Ethik im Angesicht des Todes
Von Philipp Mang
Hollywoods Serienlandschaft wird von kontroversen Persönlichkeiten geprägt. Da gibt es etwa einen krebskranken Chemielehrer, der mit ehemaligen Schülern Drogen kocht (Breaking Bad); intrigante Adelige, die für ihre Herrschaft über Leichen gehen (Game of Thrones) oder Professorinnen, die ihre Studenten lehren, wie man mit Mord davon kommt (How to get away with Murder). Moderne TV-Serien, so scheint es, wollen nicht länger allein unterhalten – sondern provozieren, zum Nachdenken anregen. Und dieser Plan geht auf: Kein anderes Medienprodukt bringt derzeit seine Anhänger so leidenschaftlich zum Diskutieren, wie die neueste Lieblingsserie.
Unerwartet tiefgründig
Auch der dystopische Horror in The Walking Dead sorgt jede Woche für hitzige Debatten. Das ist insofern überraschend, da die Serie in der Öffentlichkeit häufig nur auf seine exzessiven Gewaltdarstellungen reduziert wird. Tatsächlich werden zwischen den brutalen Splatter-Szenen allerdings überraschend tiefgründige Geschichten erzählt. Nicht selten werden die Charaktere in den ruhigen Zwischensequenzen vor moralische Dilemmata gestellt. Was genau ist aber darunter zu verstehen? Ein moralisches Dilemma (von lat. moralis = „die Sitte betreffend“) bezeichnet zunächst einmal eine komplexe Ausgangssituation, bei der jede Entscheidung unweigerlich zur Verletzung von geltenden Wertvorstellungen führt – das heißt: Egal, wie man es dreht und wendet, eine „richtige“ Lösung gibt es nicht. Der betreffende Charakter steckt damit im wahrsten Sinne des Wortes in der Zwickmühle. Und das geschieht in TWD öfter, als man auf den ersten Blick denkt.
Rassenkonflikt 2.0
Gleich zu Beginn der Serie wird Ricks moralischer Kompass zum ersten Mal auf die Probe gestellt, als der ehemalige Deputy auf einem Hochhausdach in Atlanta auf potentielle Gefährten trifft. Dabei kommt es in der Gruppe zwischen dem afroamerikanischen T-Dog und dem weißen Rassisten Merle zu einer brutalen Auseinandersetzung. Rick entscheidet deshalb Merle angekettet auf dem Dach des Kaufhauses zurück zu lassen. Aber ist es wirklich moralisch vertretbar, einen Menschen nur wegen seiner (falschen) Überzeugungen hilflos seinem Schicksal zu überlassen? Auch Rick beginnt seine Entscheidung in der Folge kritisch zu hinterfragen. Er entschließt sich nach Atlanta zurückzukehren und Merle zu retten – trotz seiner rassistischen Einstellung bleibt dieser nämlich immer noch ein Mitglied der Gruppe, das nicht einfach den blutrünstigen Zombies geopfert werden darf.
Kindheit? Fehlanzeige!
Neben Fremdenhass sorgt aber auch das Thema Erwachsenwerden für reichlich ethischen Zündstoff in der Serie. Anfänglich geht es dabei vor allem um die Frage, ob Ricks Sohn Carl bereits als Teenager im Gebrauch von Schusswaffen ausgebildet werden sollte. Im Laufe der vierten Staffel droht sich dieser schwelende Konflikt schließlich zu einem Flächenbrand auszuweiten, als die Gruppe um Rick im Gefängnis einen sicheren Zufluchtsort findet. Vom Tod der eigenen Tochter immer noch traumatisiert, beschließt Carol hier den Kindern heimlich Unterricht im Töten zu erteilen und stößt damit auf massive Kritik bei ihren Gefährten, die ihre Schützlinge möglichst normal aufwachsen sehen wollen. TWD wirft an dieser Stelle also die Frage auf, inwiefern die Kindheit als schützenswerte Lebensphase in einer Apokalypse noch Bestand hat – in einer Welt voller Untoten, in der man entweder Schlächter oder Schlachtvieh ist, können es sich Kinder da überhaupt noch leisten, verletzlich zu sein?
Das „Beißer“-Dilemma
Als zusätzliche moralische Unruhestifter erweisen sich schließlich die Untoten. Bereits in der Pilotfolge trifft Rick etwa auf den Familienvater Morgan Jones, dessen Frau sich in einen Zombie verwandelt hat und seither beharrlich die Nähe ihrer Familie sucht. Wider besseres Wissen kann Jones nicht aufhören, in dem Walker die Mutter seines Sohnes zu sehen. Selbst mit einem Gewehr bewaffnet schafft er es nicht die Frau, die er einmal geliebt hat, zu töten – obwohl diese Sterbehilfe ethisch gesehen durchaus nachvollziehbar wäre. Dies hat fatale Folgen: Auf der Suche nach Essen wird Morgans Sohn Duane schließlich von seiner eigenen Mutter gebissen.
Heilung für die Kranken
Auch der Farmer Hershel Greene kann sich lange Zeit nicht dazu durchringen, Zombies zu töten. Anders als die Gruppe um Rick glaubt der Farmer nämlich fest an die Heilung der, in seinen Augen, kranken Menschen und an ein Medikament, das die Untoten eines Tages zurück ins Leben holt. Ähnlich wie Morgan kann Hershel die einst menschliche Seite der Monster nicht ignorieren – er sieht in ihnen immer noch ehemalige Nachbarn, Freunde und Verwandte. Deshalb schießt er den Zombies auch nicht einfach ins Gehirn, sobald sie einen Fuß auf das Gelände seiner Farm setzen, sondern sperrt sie lediglich in eine nahegelegene Scheune. Erst als die Gruppe um Rick von diesem Hort erfährt und alle Untoten kurzerhand niederschießt, erkennt Hershel in welche Gefahr er seine Familie gebracht hat. Er begreift, dass sich seine Hoffnung auf ein Heilmittel wohl niemals erfüllen wird.
Anschauungsunterricht aus der Flimmerkiste?
Alles in allem ist TWD also mehr als ein blutiges Zombie-Gemetzel. Für Erfinder Robert Kirkman liefern die Monster gar nur den erzählerischen Rahmen, innerhalb dessen die beteiligten Charaktere mit überraschenden Zwickmühlen zurechtkommen müssen. Der Zuschauer wird dabei immer wieder zur Selbstreflexion gebracht: Wenn alle gesellschaftlichen Regeln zerfallen, wer bist du dann noch – ohne die Unterstützung von Gesetzeshütern, Regierung und Militär? Wie weit bist du bereit zu gehen, um diejenigen zu schützen, die du liebst? Welche gesellschaftlichen Tabus wirst du brechen? Die Serie liefert auf all diese Fragen zwar keine unmittelbare Antwort, doch sie zeigt, dass ein Mensch auch in einer Extremsituation wie der Apokalypse durchaus noch moralischen Standards folgen kann.
Fotos: flickr.com/carnagenyc (CC BY-NC 2.0), flickr.com/Paul Downey (CC BY 2.0), flickr.com/Julia Manzerova (CC BY-ND 2.0)
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