einen Link eine Verbindung zum Kontext, also dem Video, her.

Von allen Memes stellt Rickrolling durch den faktischen Link jedoch eine der offensichtlichsten Verbindungen dar. Ironischerweise angesichts der ganz und gar nicht offensichtlichen Manier, mit der Rickrolling den Link-Verfolger konfrontiert. Caturday, Xibits Yo Dawg, Pedobear, sowie die meisten anderen Memes, enthalten zwar ebenso eine textuelle und eine visuelle Referenz, die auf einen Kontext hindeuten. Dieser lässt sich allerdings weitaus schwerer finden. Ist es nämlich bei dem unerwarteten Antreffen von Rick Astley noch offensichtlich, dass man reingelegt wurde, geben textuelle und visuelle Referenz bei anderen Memes nicht zwangsläufig Aufschluss über deren Bedeutung.

Memologie

Ähnlich einer neuen Sprache oder einer neuen Form von Kommunikation, entstanden durch die Memes im Umfeld des Hypertextes neue Vehikel. Im kulturellen Schaffensprozess wurden Memes arbiträre Bedeutungen zugewiesen, die sich wie bei Symbolen nur durch Kenntnis eben jener Kultur erschließen, der sie entsprangen. So fasst die ursprünglich von Richard Dawkins erdachte Bedeutung von „Memes“ diese Gedanken zusammen: Memes sind Ideen, (Verhaltens-)Konzepte oder Glaubenssysteme, die sich in einer Kultur von Person zu Person verbreiten und, ähnlich den Genen, selbst replizieren, mutieren und auf äußeren Druck durch Anpassung reagieren. Internet-Memes sind Kommunikation, kondensiert, komprimiert und ambivalent. Und in der unabschließbaren Neuschreibung des Hypertexts durch neue Links und Kontexte, gleich dem ewigen Wuchern eines Wurzelgeflechts, sind Iteration und Reproduktion von Memes gleichsam unendlich. Eines der besten Beispiele ist die Seite 9gag.

 

 

Bilder: /b/ Copyrightinhaber anonym; Caturday. Copyrightinhaber anonym; Meme faces by deviantart.com, Nyrow (CC-BY-NC-ND 3.0)

Kultur im Netz – Ein Spannungsfeld: Wer hat Angst vorm Slender Man? Teil II

von Stefan Reuter

In Teil I des Artikels „Wer hat Angst vorm Slender Man?“ wurde aufgedeckt, wie aus einer simplen Fotomontage der unheimliche Star eines Alternate Reality Games mit dem Titel Marble Hornets wurde. Teil II hinterfragt, welche modernen Erzählmittel die Macher von Marble Hornets verwenden und verfolgt die mediale Karriere des Slender Man weiter.

Von Hexen, Zombies und dem Slender Man

Die Macher des Projekts Marble Hornets verbinden zwei filmische und serielle Erzählparadigmen des 21. Jahrhunderts. Mit Hilfe des Internets und minimalem Budget schaffen sie eine Erzählung, die sich vor ihren Vorbildern nicht zu verstecken braucht. Die verwendeten zwei Paradigmen sind: Found Footage, das Realität und Fiktionalität verschwimmen lässt, und und puzzlehaftes, mit Rätseln gespicktes Erzählen.

The Blair Witch Project von 1999 stellt den Durchbruch des sogenannten Found Footage-Filmes dar, in dem künstlerisch erschaffenes Filmmaterial als „echte Dokumentaraufnahmen“ behandelt werden. Eine Gruppe von Studenten will der Legende einer Hexe auf den Grund gehen, die angeblich in den Wäldern um Burkittsville, Maryland, ihr Unwesen treibt. Sie verschwinden spurlos, lediglich die Videoaufzeichnungen ihrer Suche werden gefunden. Diese liefern das Material für den Film. Ihr dokumentarischer Gestus und die unprofessionell wirkenden Bilder, aufgezeichnet mit einer Handkamera, machten The Blair Witch Project zu einem Kinoerfolg.

Die scheinbare Authentizität und die radikal subjektive Kameraführung sorgen für pure Gänsehaut. Die Ästhetik scheinbar echter Videos sorgt vor allem im Bereich des Horrofilms für etliche Nachahmer: Der bereits vierte Teil der Paranormal Activity-Reihe ist vergangene Woche in den deutschen Kinos gestartet. Überwachungskameras sollen Aufschluss über unerklärliche Ereignisse in einigen Häusern geben und deren Ursache ergründen. Im Laufe der Handlung nimmt der Spuk immer weiter zu und der Zuschauer verfolgt das scheinbar authentische Geschehen durch das Auge der Kamera.

Das Genre des Found Footage-Films ist inzwischen sehr vielfältig. In der spanischen Produktion REC von 2007, ihrer amerikanischer Neuverfilmung Quarantine und Diary of the Dead von George A. Romero, der 1968 mit The Night of the Living Dead den modernen Zombiefilm erfand, kommt der Zuschauer den wandelnden Toten dank Found Footage näher als im lieb sein kann. In Trollhunter werden skandinavische Trollerzählungen auf links gedreht und modernisiert. Währenddessen zeichnet in Cloverfield eine Handkamera gleich die Zerstörung New Yorks durch ein gigantisches ausserirdisches Monster auf.

Im Fall von Marble Hornets macht die Verwendung der narrativen Technik des Found Footage doppelten Sinn: Zum einen ist sie naturgemäß günstig zu produzieren und benötigt wenig Equipment. Die Macher Troy und Joseph mussten sich nur eine Story überlegen, einige Freunde als weitere Darsteller verpflichten. So konnten sie schnell die ein- bis zehnminütigen Einträge drehen, ohne zuvor großen Organisationsaufwand betreiben zu müssen. Zum anderen profitieren sie natürlich von der scheinbaren Authentizität und dem Wandeln zwischen Fiktion und Realität.

Messages everywhere, signs everywhere

Wie bereits erwähnt wirft die Erzählung von Marble Hornets unzählige Fragen auf: Was ist Filmemacher Alex wirklich zugestoßen? Wer ist User totheark? Was hat es mit dem Slender Man auf sich?

Ein weiteres Vorbild von Troy und Joseph könnte die Serie Lost von J. J. Abrams und Damon Lindelof sein. Sie gilt als Paradebeispiel einer modernen Form seriellen Erzählens. Lost ist ein Spiel mit Wahrnehmung, wirft Fragen auf und bietet verschiedene Lesearten für das puzzlehafte und fragmentarische Erzählen an. Die Geschichte der Überlebenden auf einer scheinbar einsamen Insel oszilliert dabei zwischen Abenteuergeschichte, Drama und philosophischer Parabel. Die Tübinger Medienwissenschaftlerin Susanne Marschall (siehe unten) erklärt worin der Reiz dieser Erzählform liegt und unterscheidet, in Anlehnung an Umberto Eco, zwei verschiedenene Kategorien des Zuschauers:

Die erste Kategorie genießt die Serie, weil sie hervorragend und mit großem Aufwand erzählt, besetzt und inszeniert ist. Der Modell-Leser der zweiten Kategorie schätzt die Vielschichtigkeit und spielt das Rätselspiel mit, weil es seinen Bildungsstand bestätigt. Was er nicht weiß, googelt er im globalen Gedächtnis des Internets und erlebt dabei manche Überraschung, unter anderem dass der Schauspieler Terry O’Quinn in puncto weltweiter Popularität zumindest unter den Internetnutzern dem Philosophen John Locke für eine Weile den Rang abgelaufen hat. […] Fortgeschrittene Mediennutzer stöbern die Episoden zusätzlich im Netz auf, genau in der Struktur, in der man sich als Lost-Fan bereitwillig verheddert. Dort schreiben sich Serien wie Lost und Heroes auf den Portalen Lostpedia und Heroespedia und in zahllosen Blogs fort und fort.

Auch Marble Hornets setzt auf aktive Zuschauer, die versuchen, sich zu vernetzen und so Verborgenes zu entdecken. Im Video Indicator des geheimnisvollen Users totheark verweisen zwei Satzfragmente auf diese tiefere Ebene: „Messages everywhere, signs everywhere“. Eine Aufforderung, diese Nachrichten und Zeichen zu suchen. Und tatsächlich: Im selben Video erscheint ein Binärcode, der übersetzt und rückwärts gelesen, bedeutet: HE LIES. Doch wer lügt? Alex‘ Freund Jay? Was ist die Lüge? Ähnlich wie Lost wirft Marble Hornets mit jeder Antwort neue Fragen auf.

Eine weitere Ähnlichkeit besteht darin, dass nicht strikt chronologisch erzählt wird. Jay arbeitet sich durch Alex‘ Material, stellt interessante Funde online und versucht sie zu kontextualisieren, um zu verstehen, was geschehen ist. Die Zuschauer folgen ihm dabei und tauchen so immer weiter in die Geschichte ein. Die besonders aktiven unter ihnen tauschen auf diversen Wikis verschiedene Hinweise, entschlüsselte Nachrichten und Theorien aus.

Slender Man transmedial

Marble Hornets war das Erste einer Reihe von Alternate Reality Games, die von Amateuren produziert wurden und sich irgendwie mit dem Slender Man beschäftigen. Ein weiteres ist EverymanHYBRID (EMH). Es startete 2010 und öffnete eine Metaebene, die den Hype um den Slender Man, der inzwischen fester Bestandteil einiger, vor allem amerikanischer, Online-Communities geworden war, reflektiert. Vor allem amerikanische Jugendliche nutzen die Figur, um Freunde und Geschwister zu erschrecken und diese Streiche online zu stellen, außerdem wurde der Slender Man selbst in Sketchen veralbert. EMH selbst beginnt als eine Art Online-Fitnessratgeber mit Videos auf YouTube, wobei in einigen der Slender Man im Hintergrund zu sehen ist. Dieser wurde von einem Freund der Videomacher gespielt, um auf den Hype aufzuspringen. Es handelt sich also um einen Gag innerhalb der Videos. Allerdings kommt es bald zu einem Twist: eine Gestalt taucht auf, die nicht von dem Freund gespielt wird. Aus den humoristischen Gesundheitsvideos entwickelt sich so ein Horrorthriller, der wie Marble Hornets mit Pseudoauthentizität spielt. EMH geht allerdings einen Schritt weiter, was die Erzählplattformen angeht. Beispielsweise gab es Liveaufzeichnungen von Streams, in denen Fans Fragen an die vermeintlichen Fitnessberater, also die Macher von EHM, stellen konnten und so selber Teil des ARG wurden. Eine der Protagonistinnen postete auf ihrem Blog ab und an Songs, die von den Usern auf mögliche Hinweise zur Geschichte analysiert wurden. Dieselbe Figur war zudem auf Twitter aktiv.

Der Slender Man selbst ist inzwischen, gepusht durch die ARGs und andere Fanbeiträge, zu einem transmedialen Phänomen geworden. Er ist der Star von Slender, einem Indie-Game, das kostenlos heruntergeladen werden kann. Der Spieler begibt sich, lediglich mit einer Taschenlampe ausgerüstet, in einem finsteren Wald und einem verlassenen Gebäude auf die Suche nach acht Notizen. Dabei ist ihm der Slender Man auf den Fersen. Jedes Mal, wenn der Spieler ihn erblickt und sich wegdreht, wird der Slender Man beim nächsten Zusammentreffen näher herankommen. Logischerweise heißt es GAME OVER, wenn der Slender Man die Spielfigur in die Finger bekommt.

Trotz, oder gerade wegen dieser einfachen Mittel ist Slender eine sehr gruselige Erfahrung, wie unzählige Videos von kreischenden Spielern beweisen. Einen weiteren Gastauftritt hat „Slendy“, wie er inzwischen liebevoll genannt wird, im Musikvideo „First Of The Year (Equinox)“ des Dubstepproduzenten Skrillex.

Auch einer Filmkarriere steht nicht mehr viel im Wege, auf der Crowdfunding-Plattform Kickstarter konnte ein entsprechendes Projekt sein Ziel von Zehntausend Dollar bereits erreichen. Die Popularität des Monsters nimmt immer weiter zu, weswegen das Augreifen des Mythos für eine professionelle Filmproduktion nicht vollkommen abwegig ist. Wer bis dahin auf dem Laufenden bleiben will, kann Slendy natürlich auf Facebook adden oder ihm auf Twitter folgen.

Fotos: flickr/Ella Patenall (CC BY 2.0), flickr/mdl70 (CC BY 2.0)

Quelle: Marschall, S. (2008). Semipermeable Welten. Automimetische Szenografien des Bewusstseins im fiktiven Film. In M. Bauer, F. Liptay & S. Marschall (Hrsg.), Kunst und Kognition (S. 27-55). München: Wilhelm Fink.