Kultur im Netz – Ein Spannungsfeld: Wer hat Angst vorm Slender Man?
von Stefan Reuter
Immer mehr Quellen im Netz berichten von einem Furcht einflößenden, gesichtslosen Anzugträger, dessen Opfer spurlos verschwinden – oder auf grausame Weise ums Leben kommen. Der sogenannte „Slender Man“ ist eine urbane Legende, entstanden im Internet. Er ist auf dem besten Weg, eine moderne Mythenfigur zu werden. Teil I – Geburt und Aufstieg des Slender Man.
Die Geburt einer urbanen Legende
Am 10. Juni 2009 veröffentlichte der User Victor Surge zwei Bilder in einem Thread im Forum von somethingaweful.com. Sie sind schwarz-weiß und zeigen Kinder bei einer Wanderung und auf einem Spielplatz. Erst auf den zweiten Blick entdeckt man die seltsame Gestalt, die sich bei beiden im Hintergrund aufhält. Ein Schemen, dem scheinbar Tentakel aus dem Rücken ragen. Über die Herkunft des nebenstehenden Bildes sagt Victor Surge:
One of two recovered photographs from the Stirling City Library blaze. Notable for being taken the day which fourteen children vanished and for what is referred to as „The Slender Man“. Deformities cited as film defects by officials. Fire at library occurred one week later. Actual photograph confiscated as evidence.
Ob ihm klar war, was diese Bilder auslösen würden? Sicher ist: Der ganze Thread war als Gag gedacht, die User sollten von ihnen selbst bearbeitete Fotos hochladen, auf denen gruselige Erscheinungen zu sehen sind. Dennoch entwickelte der Slender Man schnell ein Eigenleben, vielleicht weil Surge durch Bezug auf ein scheinbar wahres Ereignis ein Stück weit Authentizität suggerieren konnte. Gleichzeitig lieferte er mit dem Brand in der Bücherei – auch wenn dieses Ereignis in der Realität nie stattgefunden hat – ein erstes kanonisches Element des Slender Man-Mythos.
Besonders im Bereich der Fanfiction hat der sogenannte „Canon“ einer fiktiven Welt eine wichtige Funktion:
Canon: Bezeichnung für Figuren, Ereignisse, Umstände etc., die „offiziell“ zur jeweiligen fiktiven Welt gehören. Beispiel: Alles, was jemals in einer Star Trek-Episode etabliert wurde, ist „Canon“ und darf von späteren Episoden nicht umgestoßen werden.
Im Fall des Slender Man gibt es keine Serie, oder andere „originale Quelle“, nach denen sich die Arbeiten der Anhänger richten können. Dennoch haben sich einige der „Sichtungen“ als feste Grundlagen des Mythos etabliert und so einen Canon gebildet.
Weitere Geschichten mit Bezug auf ihn wurden nach und nach auf diversen Plattformen veröffentlicht. Sucht man im Netz nach Bildern des Slender-Mans, stößt man früher oder später auf einen Holzstich namens „Der Ritter“. Das Bild zeigt eine skelettartige Gestalt, die einen Ritter mit einem an eine Lanze erinnernden Arm aufspießt. Angeblich stammt es von dem deutschen Künstler Hans Freckenberg aus dem 16. Jahrhundert. Ein früher Beleg für die Existenz des Slender Man?
Nein. Dieses Bild ist eine digitale Bearbeitung eines anderen Holzschnitts – und es hat vermutlich niemals einen Hans Freckenberg gegeben. Dennoch gehört dieses Bild zum kanonischen Material des Mythos. Je mehr sich seine Anhänger kreativ mit der Thematik auseinandersetzten, desto mehr wurde das Wesen in der Menschheitsgeschichte verankert. Beispielsweise wurde dem Slender Man eine Verbindung zu Hitler zugeschrieben oder angebliche Anspielungen auf ihn im Struwwelpeter entdeckt. Der ursprüngliche Original-Mythos erfuhr so einige Veränderungen.
Die Figur des Slender Man hat jetzt schon kulturellen Wert: Sie ist ein Produkt des Internets, eine urbane Legende. Sie wurde geboren und ausgeformt durch unzählige Beiträge von Fans und Amateuren, (bisher) ohne wirklichen Einfluss großer Medienunternehmen. Dabei wird bewusst die Grenze zwischen Realität und Fiktion aufgebrochen.
Die Videobänder des Alex K.
Bereits acht Tage nachdem Victor Surge die Fotos auf somethingaweful.com veröffentlichte, postet ein gewisser „ce gars“, mit Klarnamen Jay, im selben Thread. Sein Freund Alex, ein Filmstudent, gab vor einigen Jahren den Spielfilm Marble Hornets aus heiterem Himmel auf und ist seitdem verschwunden. Zuvor überließ Alex Jay sein bereits gefilmtes Material:
There were tons of them. He grabbed a couple of plastic shopping bags and piled the tapes in and gave them to me, then shooed me out of the attic. Right as I was walking out the door, he said, in the most serious tone I’ve ever heard from someone, „I’m not kidding, don’t ever bring this up around me again.“ Alex’s comment was so sudden that I didn’t have time to react before he had closed the door on me. He transferred to an out of state school soon after that and I haven’t seen him since. I filed the tapes separately from my others, and was honestly too freaked out to look at them at the time, and eventually forgot about them. But reading about the slender man has peaked my interest again. Maybe it’s what Alex was talking about that day.
Jay beginnt die Aufzeichnungen zu sichten und veröffentlicht sie auf einem YouTube-Kanal namens Marble Hornets. Schnell zeigt sich, dass Alex tatsächlich von einem großen Mann im schwarzen Anzug verfolgt wurde, dessen Gesicht nicht zu sehen ist. Je mehr Jay sich mit dem Material auseinandersetzt, desto mehr schlägt es ihm auf die Psyche. Er leidet unter Paranoia und Gedächtnislücken und dokumentiert das ebenfalls auf YouTube und seinem Twitter-Account. Ab Jays neuntem Video veröffentlicht ein weiterer User namens totheark kryptische Antworten auf seine Beiträge. Diese bestehen aus scheinbaren Tonstörungen, seltsamen Symbolen und einzelnen Nachrichten, ein Sinn dahinter ist nicht zu erkennen. Später wird Jay von einer maskierten Gestalt angegriffen, vermutlich handelt es sich um totheark.
Die Geschichte wirkt real: Sie ist im Internet kommuniziert, wie Millionen von Internetnutzern täglich mit der Welt in Kontakt treten. Allerdings zeigt sich bald, dass sie der Beginn einer fiktiven Erzählung ist – getarnt als wahre Begebenheit.
Marble Hornets ist ein Alternate Reality Game (ARG), ein Spiel mit Realität und Fiktion, ausgetragen im das Internet. Die Macher, Troy und Joseph, zwei Jungs aus den USA, griffen die damals vollkommen neue Figur des Slender Man auf und nutzten sie als Grundlage für ein mutiges Projekt. Es veredeutlicht, wie Amateure im digitalen Zeitalter selber zu Produzenten werden können. Sie machen sich die Möglichkeiten des Internets zu Nutzen, um eine Geschichte zu erzählen, deren Machart bewusst auf Authentizität abzielt. Doch das ist erst der Anfang: Der Slender Man und Marble Hornets sind interessante Beispiele für die Produktion von Kultur im Netz.
Im zweiten Teil von „Wer hat Angst vorm Slender Man?“ geht es um die Vorbilder von Marble Hornets und darum, wie weit der Slender Man seine Tentakel noch ausgestreckt hat.
Fotos: Victor Surge im Foum von somethingaweful.com (Thread: Create Paranormal Images, S. 3), flickr/bearstache (CC BY-SA 2.0)
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