Endlose Leinwände und digitale Comics
Autor: Marius Lang
Illustration: Henrike Ledig
Mit dem Wandel der Technologie geht immer auch ein Wandel der Medien einher. Der Film hat sich seit seinen Anfängen in einem konstanten Zustand der Veränderung befunden, stets beeinflusst von neuen Technologien zur Produktion, Speicherung und Sendung an die Adressaten. Von den ersten bewegten Bildern der Gebrüder Lumière über den Tonfilm, den Farbfilm, Fernsehen, VHS, DVD und schließlich das Internet und Portale wie Netflix, immer haben technische Neuerungen den Film mit beeinflusst. Dies ist bei dem Medium des Comics nicht anders. Neuere Methoden der Zeichnung, Kolorierung und des Drucks haben den Stil des Comics geprägt und verändert. Und auch das Internet mit all seinen Schwierigkeiten und neuen Möglichkeiten für das Medium trägt dazu bei, dass sich Verlage, Künstler und Leser von Comics immer mehr mit diesem Feld auseinandersetzen. Digitale Comics sind das Stichwort: Einige sehen in ihnen ein Problem, ein Risiko für die Industrie. Andere bleiben optimistisch und sehen gleichermaßen neue Möglichkeiten für die Kunst und den Vertrieb und damit auch für die Leser. Eine gesunde Einstellung, erst recht in einem Medium, dass gerade dieser Tage die Basis gewaltiger Franchises in Film und TV bildet.
Panels auf dem Bildschirm
Nun stellt sich die Frage, was genau Digitale Comics eigentlich sind. Unter diesem Begriff kann man viele verschiedene Formen des Mediums verstehen. Webcomics, die zumeist exklusiv im Netz einsehbar sind, sind dabei eine der populärsten Inkarnationen. Allerdings zählen auch digitale Versionen von Comics dazu, die oft zusätzlich in gedruckter Form erhältlich sind oder waren. In seinem Buch Reinventing Comics befürwortet Scott McCloud, dass wir unser allgemeines Verständnis von Comics nicht in der gleichen Form auf digitale Comics übertragen können, insbesondere, weil digitale Comics nicht denselben Regeln folgen müssen, denen sich das Print-Format unterwerfen muss. So funktionieren viele digitale Comics nicht auf dem Papier oder lesen sich, wenn sie denn in gedruckter Form erscheinen, teilweise oder gänzlich anders. Vielen Zwängen, denen sich klassische Comics unterwerfen müssen, können digitale Comics durchbrechen. Das eigentlich übliche Konzept, nachdem Comics ihre Erzählung Seite pro Seite staffeln müssen, um den Leser zum umblättern zu bewegen, ist in digitaler Form nicht gegeben. Stattdessen könnten diese Comics ihre Panels ewig nebeneinander legen, ein Konzept, welches McCloud als „infinite canvas“ bezeichnet. Digitale Comics stellen somit Künstler wie Autoren, Verlage und sogar den Leser vor andere, neue Herausforderungen, bringen aber auch völlig neue Möglichkeiten des Storytellings und Lesevergnügens mit sich, mit denen es zu experimentieren gilt.
Konzept der Zukunft?
Neue Möglichkeiten bringen oft eine Sache mit sich: Ängste. Auch digitale Comics sind davon nicht ausgenommen. Eine große Angst, die vor allem große Verlage herumtreibt, ist die Furcht vor Profitverlust. Oft vorgehalten ist die Angst, dass digitale Comics die Verkäufe von gedruckten Comics deutlich mindern würden, dass illegale Downloads und Online-Piraterie zunehmen würden. Diese Ängste haben viele der großen Verleger, insbesondere MARVEL, DC Comics oder Image Comics davon abgehalten, bereits früh auf den Zug aufzuspringen und ihre Produkte auch oder teilweise exklusiv online zu vertreiben. Dabei waren die Möglichkeiten bereits sehr früh vorhanden. 2007 wurde die Online-Plattform ComiXology gegründet, ein cloudbasierter Vertrieb digitaler Comics. 2014 wurde der Betrieb von Amazon.com aufgekauft. Dieser Tage bietet die Website eine breite Auswahl an digitalen Comics an, sowohl von großen Herausgebern als auch von kleineren Independent-Verlagen und freien Künstlern und Autoren. Die digitalen Comics sind oft günstiger als ihre gedruckten Ausgaben und der Erfolg von E-Readern und Tablets als ernstzunehmende Alternative zu Büchern spricht ebenfalls dafür, einen ernsthaften Blick auf digitale Comics als Alternative zum gedruckten Comic zu werfen. Doch auch in einer anderen Hinsicht sind digitale Comics für die Welt von besonderer Bedeutung. Was man nicht vergessen darf ist, dass Comics auch Kunst sind. Kunst, die es zu erhalten gilt.
Viele Comics werden im Print nie neu aufgelegt oder sind nur in teuren Kollektionen noch aufzufinden. Doch die digitale Revolution ermöglicht es uns als Lesern, Comics zu rezipieren, die möglicherweise seit Jahren schon nicht mehr gedruckt werden, da ein Vertrieb auf Papier nicht veritabel wäre. Da viele Kosten, für Papier und Druck etwa, bei digitalen Comics wegfallen, stellen diese für Verlage eine durchaus profitable Möglichkeit dar, Comics der Vergangenheit für die Nachwelt und künftige Leser zu erhalten. Ein weltweit und simpel zugänglicher Tresor, gefüllt mit Geschichten aus der Vergangenheit.
Endlose Leinwand, endlose Möglichkeiten
Es ist freilich schwer zu sagen, was die Zukunft noch für neue Technologien mit sich bringt, die eventuell die Comicwelt erneut revolutionieren. Wichtig ist es, diesen neuen Technologien ihre Chance zu geben und somit möglicherweise neue Wege zu finden, die Welt des Storytellings in Comics neu auszulegen. Ängste, dass das gedruckte Werk deswegen aussterben würde, sind hierbei zwar verständlich, aber sollten niemals im Weg stehen, neue Wege zu gehen und neue Ideen auszutesten. Stattdessen sollten Verlage, Autoren und Künstler sich damit auseinandersetzen, wie man den gedruckten Comic auch in der Zukunft erhalten kann, in Koexistenz mit digitalen Werken. Bücher sind schließlich nicht verschwunden, nur weil E-Books existieren. Und Digitale Comics geben Künstlern neue Möglichkeiten, sich zu verwirklichen. Viele Webcomic-Künstler sind dieser Tage so erfolgreich wie bekannte Comicautoren, eine Leistung, die sie im hart umkämpften Printgewerbe vielleicht nie erreicht hätten.
Digitale Comics haben noch einen weiten Weg vor sich. Doch es ist für alle Beteiligten, Produzenten wie Konsumenten, wichtig, diesen Weg mitzugehen. Scott McCloud sagt, wir sollten digitale Comics mit anderen Augen betrachten als ihre gedruckten Gegenstücke. Doch er bleibt dabei optimistisch, sieht die Möglichkeiten und weniger die Schwierigkeiten. Er plädiert dafür, dass man neue Technologien nutzen sollte, neue Wege der Kunst zu erschließen. Und mit einem Klick können wir völlig neue Comic-Welten betreten.
Empfehlung:
Reinventing Comics: How Imagination and Technology Are Revolutionizing an Art Form – Von Scott McCloud (2000)