De/Recontextualizing Characters

Wie Phantome – Figuren außerhalb des Narrativs

Jeder kennt sie: Figuren, Maskottchen und ähnliche niedlich anmutende, fiktive Charaktere aus Werbung, Fernsehen & Co. Doch was sind solche prä-narrativen und meta-narrative Figuren? Wie sich die medienwissenschaftliche Forschung hierzu gestaltet, zeigt uns Gastautor Lukas Wilde.

von Lukas Wilde

Fast überall in unserem Alltag sind wir von ihnen umgeben, ohne dass sie uns sonderlich auffallen: Figuren, oder englisch characters, für die wir eigentlich keine Begriffe haben. Sie entstammen nämlich keinerlei Geschichten. Denn es existieren keine Romane, Bücher, Filme oder Comics zu ihnen, und doch sind sie allgegenwärtig. Hierbei denke ich an „Kommunikationsfiguren“ und Maskottchen wie Max Maulwurf von der Deutschen Bahn, der Kunden von bunt illustrierten Schildern herunter über Bauarbeiten informiert. Oder an Wesen der Produktindustrie wie Thomas Goletz‘ Diddl Maus oder Sanrios Hello Kitty, die nur auf den Oberflächen materieller Objekte (Kleidung, Büroartikel, Kaffeetassen) zirkulieren. In Japan existieren „virtuelle Promis“ wie Hatsune Miku, die selbst von Lady Gaga auf Tournee eingesetzt wurde, sowie fiktive Repräsentanten vom Ämtern und Präfekturen. Und in Tübingen lässt sich die Bäckerei Keim seit Jahren von einem „Keimling“ vertreten.

Der prä-narrative Figurentyp

Wer oder was wird in hier in den Dienst genommen? In der literatur- und medienwissenschaftlichen Figurentheorie geht man davon aus, dass fiktive characters stets Bestandteile dargestellter Storyworlds und Narrative sind. Davon kann in allen genannten Beispielen aber keine Rede sein. Japanische Kulturwissenschaftler wie Itō oder Azuma haben dafür in den letzten Jahrzehnten den Begriff des „kyara“ geprägt. Obgleich es sich dabei zunächst nur um die Kurzform des englischen Lehnworts „kyarakutā“, also character, handelt, wird es mittlerweile als Fachbegriff eines besonderen Figurentyps verwendet. Solche kyara –  prä-narrative Figuren – wandern wie Phantome außerhalb narrativer Kontexte durch die Gesellschaft. Hierbei verleihen sie anonymen Institutionen und Konzernen ein Gesicht und können zum Gegenstand aller nur denkbaren Zuschreibungen werden. Dabei existieren Kyara nicht in fiktiven, abgeschlossenen Welten, sondern scheinen ihre Rezipient*innen direkt anzublicken, anzusprechen und zu adressieren. Manchmal ganz buchstäblich, wenn sie wie die Maskottchen der Olympischen Spiele von Performer*innen in Ganzkörper-Kostümen repräsentiert werden.

Niedlich? Von wegen!

Solche narrativlosen kyara fungieren als soziale Knotenpunkte oder Schnittstellen, durch welche Kommunikation und Interaktion einen merkwürdig imaginären, spielerischen, aber oft beunruhigend „verniedlichten“ Charakter bekommen. Dabei werden sie keinesfalls nur für harmlose Zwecke eingesetzt: In Frühling und Sommer 2016 etwa, bevor die rechtspopulistische AfD erstmals in den deutschen Bundestag eingezogen ist, konnte ein solcher prä-narrativer Knotenpunkt mit Namen „AfD-chan“ zu einer bedrohlichen Schnittstelle nationalistischer Artikulationen in neurechten Netzwerken aufsteigen – etwa in Reddits Subreddit r/Die_Alternative oder 4chans /politically uncorrect. Ein politisches Maskottchen in Gestalt eines niedlichen („kawaii“) Manga-Girls mit partei-blauem Haar! Sie trotzt der imaginierten „Lügenpresse“ oder schlägt mit Hämmern auf die scheinbaren „Volksverräter“ von Union und SPD ein. „AfD-chan“ hat keine (bestimmte) Autor*in und keinen Ursprungstext.  Denn sie zirkuliert in „Draw Threads“, in denen die Nutzer*innen darin wetteifern, sie immer wieder neu und immer wieder anders in unzusammenhängenden, rassistischen Szenarios und Settings zu kontextualisieren.

Meta-narrative Figuren

Weil solche prä-narrative Figuren regelrecht dazu einladen, angeeignet und umgeschrieben zu werden, lassen sie sich Azuma zufolge ebenso als „meta-narrative Figuren“ auffassen. In diesem Sinne können sie jede beliebige narrative Rolle annehmen, die ihnen innerhalb der Partizipationskultur zugeschrieben wird. Genau hierin besteht die zweite „Pointe“ des kyara-Begriffs, also gewissermaßen seine andere Seite. Wenn man Figuren der Populärkultur nicht mehr von Storyworlds oder Narrativen her denkt, dann fällt unmittelbar auf, wie viele fiktive Wesen schon lange eine solch „meta-narrative Identität“ besitzen.

Mickey Mouse als meta-narrative Figur

Mickey Mouse kann etwa ebenso gut als Zauberlehrling auftreten, wie in Disneys Fantasia, 1940, oder in der Rolle eines Soldaten in Cartoons des 2. Weltkriegs. In Disneyland-Themenparks wird er von Vorneherein wie ein fiktiver Schauspieler oder imaginärer Performer aufgeführt, ohne dass eine bestimmte Rolle im Vordergrund stünde. Ebenso hatte im US-amerikanischen Kontext auch die Möglichkeit der Aneignung von Disney-Figuren eine wichtige Bedeutung. So etwa für die Underground Comix-Szene der 1960er und 1970er Jahre. Hier wurden Mickey und Donald Duck als Protagonisten in sexuell expliziten, handkopierten „Headshop-Comix“ eingesetzt.

„De-/Rekontextualizing Characters“ 

Spannende, allerdings bislang selten im Zusammenhang diskutierte Fragen, die auf der Winter School 2018 „De-/Rekontextualizing Characters“ der Universität Tübingen interdisziplinär untersucht werden, lauten daher:

  • Welche materiellen, technischen, institutionellen und ästhetischen Gegebenheiten begünstigen die Rekontextualisierungsprozesse bestehender Figuren?
  • Welche Charakteristiken sind notwendig oder ausreichend, damit unterschiedliche Akteure noch von der selben (oder wenigstens irgendwie „gleichen“) Figur sprechen, während diese durch die Medienkulturen wandern?
  • Welche sozialen Funktionen und Verwendungsweisen sind an solche Zirkulationsbewegungen gebunden?
  • Zusammenfassend könnte man fragen: Wie beeinflussen und formen die sozialen und kulturellen Kontexte die Möglichkeiten, Figuren zu rekontextualisieren, und umgekehrt?

Winter School 2018 an der Universität Tübingen

Unsere Winter School wird einige Impulse und Erkenntnisse zur Konzeption, Analyse und Kritik von „narrativfreien“ und „narrativ-transzendenten“ Wesen der Popkultur beisteuern. Mit 11 internationalen Keynote-Sprecher*innen und Sprechern und 10 Doktorand*innen werden zahlreiche Fallbeispiele herangezogen und miteinander vergleichen, die aus den unterschiedlichsten Medien stammen. So zum Beispiel von Filmen, Serien, Comics und Videospielen bis hin zu Lyrik, Pen&Paper-Rollenspielen oder Cosplay.

Mehr Informationen zur Winter School finden sich hier.

Mehr Videos zum Thema

Das Erste: Maskottchen-Boom Japan:
http://www.daserste.de/information/politik-weltgeschehen/weltspiegel/videos/japan-maskottchen-boom-100.html

Last Week Tonight with John Oliver: Japanese Mascots (HBO):

Weiterführende Literatur

Monographie zum Thema
(Lukas R.A. Wilde: Im Reich der Figuren. Halem, 2018): http://www.halem-verlag.de/im-reich-der-figuren/

Einführender Online-Aufsatz
(Lukas R.A. Wilde: „Kingdom of Characters: Die ‚Mangaisierung‘ des japanischen Alltags aus bildtheoretischer Perspektive“ In: Visual Narratives – Cultural Identities. Special-Themed Issue of VISUAL PAST, 3 (1), 2016, S.615-648): http://www.visualpast.de/archive/pdf/vp2016_0615.pdf

Unser Gastautor:

Dr. Lukas R.A. Wilde ist Mitarbeiter am Sonderforschungsbereich 923 „Bedrohte Ordnungen“ der Eberhard Karls Universität Tübingen. Er studierte an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und der Gakugei Universität Tokyo in den Fächern Theater- und Medienwissenschaften, Japanologie und Philosophie. Im Jahr 2017 schloss er ein bild- und medienwissenschaftliches Dissertationsprojekt ab, das die ‚Manga-isierung‘ öffentlicher Räume in Japan und die Implementierung von transmedialen ‚Figuren‘ (kyara) in funktionaler Kommunikation zum Gegenstand hatte. Er ist Mitglied des Koordinationsteams der AG Comicforschung der Gesellschaft für Medienwissenschaften (GfM), Co-Organisator der Webcomic-Initiative Comic Solidarity und Redakteur des Online-Magazins der Gesellschaft für Comicforschung (ComFor).

Lukas Wilde