Sind Praktikant*innen nichts anderes als billige Arbeitskräfte?
Von Marie-Luise Michel
Praktika sind zur beruflichen Orientierung gedacht und sollen meist Studierenden dabei helfen, neue Fähigkeiten zu erlernen. Gewöhnliche Arbeitsplätze sollen dabei nicht ersetzt werden. Genau das ist heutzutage aber immer öfter der Fall.
Julien hat als Praktikant bei Jung von Matt in Stuttgart angefangen – inzwischen arbeitet er als Festangestellter für die Werbeagentur. Auf die Frage, inwiefern sich seine tägliche Arbeit dadurch geändert hat, sagt er: “Von der Verantwortung ist das relativ ähnlich. […] Ich kann jetzt nicht sagen, ob mehr oder weniger Verantwortung, aber einfach andere Verantwortungen.” Während seiner Praktikumszeit hat er Kunden betreut und das Projektmanagement übernommen. Zu seinen neuen Aufgaben zählen jetzt die Konzeption und das Design von Werbekampagnen, aber auch Verantwortung für sein Team zu übernehmen. Die Aufgaben, die Julien zuvor zum Praktikantengehalt übernommen hat, werden durch den Wechsel zur Festanstellung um einiges besser bezahlt.
Win-Win auf beiden Seiten
Es macht den Anschein, als würde der Arbeitgeber die Vorzüge eines qualifizierten Studenten ausnutzen. Denn wie in diesem Fall profitiert die Agentur davon, wenn bei Projekten nur ein Praktikantengehalt abgezogen wird. Man kann Jung von Matt allerdings nicht unterstellen, dass der Betrieb nur durch die Unterstützung von Praktikanten erfolgreich läuft. Praktikanten können sehr viel lernen, und die Möglichkeit sich weiterzubilden, ist generell relativ groß. Deshalb kann man von einer Win-Win-Situation auf beiden Seiten sprechen.
Mehr Praktikanten als Festangestellte
Die meisten gehen vermutlich mit der Erwartung etwas Neues zu lernen an ein Praktikum. Man möchte sich etwas von der Expertise der Festangestellten abschauen und Feedback für die eigene Performance erhalten. Nicht selten stimmen die Vorstellungen nicht ganz mit der Realität überein. Gerade bei Startups kann es vorkommen, dass Praktikanten die Position eines Festangestellten übernehmen und nicht nur in dem Bereich eingesetzt werden, für den sie sich beworben haben.
Rita hat als Praktikantin im Marketing-Bereich eines Londoner Startups angefangen, das “healthy snacks” wie vegane Müsliriegel vertreibt. Das Unternehmen befindet sich noch in seinen Anfängen und beschäftigt mehr Praktikanten als Festangestellte. “Ich muss mir viele Dinge selber beibringen, weil wir nicht so viele feste Mitarbeiter haben, die uns Praktikanten einarbeiten können”, erzählt Rita. Sie sieht die Situation aber auch positiv: Auf diese Weise hat sie die Möglichkeit, an neuen Aufgaben zu wachsen und einen Einblick in die verschiedenen Bereiche eines Unternehmens zu bekommen. Viele Startups kämpfen zu Beginn ums Überleben, bevor sie sich am Markt etablieren können. Es scheint daher häufig finanzielle Gründe zu haben, dass Praktikanten und nicht Festangestellte einen Großteil der Aufgaben übernehmen. Wer sich für ein Praktikum in einem Startup entscheidet, sollte das vielleicht im Hinterkopf behalten.
Branchenübergreifendes Problem
Auch in der Filmindustrie werden schon seit Jahren immer häufiger Praktikanten für Produktionen verpflichtet, bei denen sie für eine unangemessene Bezahlung eine hohe Leistung erbringen. Der stellvertretende ver.di-Vorsitzende Frank Werneke bezeichnet das als “ein unerträgliches Ausmaß an fehlender Wertschätzung für ihre Arbeit” und rechnet damit, dass sich dieser Zustand in den kommenden Jahren noch verschlimmern wird.
Wie sich zeigt, vereint dieses Problem verschiedenste Berufszweige. Der Unterschied zwischen Praktikum und Arbeitsverhältnis wird oftmals nicht ernst genommen, obwohl beide Bereiche sich klar voneinander trennen lassen. Das Praktikum ist befristet und zeichnet sich durch ein konkretes Ziel aus: sich zusätzlich zu qualifizieren. Bei dem Arbeitsverhältnis steht laut Gesetz die Leistung im Vordergrund. Bleibt abzuwarten, in welche Richtung sich dieser “Trend” in den nächsten Jahren entwickeln wird.
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