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Der Hype um Squid Game

Wie es der Netflix-Hit auf deutsche Pausenhöfe geschafft hat und wie gefährlich das wirklich ist

Von Malin Merkle

Im Herbst 2021 legt die südkoreanische Dramaserie Squid Game den bis dato erfolgreichsten Netflix-Serienstart aller Zeiten hin und wird damit zur globalen Sensation [1]. Wir haben mit Prof. Dr. Guido Zurstiege, Professor für Medienwissenschaft an der Uni Tübingen, über die Beliebtheit der Serie, die möglichen Gefahren für zu junge Zuschauer*innen und den richtigen Umgang mit Darstellungen exzessiver Gewalt gesprochen.

Bild: Prof. Dr. Guido Zurstiege

In der Serie werden rund 500 hochverschuldete Menschen dazu eingeladen, in harmlos wirkenden Kinderspielen, um ein Preisgeld von 45,6 Milliarden Won (33 Millionen Euro) zu kämpfen. Der Haken: Wer ein Spiel verliert, wird sofort von maskiertem und bewaffnetem Personal hingerichtet. Der Kontrast zwischen den unschuldigen Kinderspielen und den erbarmungslosen Morden zieht die Zuschauer*innen an und schon vier Wochen nach dem Serienstart wird Squid Game von 142 Millionen Netflix-Konten gestreamt [2]. Die Serie, die mit brutalen Szenen für Schock-Momente sorgt, wird damit aber auch bei Zuschauer*innen, welche die Altersfreigabe von 16 Jahren unterschreiten, zum ‚Must Watch‘. Der Hype um Squid Game kann sich vor allem auf dem ‚digitalen Pausenhof‘ Social Media verbreiten und schafft es von dort aus in die reale Welt: Vermehrt sorgen Zwischenfälle an Schulen für Schlagzeilen. Schüler*innen spielen die Kinderspiele in ihrer Pause nach und die Verlierer*innen werden unter Vorbild der Serie teilweise sogar verprügelt [3]. Doch wie genau konnte die Serie bei Kindern und Jugendlichen überhaupt so beliebt werden, wo liegt das Problem beim Konsum von Inhalten mit exzessiver Gewalt und wie sollte man als Aufsichtsperson damit umgehen? Dazu äußert Prof. Dr. Guido Zurstiege, dessen Forschungsschwerpunkt unter anderem auf der Rezeptions- und Medienwirkungsforschung liegt, seine Meinung.

HERR ZURSTIEGE, WIE KONNTE NETFLIX MIT SQUID GAME ÜBERHAUPT EINEN SO GROßEN HYPE KREIEREN?

Die Anzüge der Squid Game Wächter. Bild: Unsplash

„Zunächst einmal setzt Netflix sehr stark auf Multiplikatoreffekte. Es ist Teil der Vermarktungsstrategie, dass sich die Angebote in den entsprechenden, auch jungen, Netzwerken verbreiten. Diese Form der Verbreitung, der Herstellung eines sozialen Verpflichtungszusammenhangs, ist nicht zufällig geschehen, sondern Teil der Vermarktungsmaschine Netflix. Das zweite ist, dass unheimlich viele Cues für die Aneignung gelegt werden. Nehmen wir alleine mal die roten Anzüge der Wachen. Diese tauchen auch bei der Netflix-Serie Haus des Geldes auf, die ästhetisch ganz ähnlich gemacht ist. In einer Industrie, die diese ganzen Verwertungs- und Anschlusskommunikationsketten kennt, sind das natürlich niemals unschuldige Bestandteile der Inszenierung, sondern immer Cues für die Rekontextualisierung. Dass diese Anzüge beim Karneval oder die Spiele auf dem Schulhof auftauchen, ist kein Wunder, denn hier sind erkennbare Mechaniken am Werk, die zu Aneignungsprozessen und deren Verbreitung in den sozialen Medien führt.“

„Jeder ist über die Serie im Bilde und so werden Begehrlichkeiten geschaffen. Das hat auch das Fernsehen so gemacht, aber Netflix gibt uns dieses Prinzip auf Speed.“

DIE SERIE HAT ZWAR EINE ALTERSBEGRENZUNG VON 16 JAHREN UND TROTZDEM SIND VIELE ZUSCHAUER*INNEN UM EINIGES JÜNGER. WAS HALTEN SIE DAVON, DASS KINDER DIE SERIE ANSCHAUEN UND DIE SPIELE AUF DEM PAUSENHOF NACHAHMEN?

„Wenn diese Kinderspiele aufgegriffen und auf Schulhöfen nachgespielt werden, was ja auch kein Wunder ist, dann halte ich das für hochproblematisch. Da ist ein gewisser Abstumpfungseffekt beteiligt, was das Sehen und Nachspielen von Gewalt angeht. Man stellt sich mal vor, man macht einen Kriegsfilm mit einer Kinderarmee und kalkuliert gewissermaßen ein, dass das aufgegriffen und nachgespielt wird. Das würde nochmal mehr Entrüstung bringen, aber der Mechanismus ist exakt der gleiche. Da würde natürlich die ganze Nation aufschreien und das tut sie meines Erachtens auch bei Squid Game.“

SIE SAGEN, DASS ES BEIM KONSUM VON EXZESSIVER GEWALT BEI JUNGEN HERANWACHSENDEN ZU EINEM ABSTUMPFUNGSEFFEKT KOMMT. LIEGT DARIN EINE GEFAHR?

„Es sind einfach extrem heftige Bilder und Szenen und ich finde hier wird systematisch eine Schmerzensgrenze, was exzessive Gewaltdarstellung angeht, angehoben. Für mich ist das größte Problem, dass diese Abstumpfung auf eine gewisse Art und Weise auch zu einer Anspruchshaltung an Medienangebote führt, die wirklich schocken und das wiederum eine Art Gewaltaufmerksamkeitsspirale in Gang setzt.“

„Man muss sich die Frage stellen: Was kommt als nächstes? Was kann als nächstes diese Form von exzessiver Gewaltdarstellung noch toppen?“

DIE VON NETFLIX ANGEGEBENE ALTERSBESCHRÄNKUNG VON 16 JAHREN SCHEINT FÜR DIESES LEVEL AN GEWALTDARSTELLUNGEN SEHR NIEDRIG. WAS HALTEN SIE DAVON?

„Diese Altersfreigabe halte ich für einen Skandal. Mal davon abgesehen, dass die Serie einen Unterhaltungswert und eine gewisse gesellschaftliche Perspektive hat, alles fair enough. Aber ich bin ziemlich fest davon überzeugt, dass die Serie für ein viel zu junges Publikum freigegeben worden ist. Zumal die Freigabe in der Medienpraxis oft unterschritten wird. Jugendliche lesen 16 und denken 14. Ich glaube, dass diese Altersfreigaben niemals punktgenau treffen, sondern immer mit einem kleinen Vorhof. Die Altersfreigaben verschwimmen auch im familiären Kontext, denn der Vierzehnjährige orientiert sich am Sechzehnjährigen und die Kleinen, die wollen ja dann auch groß sein oder müssen das Gezeigte ertragen. Ein wichtiger Zusammenhang ist, und hier muss man zwischen Altersgruppen unterscheiden, dass ganz kleine Kinder, bei gruseligen Mediendarstellungen gar nicht wegschauen können. Das man den Blick abwenden kann, lernt man erst im Zuge der kognitiven Reifung. Gerade vor diesem Hintergrund finde ich das sehr problematisch.“

„Ich finde die Altersfreigabe von Squid Game eigentlich skandalös.“

WELCHE ALTERSBESCHRÄNKUNG WÜRDEN SIE DER SERIE SQUID GAME GEBEN?

„In dem konkreten Fall würde ich auf keinen Fall vor 16 sagen und denke, dass es schon in Richtung 17 oder 18 gehen sollte, denn ich glaube, wie gesagt, dass diese Altersfreigaben oftmals sehr weit interpretiert werden und das 16 bei vielen mindestens 14 heißt.“

 

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GLAUBEN SIE, DASS NETFLIX WEITERHIN MEDIENANGEBOTE MIT EINER ZU GERINGEN ALTERSBESCHRÄNKUNG VERÖFFENTLICHT UM SO EIN GRÖßERES  PUBLIKUM ZU ERREICHEN?

„Ich denke da werden sehr schnell Konsequenzen von Seiten der Medienregulierung, aber auch vom Markt zu befürchten sein. Ich bin auch dank dieser öffentlichen Entrüstung über den Fall Squid Game relativ optimistisch was das angeht. Irgendwann diskreditiert sich ein Medium und wird für Familien unattraktiv. Da wäre der Schaden für Netflix größer, als der kurzfristige Gewinn, wenn sie nochmal so ein Ding raushauen.“

VIELE JUNGE ZUSCHAUER*INNEN SCHAUEN SICH ALSO INHALTE AN, OBWOHL SIE ZU JUNG FÜR DIESE SIND. WIE SOLLEN AUFSICHTSPERSONEN DAMIT UMGEHEN?

„Es gibt im Grunde genommen immer drei Möglichkeiten. Das eine ist das Verbieten, das andere ist das gemeinsame Rezipieren und das dritte, und das ist der ‚Goldstandard‘ bei allen problematischen Medienangeboten, ist das Erklären. Ich würde für die aktive Mediation plädieren. Eltern können die Serie bewerten und sagen, dass es zwar ein interessantes Thema, aber eine zu heftige Form von Gewaltdarstellung und die Altersfreigabe problematisch zu beurteilen ist. Das Ziel ist, dass das Kind die Serie dann nicht schauen möchte.“

ICH KANN MIR VORSTELLEN, DASS ES HEUTZUTAGE SEHR SCHWIERIG IST EINEN EINBLICK IN DIE MEDIENNUTZUNG DES KINDES ZU BEKOMMEN, UM SO DAS GESPRÄCH ÜBER SCHWIERIGE INHALTE ZU SUCHEN.

„Das große Problem besteht darin, dass die Mediennutzung zum großen Teil hinter der Kinderzimmertür stattfindet oder zumindest in einer Kommunikationsumgebung, die von Kindern autonom kontrolliert wird. Das kann auch unterwegs sein, also beispielsweise im Bus. Diese Kinderzimmertür ist virtuell, die haben sie also überall dabei und können sie jederzeit abschließen. In einer Welt, in der sich die aktive elterliche Mediation auf Mediengebote aus der Flimmerkiste bezog, die an einem definierten Ort stand, war das wie eine Einbahnstraße. Da konnten sie sagen „Kind, pass auf, in den Nachrichten kommen folgende Themen und ich möchte nicht, dass du das siehst.“ Durch die virtuelle Kinderzimmertür ist das zu einem Zwei-Wege-Prozess geworden, bei dem die Eltern aufmerksam sein müssen. Die Eltern müssen sehr genau zuhören und dann mitunter auch flexibel und spontan darauf reagieren, was ihnen ihre Kinder sagen. Dann redet man gar nicht mehr unbedingt über diese Serie, sondern über die Spiele, die auf dem Schulhof stattfinden oder über ein angemessenes Karnevalskostüm. Und da mal zuzuhören, was für die Kinder relevante Themen sind, darum geht es für mich. Dabei können auch die Eltern eine ganze Menge lernen. Außerdem darf man dabei nicht unterschätzen, dass man für seine Kinder nur dann ein adäquater Gesprächspartner in Sachen Mediennutzung ist, wenn man auch eine gemeinsame Mediennutzung hat.“

„Das gemeinsame Anschauen, die geteilte Freude an angemessenen Medienangeboten und ein Team vor dem Bildschirm zu sein, das ist sehr wichtig.“

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Zurstiege!