Parallelwelt Lebensmittelindustrie: Warum ein investigativer Journalist keine Tütensuppe mehr isst

Von Deborah Hohmann und Anna Möhrle

Bluff, Lüge, Mafia, tödlich – das Vokabular seiner Sachbücher ist provokant, erscheint auf den ersten Blick gar hetzerisch. Doch im Grunde genommen will der ehemalige Spiegel-Redakteur Hans-Ulrich Grimm all das nicht – weder hetzen, noch warnen, noch nicht mal zu etwas raten. Mit seinem Fokus auf die Lebensmittelbranche will er die Verbraucher informieren und dabei das Augenmerk auf Marketing-Strategien legen, die teilweise ganz bewusst Gesundheitsrisiken verschleiern. Kein Wunder also, dass von ihm oft als „investigativen Food-Journalisten“ gesprochen wird. Doch ist er das wirklich? Wie er aus der Pädagogik-Vorlesung zum Journalismus kam, weshalb es ihm ausgerechnet die Lebensmittelbranche angetan hat und warum seiner Meinung nach jeder Journalist investigativ arbeiten sollte – das und vieles mehr hat er uns verraten.

Die Hühnersuppe aus der Knorr-Tüte – was einst sein Lieblingsgericht war, dient heute als das Lieblings-Negativbeispiel von Hans-Ulrich Grimm bei Vorträgen oder Lesungen aus seinen Sachbüchern. Diese tragen provokante Titel wie „Garantiert gesundheitsgefährdend – Warum uns die Zuckermafia krank macht“ oder „Der Bio-Bluff“. Grimms Ziel: dem Verbraucher Zusammenhänge und Hintergründe der Lebensmittelbranche zugänglich machen. Das erklärt uns der Journalist und Sachbuchautor bei seinem Besuch des Seminars im Fach Wissenschaftskommunikation. Das Seminar soll uns als Masterstudierende der Medienwissenschaft die vielfältigen Berufsfelder der wissenschaftlichen Kommunikation näherbringen. Grimm ist einer der verschiedenen Gäste, die im Seminar von ihrem Beruf berichten und es damit für uns greifbarer machen. Die Spannweite reicht von traditionellen Tätigkeiten im Journalismus einerseits und in PR- und Kommunikationsabteilungen von Forschungseinrichtungen andererseits, bis hin zu Youtubern und Bloggern, die neuere Formate für die Wissensvermittlung nutzen.  

Als Journalist und Sachbuchautor gehört Grimm eher zum klassischen Wissenschaftsjournalismus. Sein Fokus: die „Parallelwelt“ der Lebensmittelindustrie. Entdeckt hat er diese durch seine Arbeit als Spiegel-Korrespondent. Er besuchte zahlreiche Fachmessen und -kongresse der Lebensmittelbranche, die ihn zunächst tief bestürzten – und dann dazu bewegten, die Verpackung seines Lieblingsgerichts gründlich zu studieren. „Das wusste ich alles vorher gar nicht, dass es eine ganze Industrie gibt, die Geschmack herstellt – und zwar nachträglich!“ Kurzerhand entschließt er sich, der Herstellung seiner LieblingsTütensuppe einmal genauer auf den Grund zu gehen. Beim Besuch des Lebensmittelherstellers Knorr fand er heraus, dass der Geschmack der Hühner-Suppe trügt: „Da stecken zwei Gramm Trockenhuhn drin. Das hat also mit Huhn nichts mehr zu tun!“ Täuschungen wie dieser sei der Verbraucher schonungslos ausgeliefert. Mit seiner Arbeit will er dem entgegenwirken – und nimmt dabei auch hinsichtlich großer Konzerne wie Coca-Cola und Maggi kein Blatt vor den Mund – schließlich versteht er sich als Nahrungskritiker. „Es ist ja nicht verboten, Firmennamen zu nennen“, erklärt er. Am Ende komme es darauf an, dass alles, was man schreibt, korrekt ist.

Die Auswirkungen der Zuckerlobby

Um das zu gewährleisten, wälzt Grimm wissenschaftliche Studien und arbeitet mit Ärzten und Wissenschaftlern zusammen, wie er uns im Anschluss an das Seminar im Interview erklärt. So hat bei der Recherche für sein Buch „Die Ernährungsfalle: Wie die Lebensmittelindustrie unser Essen manipuliert“ der australische Diabetesforscher Paul Zimmet eine wichtige Rolle gespielt. Anhand dessen Studien, die er im Auftrag der Weltgesundheitsorganisation durchgeführt hat, belegt Grimm die Auswirkungen des Konsums zuckerhaltiger Produkte.

Über die Schäden industriell hergesteller Nahrungsmittel.

Im Buch beschreibt er die Problematik der Verwestlichung von Lebensstilen im Zusammenhang mit Zucker: „Der billigste Kalorienträger, den die Food-Fabriken bekommen können, von angenehmem Geschmack, oft genug staatlich subventioniert, lang haltbar, leicht zu transportieren. So wird die Welt von einer gigantischen Zuckerschwemme heimgesucht.“ Besonders der Import amerikanischer Produkte, wie beispielsweise Coca-Cola, habe oft gravierende Folgen – Diabetes-Erkrankungen sind ganz vorne mit dabei. Ein besonders gravierendes Beispiel: die Pazifikinsel Nauru. Hier sei Diabetes bis 1954 fast nicht existent gewesen. Das hat sich drastisch geändert, wie Grimm anhand der Ergebnisse von Zimmet zeigt: Heute leidet knapp jeder zweite Nauruaner an der Blutzuckerkrankheit, außerdem herrscht in der Bevölkerung immenses Übergewicht.

Grimms Tätigkeit bietet also einen Blick hinter das Werk von Lebensmittelherstellern und ist gleichzeitig ein Appell an den Verbraucher, die Machenschaften dieser zu hinterfragen. Die Themenpalette ist hierbei breit gefächert – dabei folgt er stets seinem eigenen Instinkt und Interesse und orientiert sich an aktuellen Diskussionen in der Gesellschaft. In manchen Fällen kommen Themenvorschläge auch direkt vonseiten der Verlage.  

Vom Hörsaal über den Spiegel zum Sachbuchautor

Da der Journalismus für viele von uns in der Medienwissenschaft zu den vorstellbaren Berufen gehört, interessiert uns natürlich auch: Wie ist Grimm zu seinem Beruf gekommen? „Ich habe immer gerne geschrieben, das hat mir schon immer Spaß gemacht“, erklärt Grimm. Dass er damit aber mal als Journalist und Sachbuchautor arbeiten würde, war anfangs nicht geplant.
An der Uni Heidelberg hat er Geschichte, Germanistik und Erziehungswissenschaft studiert – und wollte damit Gymnasiallehrer werden. Nach dem Staatsexamen gehörte er jedoch leider nicht zu den Glücklichen, die eine Stelle bekamen. Und entschied sich kurzerhand um: Er würde Journalist werden. Seine Leidenschaft fürs Schreiben habe ihm die Planänderung leicht gemacht. „Ich hab‘ an der Uni auch Flugblätter geschrieben. Und meine Dissertation wurde kritisiert, weil sie so journalistisch gehalten war“, erinnert er sich lachend. Er schrieb zunächst als freier Mitarbeiter bei der Schwäbischen Zeitung und absolvierte anschließend ein Volontariat. „Die Lokalzeitung ist die harte Schule des Journalismus“, so Grimm. Grund dafür sei der unmittelbare Kontakt zum Leser, wie bei einer Lokalzeitung üblich. Denn schreibt man wie er Glossen und kritische Artikel, kommt man nicht an der direkten Reaktion vorbei – so hat sich Grimm als Lokalredakteur in einigen Auseinandersetzungen mit Lesern wiedergefunden, wie beispielsweise mit einem wütenden Küchenchef, über dessen Restaurant er eine schlechte Kritik geschrieben hat.

„Jeder Journalist sollte investigativ arbeiten“

Als er nach seinem Volontariat beginnt, für den Spiegel zu schreiben, bemerkt er den großen Unterschied hinsichtlich des investigativen Arbeitens: „Als ich eingestellt worden bin, hat der Ressortchef zu mir gesagt: ‚Für die Recherche spielt das Geld keine Rolle.‘“ Auch die Zeit ist ein wesentlicher Faktor: Anders als in der Redaktion der Tageszeitung habe er sich hier richtig Zeit für ein Thema nehmen können. „Und was beim Spiegel auch eine große Rolle spielt, ist die Faktenüberprüfung.“ Denn alles, was man schreibt, werde von einem Dokumentar und der Rechtsabteilung geprüft. „Das wird alles x-mal durchgecheckt, so dass auch wirklich niemand etwas Falsches schreibt. Das gibt’s im Lokalen so natürlich nicht.“ Trotz der Unterschiede zum Lokaljournalismus steht für ihn eins fest: „Jeder Journalist sollte investigativ arbeiten.“ Denn das Hinterfragen von Tatsachen und Aufdecken von Missständen gehöre auf jeder Ebene des Journalismus dazu – bei der Lokalzeitung genauso wie beim Spiegel oder Panorama.

Mittlerweile konzentriert sich Grimm hauptsächlich auf seine Sachbücher – seiner Meinung nach das perfekte Medium für seine investigativ recherchierten Ergebnisse: „Man hat einfach viel Platz und kann ein Thema über eine riesige Strecke entfalten“, schildert er. Die große Herausforderung sei es, die Leute „bei der Stange zu halten.“ Denn was am Ende lässig und spannend zugleich klingt, ist das Ergebnis eines schwierigen und anstrengenden Arbeitsprozesses: „Einer hat’s schwer, entweder der Autor oder der Leser. In meinem Fall ist es der Autor“, meint Grimm mit einem Augenzwinkern. Mit dem Medium Buch sei man auch um einiges unabhängiger – bei seinen Reportagen oder Hintergrund-Artikeln für Zeitungen und Magazine sei er nicht selten dazu angehalten worden, nicht zu kritisch über gewisse Firmen zu schreiben. Nämlich die, die in der jeweiligen Zeitung Werbeanzeigen schalten und sich das nach einem negativen Bericht nicht selten nochmal überlegen.

Bloggen? – „Eigentlich ganz demokratisch!“

Auch den Einsatz neuer Medien sieht er positiv. So betreibt er seit einigen Jahren den Blog Dr. Watson – Der Food-Detektiv, auf dem sich Verbraucher zu Ernährungs- und Gesundheitsthemen informieren können. Er findet es wichtig, den Menschen die Möglichkeit zu geben, auf Informationen zugreifen zu können. Und den Werbeeffekt für seine Bücher nimmt er auch mit. Vom Bloggen hält er grundsätzlich sehr viel – es sei doch demokratisch, dass jeder „mitmachen“ darf. Und es seien damit neue Möglichkeiten hinzugekommen, Geld zu verdienen – denn gehaltsmäßig ging es für Journalisten in den letzten 20 Jahren abwärts. Was die Online-Medien angeht, bestehe aber noch Handlungsbedarf – seiner Meinung nach sollten hier dieselben Maßstäbe wie im Printjournalismus gelten.
Was er angehenden Journalisten mit auf den Weg gibt? „Neugierde und mit offenen Augen durch die Welt zu gehen“, das sei das wichtigste in seinem Beruf. Und vor allem, sich nichts vormachen zu lassen: „Alles sehen, nichts glauben.“ Was uns dann doch ein bisschen überrascht hat: Grimm macht den Großteil seiner Arbeit von seinem Schreibtisch zuhause aus. Auf Recherchereise geht er natürlich trotzdem – rund anderthalb Monate im Jahr ist er unterwegs. Den Rest der Zeit verbringt er vor allem damit, sich in Studien einzulesen und damit das Beste aus der Recherche herauszuholen. Er sei eben eher der „Stubenhocker“, erklärt er lachend.

Grimms Arbeitsweise ist eine von vielen, schließlich hat man gerade als Autor und freier Mitarbeiter oft die Möglichkeit, sich den Arbeitstag selbst einzuteilen und damit den eigenen Beruf mitzugestalten. Definitiv ein Vorteil, finden wir. Auf welchem Weg man zu seinem Ziel kommt, muss man am Ende wohl selbst herausfinden – ob Recherche im Alleingang wie bei Grimm oder aber Kontakt zu anderen, im Sinne von Protagonisten oder auch Teamwork. Daher kann seine Arbeitsmethode natürlich nicht stellvertretend für ein ganzes Berufsbild stehen. Uns hat Hans-Ulrich Grimm aber einen Eindruck davon vermittelt, wie investigatives Arbeiten aussehen kann, vor allem auch im Hinblick auf unterschiedliche Medien, und welche Arbeitsprozesse dahinterstecken.

Wer mehr über den investigativen (oder auch den „normalen“) Journalismus wissen möchte, empfehlen wir die Website des Deutschen Journalistenverbands. Hier gibt es zahlreiche Infos zu Einstiegsmöglichkeiten und Berufsbild. 

Wer mehr über den investigativen (oder auch den „normalen“) Journalismus wissen möchte, empfehlen wir die Website des Deutschen Journalistenverbands. Hier gibt es zahlreiche Infos zu Einstiegsmöglichkeiten und Berufsbild.