Onlinebuchung statt Reisebüro?

von Karina Pflumm

Wer einen Urlaub buchen wollte, ging früher ins Reisebüro – heute gibt es alle Informationen im Internet. Die Tourismusbranche steckt seit einigen Jahren im Wandel. Die größte Konkurrenz für die Reisebüros sind die vielzähligen Onlinebuchungsportale im Internet, die auch von großen Reiseveranstaltern wie Thomas Cook oder TUI betrieben werden. Viele sind nach wie vor der Überzeugung, dass echte Schnäppchen nur im Internet zu finden sind, schließlich unterbieten sich die Portale gegenseitig im Preis. Dennoch werden laut Stiftung Warentest über zwei Drittel aller Reisen im Reisebüro gebucht.

Doch wo gibt es sie denn nun wirklich, die günstigsten Reisen? Und werden es konventionelle Reisebüros in Zukunft noch schwerer haben im umkämpften Tourismusbranchendschungel zu bestehen?

Foto: flickr.com/Variegator (CC BY-NC-SA 2.0)

Frankreich bleibt Charlie

von Sonja Sartor

Der irische Schriftsteller Jonathan Swift sagte einmal: „Satire ist eine Art Spiegel, in dem das Publikum nur die Gesichter anderer Menschen sieht, aber nicht das eigene.“

In Frankreich nimmt Satire eine zentrale Rolle in der Medienlandschaft ein. Doch wie funktioniert französische Satire überhaupt? Wie ist sie entstanden und was sind ihre Besonderheiten? Diesen Fragen soll in diesem Artikel aus der Reihe Medienperspektiven à la française auf den Grund gegangen werden.

Die schwierigen Anfänge der Satire

Die Tradition französischer Satire reicht bis in die Epoche der Aufklärung zurück. Werke von bekannten Schriftstellern wie Montesquieu und Voltaire werden im  19. Jahrhundert zensiert, weil sich darin satirische Züge über Staat, Gesellschaft und Kirche finden. Durch die Milderung der Zensur infolge der französischen Revolution von 1789 wird eine Flut von Plakaten, Flugblättern und Pamphleten ausgelöst, die dazu dienen, die Bürger in eine öffentliche politische Debatte einzubinden. Die Vorzensur von Schriften wird zwar abgeschafft, jedoch müssen sich Autoren nach Veröffentlichung eines Werkes weiterhin vor der willkürlichen Verfolgung durch die Pariser Polizei fürchten. Unter der Jakobinerdiktatur kann ein einziger Hinweis auf die Treue des Autors gegenüber der Monarchie zur Verhaftung, wenn nicht sogar zum Tod durch die Guillotine führen. Ab 1830 verbreiten sich Karikaturen und satirische Elemente in vielen Zeitungen.

1831 zeichnet der Humorist Honoré Daumier König Louis-Philippe I. als Gargantua, eine saufende und nimmersatte Romanfigur von François Rabelais. Was für ein Affront! Für diese Verunglimpfung des Königs büßt der Karikaturist sechs Monate im Gefängnis ein. Bis zur Presse- und Meinungsfreiheit wie sie Frankreich heute kennt, ist es noch ein langer Weg.

Bissig, bissiger, Charlie Hebdo

Die wichtigsten Satirezeitschriften Frankreichs, die noch heute die französische Medienlandschaft prägen, entstehen im 20. Jahrhundert. Le Canard enchaîné wird bereits während des Ersten Weltkrieges ins Leben gerufen, Charlie Hebdo dagegen erst 1970.

Satire2Der Erfolg der satirischen Wochenzeitung Le Canard enchaîné mit dem witzigen Namen (dt. Die gefesselte Ente) ist ungebrochen. Die Zeitung mit einer Auflage von ca. 700.000 Exemplaren setzt nicht nur auf Satire, sondern auch auf Enthüllungsjournalismus und ist so schon einigen Politikern brandgefährlich geworden. So trat die Außenministerin Michèle Aillot-Marie 2011 zurück, nachdem die Satirezeitung aufgedeckt hatte, dass die Politikerin Kontakte zum tunesischen Ex-Diktator Ben Ali pflegte und während der Unruhen Urlaub in Tunesien machte. Gute Kontakte in höhere Kreise haben der Zeitung schon so manchen Scoop verschafft; man sagt, Le Canard Enchaîné besäße das beste Informantennetzwerk Frankreichs.

Satire3Zwar ist Le Canard Enchaîné die traditionsreichere der beiden Satiremedien, jedoch ist Charlie Hebdo mindestens genauso bedeutend. Charlie Hebdo fällt auf mit seinen grellen Comics, Fotomontagen und großformatigen provokativen Karikaturen, die keine Rücksicht auf jegliche Institution oder Persönlichkeit nehmen. Die Wochenzeitung ist die bissigste aller französischen Satiremedien und wurde bereits 14 Mal verklagt – und hat dabei keinen einzigen Prozess verloren. Das deutsche Satiremagazin Titanic ist im Vergleich dazu relativ harmlos. Religiöse Satire über Islam, Juden- und Christentum sind ein fester Bestandteil der Zeitung. Charlie Hebdo gehört auch zu den wenigen Zeitungen in Europa, die die Mohammed-Karikaturen 2007 abdruckte und um eigene Persiflagen erweiterte. Die Bedrohung durch Extremisten war schon  vor 2015 reeller, als den Zeichnern lieb war. Das Pariser Büro wurde 2011 durch einen Brandanschlag verwüstet, der bis heute nicht aufgeklärt werden konnte. Einige Karikaturisten standen wegen Morddrohungen unter Polizeischutz. Am 7. Januar 2015 erschossen zwei Terroristen zehn Mitglieder der Redaktion, darunter der berühmte Zeichner Charb alias Stéphane Charbonnier. Medien weltweit zeigten sich tief erschüttert und bekundeten ihre Solidarität mit dem französischen Satireblatt.

Weitermachen, trotz allem

Und wie steht es nun um Charlie Hebdo nach den Anschlägen? In einem Interview mit dem Tagesspiegel beklagt der Chefredakteur Gérard Biard neben den psychischen Auswirkungen auf das Team auch die schwierige Suche nach talentierten Karikaturisten: „Wir versuchen, nicht daran zu denken, was passiert ist. Wir machen weiter, trotz all der Schwierigkeiten. Wir müssen sehr gute Zeichner finden, aber uns wird immer klarer, wie herausragend die getöteten Kollegen Charb, Honoré, Wolinski, Tignous und Cabu waren. Auch wenn es hart klingt: Viele Karikaturen sind nicht gut genug.“

Auch die Arbeitsweise der Redaktion selbst hat sich verändert, so die Zeichnerin Coco Rey gegenüber der Welt: „Wir sind nicht mehr das kleine Käseblatt, das in der Ecke vor sich hin arbeitet und nicht mal 30.000 Abonnenten hat. Wir wissen, dass Charlie jetzt weltweit gelesen wird. Also achten wir darauf, dass die Botschaft unserer Zeichnungen klar und eindeutig ist. Wir können uns nicht das geringste Missverständnis leisten. Wir versuchen natürlich, die Finesse, die Ironie, die Satire beizubehalten, hüten uns aber vor doppeldeutigen Botschaften. Aber ich bedauere es, dass ein so tragisches Ereignis nötig war, um den Leuten klarzumachen, wie wichtig und sogar notwendig Charlie für unsere Demokratie und die Freiheit der Meinungsäußerung ist.“

Frankreich bleibt Charlie. Es braucht Satire als Ausdruck freier Meinungsäußerung. Die Karikatur ist etwas typisch Französisches. Mit der Kraft von Stift und Papier wird gegen Staat, Kirche, Extremisten in allen Bereichen, gegen Missstände in Wirtschaft und Gesellschaft protestiert. Satire schaut den Politikern auf die Finger und hält der Gesellschaft den Spiegel vor. Satire ermöglicht, Dinge aus einer anderen Perspektive als die der klassischen Medien zu sehen. Satire ist vor allem Bestandteil einer funktionierenden Demokratie, in der Kritik am System nicht nur geduldet, sondern willkommen ist.

Fotos: flickr.com/Esther Vargas (CC BY-SA 2.0), flickr.com/Mona Eberhardt (CC BY-SA 2.0), flickr.com/Rob Watling (CC BY-NC-ND 2.0)


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Filmkritik: Tomorrow – die Welt ist voller Lösungen

von Sonja Sartor

Als Mélanie Laurent 2012 die Studie „Approaching a state shift in Earth’s biosphere” liest, ist die Schauspielerin geschockt. Die Autoren Anthony Barnosky und Elizabeth Hadly prognostizieren darin den Zusammenbruch der Zivilisation in den nächsten 40 Jahren. Laurent ist zu dem Zeitpunkt schwanger und die Vorhersage nimmt sie so mit, dass sie „den ganzen Tag weint“, sie ist verzweifelt. Soll ihr Kind das Ende des Ökosystems dieses Planeten miterleben? Ist es schon zu spät zu handeln?

Anstatt aufzugeben und sich dem Schicksal zu ergeben, fasst Laurent zusammen mit dem befreundeten Umweltaktivisten Cyril Dion einen Beschluss: Sie werden einen Film drehen. Aber nicht einen Film wie Dutzende davor, der ein Horrorszenario nach dem anderen durchspielt, sondern einen, der zeigt: Die Welt ist voller Lösungen.

Wie man mal kurz die Welt retten kann

Das französische Filmteam um Dion und Laurent beginnt mit seiner Reise um die Welt und das Publikum taucht in das erste Kapitel ein: Die Landwirtschaft. Während die Anbauflächen immer weniger werden, nimmt die Weltbevölkerung stetig zu. Es werden die Fragen aufgeworfen: Welche innovativen Anbaumöglichkeiten in Stadt und Land gibt es? Wie kann man verhindern, dass riesige Agrarkonzerne die Kleinbauern in den Ruin treiben?

Tomorrow 2Den ersten Stopp machen Laurent und Dion im Norden ihres Heimatlandes und entdecken eine Gemüsefarm, die sich dem Zwischenfruchtanbau sowie der Permakultur verschrieben hat. Die Besitzer der Farm, Perrine und Charles Hervé-Gruyer, zeigen stolz ihren unübersichtlichen, aber charmanten Bio-Irrgarten irgendwo im Nirgendwo. Die Pflanzen werden auf begrenztem Raum angepflanzt, das Basilikum wächst unter der Tomate. Pestizide brauchen die Bauern nicht, denn der intensive Geruch des Basilikums hält Ungeziefer von allein fern.

6000 Kilometer Luftlinie entfernt ist das Ausmaß der industriellen sowie landwirtschaftlichen Monokultur nicht zu übersehen. Verlassene Wohnhäuser, leergefegte Kirchen und verfallene Fabrikgelände prägen das Stadtbild vieler Viertel im amerikanischen Detroit. Die Blütezeit der einstigen Autometropole ist vorbei, Firmen wanderten ab, die Zahl der Arbeitslosen stieg und Supermarktketten verschwanden aus der Stadt. Zugang zu gesunder Nahrung? Fehlanzeige. Aber Detroit hat eine kluge Lösung gefunden, mit der die 700.000-Einwohnerstadt die Lebensmittelversorgung seiner Bewohner gewährleisten kann. Das Stichwort heißt „Urban Gardening“. Brachland mitten in der Stadt wird in Gemüsegärten umgewandelt. Arbeitslose finden so eine Beschäftigung und die Detroiter haben Zugang zu lokalen und gesunden Produkten.

Tomorrow3In England finden Laurent und Dion einen Ansatz, der auch in einigen deutschen Städten angewendet wird. In dem kleinen Städtchen Totnes kann man statt in britischen Pfund auch in „Totnes Pound“ zahlen. Die Lokalwährung unterstützt die hiesigen Geschäfte. Laut den Filmemachern könnte auch in Griechenland eine regionale Währung der Schlüssel zum Erfolg sein, da erwirtschaftete Gelder in der heimischen Wirtschaft blieben und nicht in den internationalen Geldkreislauf zurückfließen würden.

Beim Thema Energie beeindruckt Island mit seiner Fortschrittlichkeit. Die Insel profitiert von seinen Geysiren, Vulkanen und heißen Quellen und versorgt mittlerweile 90 Prozent der Haushalte über Wasserdampf mit Wärme. Lösungen über Lösungen – die Welt ist voll davon.

Eine Botschaft, die alle betrifft – nicht nur Ökos

Der 118-minütige Dokumentarfilm, der bereits mit einem César ausgezeichnet wurde, setzt neue Maßstäbe. Er wühlt nicht in den unzähligen Problemen, die der Klimawandel mit sich bringt, sondern liefert konkrete und inspirierende Lösungsansätze. Nicht alle Lösungen hauen den deutschen Zuschauer vom Hocker, darunter das ambitionierte Zero-Waste-Projekt aus San Francisco, bei dem Müll vorbildlich getrennt wird. Dennoch sind solche Projekte ein Hoffnungsschimmer, der zeigt, dass auch anderen Ländern bewusst wird, dass Ressourcen kostbar sind und Wiederverwertung ein notwendiger Schritt ist. Außerdem reibt der Film dem Zuschauer nicht belehrend unter die Nase, was er im Moment alles Schlechtes tut, sondern verbreitet von Beginn an eine positive Grundstimmung. Trotz der ernsten Thematik gibt es immer wieder Momente, in denen man lacht, schmunzelt und staunt.

Besonders angenehm ist, wie sehr sich das Filmteam zurücknimmt. Selten sind die Kameraleute und die beiden Regisseure Dion und Laurent im Bild. Sie betonen damit, was wirklich zählt. Denn „Tomorrow – Die Welt ist voller Lösungen“ lebt vor allem von den Personen, die nicht zuschauen, sondern handeln. Und das mit vollem Einsatz und voller Begeisterung für ihr Projekt. Wenn der französische Geschäftsführer einer Briefumschlagfabrik dem Zuschauer erklärt, wie er und seine Mitarbeiter es schaffen, eine umweltfreundliche und nachhaltige Produktion auf die Beine zu stellen, bei der immer weniger Ressourcen verbraucht und in einen ausgeklügelten Kreislauf eingespeist werden, kommt man aus dem Staunen nicht mehr heraus. Gern hätte man mehr davon.

Mélanie Laurent trifft auf den Punkt, was die interviewten Aktivisten auszeichnet: „Die Personen in unserem Film haben nicht darauf gewartet, bis etwas von oben kommt. Sie handeln, da wo sie können. Punkt.“ Schon während man den Film anschaut, beginnt man sich selbst zu fragen, was man im Alltag anders und besser machen könnte. Sollten wir das Auto nicht öfter mal stehen lassen? Und vielleicht auf dem Markt einkaufen anstatt beim Discounter?  Eines lehrt der Film auf eindrucksvolle Weise: Man muss im Kleinen anfangen, damit man Großes bewegen kann.

Fotos: Tomorrow-derfilm.de


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Ein bisschen Wein muss sein

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von Sonja Sartor

Wer schon einmal nach Frankreich gereist ist, hat sicherlich bemerkt, dass Franzosen durch und durch Genussmenschen sind. Zu einem entspannten Abend mit Freunden und Familie gehören für viele Franzosen neben Baguette und Käse auch ein Glas Wein und eine Zigarette dazu.

In den letzten Monaten jedoch ist in Frankreich eine alte Debatte über Werbegesetze zu den besagten Konsumgütern – Alkohol und Tabak – neu entbrannt und bis heute debattieren Lobbyverbände, Politiker und Gesundheitsbehörden leidenschaftlich darüber, ob es Werbung für Wein und Zigaretten geben darf und wie diese auszusehen hat.

Zwischen Savoir-vivre und Risikoaufklärung

Dass übermäßiger Alkohol- und Tabakkonsum zu schweren gesundheitlichen Schäden führen kann, ist französischen Gesundheitsbehörden unlängst bekannt. Um die Gesundheit des französischen Volks zu schützen und den Alkohol- und Tabakkonsum zu reduzieren, wurde 1991 das Loi Evin verabschiedet. Dieses Gesetz regelt hauptsächlich Werbung bezüglich alkoholischen Getränken und Tabakprodukten.

Das Loi Evin verbietet Werbung für alkoholische Getränke zwar nicht vollständig, aber schränkt diese auf spezielle Medien und Anlässe ein. Beispielsweise dürfen Anzeigen für Alkohol nicht in Zeitungen und Zeitschriften gedruckt werden, die sich an Kinder und Jugendliche richten. Auch Internetseiten von Sportvereinen und -verbänden dürfen keine Alkoholwerbung beinhalten, um nicht den Eindruck zu erwecken, dass sportliche Aktivität und Alkohol gut zusammen passen würden. Im Kino und Fernsehen ist Werbung für alkoholische Getränke strikt untersagt. Veranstalter von traditionellen Feiern und Messen, die Wein aus der Region präsentieren, dürfen hingegen in diesem bestimmten Rahmen für Alkohol die Werbetrommel rühren.

Im September 2015 äußerten mehr als 60 Abgeordnete und Senatoren gegenüber dem Präsidenten François Hollande die Forderung nach einer Änderung des bestehenden Loi Evin: Man müsse zwischen Werbung und Information über Wein unterscheiden und daher solle das abgeänderte Gesetz das „Informieren über Wein“ erlauben.

Die Politiker, die diese Forderung hervorbrachten, stammen größtenteils aus bekannten Weinbaugebieten Frankreichs. Wein wird als französisches Nationalgut angesehen und jede Region besitzt ihre eigenen Weinbaugebiete: So stammt Burgunder aus der Bourgogne und Champagner aus der Champagne. Man identifiziert sich mit den Weinsorten, die in der eigenen Region angebaut und verarbeitet werden. Mit ihrem Vorstoß möchten die französischen Abgeordneten einen legalen Freiraum schaffen für Inhalte, die Informationen rund um das Thema Wein vermitteln.

wein2Aber was bedeutet das?
Es geht vor allem darum, den Weintourismus in Frankreich anzukurbeln. Frankreich ist in der glücklichen Position, zu den beliebtesten Urlaubsländern der Welt zu zählen. 84 Millionen Personen verbrachten im Durchschnitt jährlich ihren Urlaub in Frankreich und wenn es nach der französischen Regierung geht, soll sich ihre Anzahl bis 2020 auf 100 Millionen erhöhen. Es wird viel dafür getan, dass ein Teil dieser Urlauber auch ein wenig Geld in den Weintourismus steckt. Die insgesamt 17 französischen Weinbaugebiete locken mit Weinverkostungen, Fortbildungen, Workshops sowie Weinfesten und -Messen Touristen aus aller Welt an. Bordeaux, die führende Weinregion Frankreichs, hat erst am 1. Juni 2016 ein Zentrum für Weinkultur eröffnet. Der architektonische Blickfang ist mit einem Auftragswert von 28,2 Millionen Euro nicht ganz billig, aber verspricht, Frankreichs Führungsposition in der Weinbranche zu festigen.

„Wein zu mögen, bedeutet auch einen Funken Verstand zu haben“

Doch wird nun zwischen Werbung für und Information über Wein unterschieden?
Tatsächlich stimmte am 24. November 2015 eine Mehrheit von 102 Abgeordneten für die Änderung des Loi Evin. Ein schwarzer Tag für die Gesundheitsministerin Marisol Touraine, die von Beginn der Debatte darauf hingewiesen hatte, dass man die 500.000 Todesfälle vergesse, die der Alkohol jährlich verursachen würde.

Die Lobby der Weinbauer Vin et Société, zu der ca. 500.000 Professionelle aus der Weinbranche zählen, hat nach der Bearbeitung des Loi Evin Ende letzten Jahres eine Kampagne für den gemäßigten Weinkonsum gestartet. Auf einem der Plakate ist zu lesen: „Aimer le vin, c’est aussi avoir un grain de raison“ – „Wein zu mögen, bedeutet auch, einen Funken Verstand zu haben“. In diesem Slogan verbirgt sich ein Wortspiel, denn das Wort „grain de raison“, also der Funken Verstand, erinnert stark an „grain de raisin“, die Weintraube. Im Umkehrschluss behauptet das Plakat: Wer Wein nicht mag, hat keinen Verstand – eine provokante These.

Das Plakat beinhaltet zwar auch eine Warnung, dass der Verbraucher seine Grenzen kennen sollte, hat jedoch für große Empörung bei der unabhängigen Gesundheitsbehörde Haute Autorité de la Santé (HAS) gesorgt, die sich der wissenschaftlichen Qualitätssicherung im Gesundheitssektor verschrieben hat. Wie der Gesundheitsministerin Touraine ist der HAS und auch Teilen der Bevölkerung unklar, wie ein Gesetz, das zum Schutze des Verbrauchers eingeführt wurde, nun zum Vorteil der Weinindustrie aufgeweicht werden konnte.

Und wie stehen die Franzosen zu dieser Debatte? Laut einer Studie des Marktforschungsinstitut IFOP aus dem letzten Jahr sind drei Viertel der Franzosen für eine Unterscheidung zwischen Werbung und Information über Wein, befürworten also die Änderung des Loi Evin. Sogar 84 Prozent stimmen zu, dass der Weintourismus für seine Zwecke werben sollen dürfte. Einen möglichen Widerspruch mit gesundheitlichen Standards sieht dabei nur knapp ein Viertel der französischen Bevölkerung.
Zu beachten ist aber, dass niemand anderes als die Weinlobby Vin et Société diese Studie in Auftrag gegeben hat, was einen gewissen Beigeschmack hinterlässt. Von außen gesehen stellt man sich hier schon die Frage, inwiefern ein Interessenkonflikt bei der Durchführung der Studie bestand und inwiefern dieser die Ergebnisse beeinflusst hat.

Ob das Loi Evin bisher erfolgreich gewesen ist, ist eine weitere Frage. Zwar ist der Weinkonsum laut des Blogs www.francetvinfo.fr zwischen 1960 und 2010 um 70 Prozent gesunken, aber andere alkoholische Getränke wie Bier wurden auf gleich bleibendem Niveau zu sich genommen. Zudem wurde auch in Frankreich der besorgniserregende Trend des Komasaufens unter Jugendlichen festgestellt, der ganz neue Fragen über den Schutz von Jugendlichen vor exzessivem Alkohol aufwirft. Das Loi Evin ist nun klarer geworden, was Werbung und Information betrifft. Die französischen Medien müssen sich nun nicht mehr aus Angst vor juristischen Folgen selbst zensieren, wenn sich Beiträge auf Alkohol beziehen. Jedoch scheint hier noch nicht das letzte Wort gesprochen zu sein und es ist davon auszugehen, dass auch in Zukunft hitzige Debatten über Werbung und Gesundheit folgen werden.

Fotos: flickr.com/fs999 (CC BY-NC-ND 2.0), flickr.com/Tourisme-tarn.com CDT du Tarn (CC BY-NC-ND 2.0)


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Gérard Depardieu: „Es hat sich so ergeben“

Gérard Depardieu: „Es hat sich so ergeben“

von Sonja Sartor

Der 16-jährige Gérard sitzt im Gefängnis. In seinem jugendlichen Leichtsinn hat er ein Auto gestohlen und muss dafür drei Monate hinter Gittern absitzen. Eines Tages besucht ihn ein Psychologe. Er betrachtet Gérards Hände und sagt, er habe die Hände eines Bildhauers, die Hände eines Künstlers. Schlagartig wird Gérard klar: Noch hat er die Chance, ein ehrenwerter Mensch zu werden.

Vom Kleinkriminellen zum Tausendsassa des französischen Kinos

Doch wie konnte Gérard Depardieu, der zu einem der talentiertesten französischen Schauspieler werden sollte, derart auf die schiefe Bahn geraten?  Eigentlich dürfte es ihn gar nicht geben. Schon als Kind erzählt ihm seine Mutter immer wieder, dass sie versucht habe, das ungeborene Kind mit Stricknadeln abzutreiben. Gérard überlebt und kommt 1948 in Châteauroux, einem Provinzstädtchen mitten in Frankreich, zur Welt.

Die Familie Depardieu lebt in ärmlichen Verhältnissen, die Eltern und ihre sechs Kinder leben in einer Zweizimmerwohnung, der Vater betrinkt sich. Gérard scheint nicht für die Schule gemacht zu sein, viel lieber treibt er sich auf den Gassen des Städtchens herum. In seiner Autobiographie Es hat sich so ergeben (Originaltitel: Ça s’est fait comme ça) aus dem Jahr 2015 schockierte er die Öffentlichkeit mit der Behauptung, er habe sich schon mit zehn Jahren prostituiert: „Ich sah mit 10 aus wie 15. Ich wusste schon sehr früh, dass ich den Homosexuellen gefiel.“ Nur das Geld habe ihn an den Freiern interessiert.
Mit 13 Jahren fliegt er von der Schule, da er fälschlicherweise eines Diebstahls bezichtigt wird. Er beginnt eine Lehre in einer Druckerei und entdeckt das Boxen für sich. Daher erklärt sich wohl sein Markenzeichen, die knollige Boxernase. Als Teenager kommen ihm fast nur Flausen in den Kopf – mit einem Bekannten soll er Leichen ausgegraben und deren Schmuck veräußert haben.

Und doch gelingt Depardieu die Wende, als er 20 Jahre alt ist. Der dem Autoklau geschuldete Gefängnisaufenthalt hat den jungen Mann geläutert. Er geht nach Paris, wo ihn ein Freund zum Schauspielunterricht ans Theater mitnimmt. Dort wird der Regisseur Lucien Arnaud auf dessen „Holzfäller-Mundwerk, Boxernase und langes Haare“ aufmerksam. Depardieu könne mit seinem Aussehen alte Damen in der Dämmerung erschrecken. Daraufhin bietet ihm ein anerkannter Regisseur, Jean-Laurent Cochet, kostenlos Schauspielkurse an. Für Depardieu ist das die Rettung. Er habe das Sprechen von neuem lernen müssen.

gerard1Glücklicherweise lässt der Erfolg nicht lange auf sich warten: Am Theater sowie in Film und Fernsehen hat er kleine Auftritte. Der Durchbruch gelingt ihm 1974 mit dem Drama „Die Ausgebufften“, in dem er an Seite der berühmten Jeanne Moreau spielt. Für seine Hauptrollen in dem vielfach ausgezeichneten Drama „Die letzte Metro“ von François Truffaut erhält der hünenhafte Schauspieler seinen ersten César. Auch außerhalb Frankreichs gewinnt Depardieu an Anerkennung. Den meisten ist er wahrscheinlich als Cyrano de Bergerac oder als Obelix in Erinnerung geblieben. Betrachtet man seine Filmografie, stellt man fest, dass sich der Charakterdarsteller in kein Filmgenre drängen lässt: Egal ob Historienfilme, Dramen oder komödiantische Kassenschlager, Depardieu fühlt sich überall zu Hause und gibt jeder Rolle, vom Bauern, Gauner, Priester bis zum Bildhauer Rodin, einen authentischen Zug.

Eine Wucht in vielerlei Hinsicht

Privat hat Depardieu für zahlreiche Furore gesorgt: Er pinkelt auf einem Flug von Paris nach Dublin in die Air-France-Maschine, fährt mit 1,8 Promille Motorroller und entscheidet sich  mit der Begründung „Ich bezahle doch nicht 87 Prozent Steuern“ für die Steuerflucht nach Belgien. 2013 erhält er die russische Staatsbürgerschaft, die ihm sein Freund Präsident Putin höchstpersönlich angeboten hatte. Dem Land hatte sich Depardieu schon hingezogen gefühlt, seitdem er die russischen Klassiker von Dostojewski und Co. gelesen habe.

Depardieu ist ein Mensch, dem Freiheit heilig ist. Er lässt sich nichts vorschreiben. Seine erste und einzige Ehe ging nach 26 Jahren in die Brüche, als seine Frau von einer Affäre Depardieus erfuhr, aus der die Tochter Roxane hervorgekommen war. Insgesamt hat er drei Kinder von vier verschiedenen Frauen und ist sich bewusst, dass er nie einen vorbildlichen Vater abgegeben hat, wie er in seiner Autobiografie schreibt: „Mit keiner der drei Frauen, die mir Kinder geboren haben, habe ich eine Familie gebildet. Ich mag die Idee der Familie nicht. Die Familie, das ist ein Gräuel, sie tötet die Freiheit, tötet die Wünsche, tötet die Begierde“. Eines seiner Kinder, Guillaume, hatte ihm immer wieder vorgeworfen, ein schlechter Vater zu sein. Er starb 2008 mit nur 37 Jahren an einer Lungenentzündung.

Von diesem harten Schicksalsschlag hat sich Depardieu erholt, selbst vom Alkohol lässt er die Finger. Trotz seiner Ansicht, er sei nun ein „Schauspieler in Rente“, war er in den letzten Jahren immer noch sehr produktiv.  2010 sahen Depardieu über 2,3 Millionen Kinobesucher in der Komödie „Das Schmuckstück“ unter der Regie von François Ozon. Derzeit kann man ihn in  Politserie „Marseille“ von Netflix verfolgen, einer Art französischen Version von „House of Cards“, die gemischte Kritiken erhielt.

Depardieu sind Kritiken wahrscheinlich ziemlich egal. In einem Interview mit der Frankfurter Rundschau vor acht Jahren sagt er, die Filmbranche interessiere ihn immer weniger, die Filme von heute seien nichtssagend. Er schert sich nicht um die Meinungen anderer und macht einfach das, was er will – und das macht ihn erfolgreich.

Fotos: flickr.com/Televisione Streaming (CC BY 2.0), wikimedia.org/Cyrano Rostand (CC BY-SA 4.0)


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Feindbilder in den Medien: eine Schlussbetrachtung

von Lara Luttenschlager

Feindbilder sind unsere täglichen Begleiter. In den Medien begegnen wir ihnen beim Surfen auf Facebook, beim morgendlichen Lesen der Zeitung oder wenn wir abends bequem auf dem Sofa einen Action-Thriller anschauen. Wo und warum wir Feindbilder in den Medien finden, war Thema dieser Artikelreihe.

Ein Mittel zur Selbstbeschreibung

Ein Grund dafür, warum wir Feindbildern so oft begegnen, ist ihre identitätsbildende Funktion. Indem Menschen sich von anderen abgrenzen, definieren sie, was sie sind oder zumindest sein wollen. Dies geschieht meist über die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Nationalität, Ethnie oder sozialen Gruppe. Selbst- und Fremdbeschreibungen ist deshalb etwas Normatives inne – und da wir selber ja lieber besonders toll sein wollen, verorten wir die negativen Attribute lieber bei anderen Gruppen. Feindbilder als Deutungsmuster ordnen also anderen Gruppen pauschal negative, kollektive Eigenschaften zu, helfen uns so bei der Bildung der eigenen Identität und reduzieren die Komplexität unserer Umgebung. Dabei bewirken sie meist ein Gefühl des Bedrohtseins, bei dem wenig hinterfragt wird, ob dies überhaupt gerechtfertigt ist.

Zur Rolle des Internets

Welche Implikationen die wachsende Bedeutung des Internets bei der Verbreitung von Feindbildern hat, damit beschäftigten sich ein Artikel über Amateurvideos in bewaffneten Konflikten und ein Artikel über das Slut-Shaming. So haben Amateure in den Krisengebieten der Welt schon längst die Wunderwaffe Handyvideo für sich entdeckt und haben nun nicht nur die Möglichkeit, auf ihr Leid aufmerksam zu machen, sondern auch gezielt den Gegner zu diskreditieren und an die Emotionen der Rezipienten zu appellieren, um Empathie und Unterstützung zu bekommen. Das Internet bietet also einen neuen Entstehungs- und Verbreitungsort für Feindbilder. Gleichzeitig ist dort in den letzten Jahren eine Art digitaler Pranger entstanden, wo Menschen jene diffamieren und beleidigen, die ihrer Meinung nach zu einer Gruppe Menschen gehören, welche gegen bestimmte Normen verstößt. Die indirekte Form der Kommunikation und der hohe Anonymitätsgrad im Internet bewirken hier eine Verringerung der Empathiefähigkeit, wodurch die Reaktionen der Öffentlichkeit oft besonders heftig ausfallen. Slut-Shaming, eine Form des Cybermobbings, bei dem Frauen, die angeblich zu freizügig leben oder gekleidet sind, mit Beleidigungen überhäuft und ausgelacht werden, ist da leider keine Seltenheit mehr.

Feindbilder passen in ihre Zeit

Diese Reihe hat sich außerdem mit aktuell besonders beliebten Filmfeinden auseinandergesetzt, darunter vor allem künstliche Intelligenz und lateinamerikanische Drogenkartelle. Filmfeinde erfüllen wichtige dramaturgische Funktionen, da sie wichtig für den Aufbau des Spannungsbogens sind und den Gegenpart zum bewundernswerten Helden spielen, mit dem wir uns identifizieren. Dabei bedienen sich Filme und Serien oft aktueller Feindbilder und bauen sie mit auf. Das sieht man unter anderem daran, dass Darstellungen und Eigenschaften von Filmfeinden meist den aktuellen Feindbildern einer Gesellschaft entsprechen. Angesichts des technischen Fortschritts und der Entwicklung immer intelligenterer Maschinen versucht der Mensch durch Science-Fiction-Filme seine Identität neu zu definieren und kämpft auf der Leinwand gegen böse, menschenähnliche Roboter. Er kommt zu dem Schluss, dass Maschinen zwar vielleicht bald in vielen Gebieten besser sind als er, aber moralisch immer unterlegen sein werden. Am Feindbild lateinamerikanischer Drogenkartelle andererseits, das seit einigen Jahren Einzug in amerikanische Produktionen Einzug findet, lässt sich erkennen, wie Feindbilder in Unterhaltungsmedien politischen Debatten und Legitimationsdiskursen folgen.

Zur Verantwortung der Medien

Mit einem der wohl aktuellsten Beispiele für die politischen Implikationen bei Feindbildern befasste sich ein Artikel über das Feindbild Islam, das zu erheblichen Teilen durch die Medien verbreitet wird. Hier wird die Verantwortung der Medien deutlich, die durch ihre Bilderwelten und selektive Berichterstattung, welche sich oftmals an dem Nachrichtenfaktor „Negativereignis“ orientiert, soziale Ängste und Vorurteile fördern. Deutlich machte die Betrachtung des Feindbild Islam auch, welche Abgrenzungs- und identitätsbildende Funktion Feindbilder für uns erfüllen können.

Doch Medien können auch genau die umgekehrte Funktion erfüllen, wie ein Artikel über Culture-Clash-Komödien zeigte: Indem diese Protagonisten aus verschiedenen Kulturen oder sozialen Schichten mit all ihren Eigenheiten und Vorurteilen aufeinanderprallen lassen, entlarven sie das Überlegenheitsdenken und die Verschlossenheit der Menschen. Sie lassen unsere Feindbilder und jene, die sich zu stark an ihnen festklammern, zur Lachfigur werden. Denn Humor hilft uns dabei, die Situationen mit mehr Abstand zu betrachten und einzuordnen – und lässt auch noch ein Verbundenheitsgefühl entstehen, wenn wir alle über die gleichen Dinge lachen können.

Und deshalb:

Feindbilder dienen uns als Hilfsmittel zur Definition unserer eigenen Identität und bilden kollektive Negativbeschreibungen anderer Gruppen, die unserem eigenen Selbstbild schmeicheln sollen. Diese Vorurteile teilen die Welt in „wir“ und „die Anderen“ ein und sehen keine einzelnen Menschen, sondern nur noch das schlechte Kollektiv. Eine pauschale Schuldzuweisung kann einzelnen Menschen gegenüber nur ungerecht sein. Als Teile von Diskursen bedingen Feindbilder zudem private und politische Handlungsoptionen und haben deshalb enorme soziale und politische Auswirkungen. Zeigen sollte diese Artikelreihe deshalb vor allem, wie allgegenwärtig Feindbilder sind – und dass ihr bewusstes Hinterfragen selbst bei der Rezeption von scheinbar unverfänglichen Unterhaltungsmedien nur mehr als sinnvoll sein kann.

Foto: flickr.com/ Daniel Horacio Agostini (CC BY-NC-ND 2.0)


Alle Artikel dieser Reihe:

Wenn Aladdin zum Feind wird

Feindbilder in den Medien

Skrupellos, gerissen, unentbehrlich: Filmfeinde

Verpixelte Augenzeugen – Amateurvideos in politischen Konflikten

Künstliche Intelligenz: Unsere Angst vor der „Robokratie“

Slut-Shaming: Wenn sich der Mob zur Moralpolizei erhebt

Islamfeindlichkeit: Der Medien-Verkaufsschlager

Hollywood im War on Drugs

Beim nächsten Kulturschock: Lachen bitte!

Viral! Die Macht des Storytelling

Die digitale Öffentlichkeit liefert ein Riesen-Reservoir an Geschichten – vom Marketing-Hit eines Supermarktes bis zum Terror-Video, vom Clickbait-Trash und Extremsport-Clip bis hin zum millionenfach geteilten Foto, das eine Weltgemeinde rührt. Das Phänomen der Viralität ist nichts anderes als Storytelling unter digitalen Bedingungen.

Über dieses Thema hielt der Tübinger Professor für Medienwissenschaft Prof. Dr. Bernhard Pörksen Anfang Mai auf der Republica in Berlin folgenden Vortrag:

Die Crème de la Crème des Autorenkinos

von Sonja Sartor

Wenn Frankreich die großen Namen, aber auch die Newcomer der Filmwelt nach Cannes einlädt, scheinen die Wettbewerberländer in der Hoffnung das Geschehen mitzuverfolgen, dass auch auf sie etwas Glanz abfalle. Am Sonntag, den 22. Mai 2016, gingen die 69. Filmfestspiele von Cannes zu Ende.

Eine hochkarätige Jury

Dieses Jahr bestand die Jury der Spielfilme aus vier weiblichen und fünf männlichen Filmgrößen. George Miller hatte die Rolle des Jurypräsidenten inne. 2006 wurde der australische Regisseur für „Happy Feet“, ein Film über tanzende Pinguine, mit dem Oscar für den besten Animationsfilm geehrt. Seine Filmografie ist beeindruckend: „Mad Max“ (1979), „Ein Schweinchen namens Babe“ (1995) und einige erfolgreiche Mini-Fernsehserien gehen auf seine Kappe. Und als Entdecker des Schauspieltalents Mel Gibson gilt er auch noch.
George Miller tritt in große Fußstapfen: Schon Steven Spielberg, Tim Burton und Isabelle Huppert durften in den Vorjahren die Jury in Cannes leiten.
Teil der Jury 2016 darf sich auch Donald Sutherland nennen, der selbst schon in etwa 150 Filmen mitgewirkt hat und den man u. a. aus „JFK – Tatort Dallas“ (1991) und aus „Stolz und Vorurteil“(2005) kennt. Darüber hinaus wurden George Miller als Jurykollegen Kirsten Dunst, Vanessa Paradis, Mads Mikkelsen, Valeria Golino, die iranische Produzentin Katayoon Shahabi sowie ein französischer und ein ungarischer Regisseur an die Seite gestellt.

Der Sieger der Goldenen Palme – eine gute Wahl?

LoachIm Vorfeld gab es klare Favoriten auf den wichtigsten Preis des Filmfestivals. Dazu zählte Ken Loach nicht. Der britische Regisseur siegte überraschend mit seinem Sozialdrama „I, Daniel Blake“. Für den 79-jährigen Loach ist es bereits das zweite Mal, dass er die begehrte Trophäe sein Eigen nennen darf. „I, Daniel Blake“ erzählt die Geschichte eines Schweißers Ende Fünfzig, der krankheitsbedingt nicht mehr arbeiten kann und verzweifelt um staatliche Unterstützung kämpft. Loach hat ein Faible für die Darstellung von sozialbenachteiligten Schichten. Umso größer muss der Kontrast für den Briten gewirkt haben, als er inmitten dieses Prunks die Goldene Palme für ein Werk erhielt, das sich auf die trostlose Welt von Menschen am Rande der Gesellschaft konzentriert.

Die Dankesrede nutzte der engagierte Brite für einen Appell:

„Wir nähern uns einer Phase der Verzweiflung und durch diese Verzweiflung profitieren Rechts-Extreme. Einige von uns, die älter sind, erinnern sich daran, was Rechts-Extreme angerichtet haben. In dieser Phase der Verzweiflung müssen wir Hoffnung verbreiten und sagen, dass eine andere Art von Welt möglich und sogar nötig ist.“

Dieses Plädoyer gegen extrem-rechte Kräfte erhält an einem Ort wie Cannes doppelte Bedeutung. Denn die Filmfestspiele von Cannes wurden 1939 als antifaschistisches Zeichen gegen die von Hitler und Mussolini geprägten Filmfestspiele in Venedig gegründet. Die USA und Großbritannien unterstützten den Plan von Beginn an und man einigte sich schließlich auf den Austragungsort Cannes. Die mondäne Stadt an der Côte d‘Azur schien einerseits genug Prestige zu besitzen, um mit Venedig mithalten zu können und entsprach andererseits den Anforderungen, ein derart großes Filmfestival in kurzer Zeit auf die Beine stellen zu können. Heute gehören die Filmfestspiele von Cannes zu den bedeutendsten dieser Welt.

Neben der Goldenen Palme wurden weitere Preise vergeben: Der Große Preis ging an den gefühlvollen Film „Einfach das Ende der Welt“ des Kanadiers Xavier Dolan, der sich mit zittriger Stimme und unter Tränen bei Familie, Freunden und allen Mitwirkenden der Filmproduktion bedankte. Andrea Arnolds Werk „American Honey“ wurde mit dem Preis der Jury gewürdigt. Die Wahl der Jury kam jedoch nicht überall gut an: Der deutsche Wettbewerbsbeitrag „Toni Erdmann“, eine Tragikomödie von Regisseurin Maren Ade, ging entgegen aller Erwartungen leer aus. Die französische Zeitung „Le Monde“ spricht von einer „schlechten Wahl“ und prangert an, dass originelle Beiträge zur Seite geschoben wurden und mit „I, Daniel Blake“ ein eher konventioneller Film gewählt worden sei.

Die Zukunft des Films entscheidet sich auf französischem Boden

Frankreich selbst war dieses Jahr mit vier Beiträgen vertreten, schien aber ein schwaches Filmjahr erwischt zu haben. Einzig der Franzose Olivier Assayas konnte mit dem Horrorstreifen „Personal Shopper“ überzeugen, in dem Kristen Stewart die Hauptrolle spielt.

Das Filmfestival in Cannes ist jedoch mehr als nur eine glamouröse Preisverleihung. Es bedeutet vor allem harte Arbeit. Rund um die Wettbewerbe finden zahlreiche Meetings zwischen Filmemachern und potentiellen Sponsoren statt. Eine anstrengende, aber sicherlich auch fruchtbare Zeit, in der Filmteams mit ihrem Konzept und Drehbuch überzeugen müssen. Auf dem Marché du Film, einer Art Filmmesse, treffen sich laut der offiziellen Webseite des Festivals rund 11.000 Professionelle der Filmbranche, um sich über neue Marketing- und Finanzmodelle, Inhalte und Technologien wie dieses Jahr die Virtuelle Realität auszutauschen. Man könnte sagen, dass hier die Weichen für die Filme der Zukunft gestellt werden.

Die Zukunft des Kinos ist auch für Preisträger Ken Loach ein wichtiges Stichwort. In seiner Dankesrede, die er auf Französisch und Englisch vortrug, hob er die Wichtigkeit der Filmfestspiele für die Zukunft des Kinos hervor und sagte: „Restez forts“ – „Bleiben Sie stark“.

Sicherlich wäre die Filmwelt ohne dieses großartige Filmfestival ein Stück ärmer. Schon jetzt kann man auf die Nominierungen und Auszeichnungen im nächsten Jahr gespannt sein.

Fotos: flickr.com/plb06 (CC BY-NC-ND 2.0), wikimedia.org/Georges Biard (CC BY-SA 3.0)


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Beim nächsten Kulturschock: Lachen bitte!

von Lara Luttenschlager

Interkulturelles Chaos, Vorurteile, Fremdenfeindlichkeit – ein Grund zum Lachen, findet das Kino! Denn Filme wie Monsieur Claude und seine Töchter (2014) und Almanya – Willkommen in Deutschland (2011) gehören aktuell zu den Kassenschlagern der Filmindustrie. Und das ist gut so: Culture-Clash-Komödien können dabei helfen, Feindbilder abzubauen, und somit Toleranz und Offenheit fördern.

Den Spieß umgedreht

Wenn verschiedene Kulturen aufeinandertreffen, sei es im Urlaub, auf der Geschäftsreise oder in der Einwanderungsgesellschaft, findet das manch einer überhaupt nicht zum Lachen. Doch genau darüber machen sich Culture-Clash-Komödien lustig. Sie greifen Klischees und alltäglichen Eigenarten von Menschen mit unterschiedlichen kulturellen oder sozialen Hintergründen auf, vereinfachen diese und machen sich über jene lustig, die zu steif und verschlossen sind, um sich mit ihrem Gegenüber zu verständigen. Dabei bedienen sie sich der Situationskomik: Die Missverständnisse und Empfindlichkeiten der einzelnen Personen bei ihrem interkulturellen Zusammentreffen werden ins Absurde oder Groteske überspitzt. Dadurch werden einzelne klischeehafte Zuschreibungen wieder aufgebrochen. Doch warum funktioniert das so gut?

Humor als ästhetisches Mittel

15216299853_3ed2f460df_oSchopenhauer zufolge entsteht Humor, wenn Menschen Inkongruenzen wahrnehmen, Gegensätze vermittelt werden[1]. Humor kann aber auch als eine Haltung oder Weltanschauung verstanden werden, die uns erlaubt, unsere Umgebung mit Abstand und Gelassenheit zu betrachten, wodurch wir über ihre Widersprüche überhaupt erst lachen können. Das bedeutet auch, dass wir weniger emotional auf Situationen reagieren können, weil wir eine gewisse emotionale Distanz zum Geschehen behalten. Doch das ist längst nicht alles: Diese emotionale Distanz ermöglicht es uns auch, uns an die eigene Nase zu fassen und über uns selbst zu reflektieren, weil wir uns als Teil dieser widersprüchlichen Welt sehen. Humoristische Medien betrachten die Welt durch genau diese Brille, indem sie Humor als ästhetisches Mittel einsetzen.

In Culture-Clash-Komödien wird ganz gezielt auf bestimmte Inkongruenzen innerhalb von Gesellschaften verwiesen, indem man sie überspitzt oder sich andere, „fremde“ Menschen in der Handlung darüber wundern lässt. Ihre Komik besteht daraus, dass verschiedene Wertesysteme miteinander konfrontiert werden. Dadurch werden alltägliche, unreflektierte, widersprüchliche Normen, Haltungen und Werte hinterfragt und kritisiert. Wenn sich nun in Almanya – Willkommen in Deutschland ein kleines türkisches Kind darüber wundert, dass ein Deutscher seine „Riesenratte“ (den Dackel des Herren) an einem Seil herumführt, obwohl diese doch eigentlich alleine laufen kann, werden für uns alltägliche Handlungen plötzlich ins Lächerliche gezogen, wenn sie vom anderen als Eigenheit bemerkt werden. Unterschiede und Missverständnisse werden nachvollziehbarer, wodurch der Zuschauer die Situationen plötzlich aus zwei Perspektiven heraus beurteilen kann. Die Vorstellung, eine Seite habe nun die bessere Lebensweise, die weniger schlimmen Laster, oder sei überhaupt kulturell überlegen, scheint dann genauso absurd. Und wir merken, wie lächerlich manche Vorurteile sein können, wenn wir etwa damit konfrontiert werden, dass manche Türken glauben, wir Deutsche wären so schmutzig, dass sie vorsichtshalber ein paar Putzlappen mehr mit auf ihre Reise nach Deutschland nehmen. Bestehende Feindbilder werden aufgeweicht.

Lachen als Brückenschläger

Gemeinsames Lachen über dieselben Dinge verbindet. Denn soziale Gruppen zeichnen sich unter anderem dadurch aus, dass sie gemeinsame Werte haben oder ablehnen. Wer über die gleichen Dinge lacht und somit die gleichen Widersprüche in Frage stellt, fühlt sich dadurch verbunden. Anglistin Anahita Teymourian-Pesch spricht in diesem Kontext vom schöpferischen, Gruppen konstituierenden Potenzial des Humors[2]. Aber Achtung: Die Grenzen zwischen Bestätigung und Auflösung der Feindbilder sind oft fließend. Damit die Vorurteile abgebaut und nicht auch noch verstärkt werden, müssen die Protagonisten des Films selbst zu der Erkenntnis kommen, dass jede soziale Gruppe ihre Vor- und Nachteile hat und deshalb eine Annäherung suchen. Dadurch werden auch neue, eventuell wünschenswertere soziale Modelle suggeriert: Meist enden Culture-Clash-Komödien mit einem Happy-End, in dem zwei kulturell verschiedene Familien zusammengeführt werden oder wie in Monsieur Claude und seine Töchter eine neue Definition des idealen Franzosen vorgeschlagen wird, der genauso gut afrikanischer, asiatischer oder jüdischer Herkunft sein kann: Alle drei Versionen rühren den konservativen Schwiegervater gleichermaßen zu Tränen, wenn sie inbrünstig die Marseillaise singen.

Culture-Clash-Komödien können auf diese Weise helfen, Brücken zwischen Kulturen und sozialen Schichten zu bauen. Gerade angesichts der wachsenden Globalisierung und unserer zunehmend multikulturellen Gesellschaft könnte das kaum wichtiger sein.

Fotos: http://www.gratisography.com, flickr.com/Todd F Niemand (CC BY-NC 2.0)

[1] Schopenhauer, Arthur (1986). Die Welt als Wille und Vorstellung. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 105.

[2] Teymourian-Pesch, Anahita (2006): Amerikaner in der Fremde. Humor als Überwindungsstrategie. Berlin: Lit Verlag, 58.


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Hollywood im War on Drugs

Hollywood im War on Drugs

von Lara Luttenschlager

Als Joaquín „El Chapo“ Guzmán, Mexikos berüchtigter Drogenbaron, Anfang des Jahres festgenommen wurde, war der Grund wahrhaftig filmreif: Hinweise auf sein Versteck bekamen die mexikanischen Behörden unter anderem dadurch, dass Guzmán sich mit Schauspieler Sean Penn wegen eines Filmprojektes über sein Leben getroffen hatte. Schon während seiner Haft 2015 war er mit Angeboten aus Hollywood überhäuft worden. Deutlich wird durch diese Geschichte nicht nur die große Eitelkeit des Kartellbosses, sondern auch die wachsende Begeisterung der Filmindustrie für die Drogenkartelle. Traffic (2000), Breaking Bad (2008-2013), Savages (2012), oder Cartel Land (2015): Die Liste der Filme und Serien über die Drogenschmuggler wird länger und länger. Zwei Filme, die sich typischer Narrative der „Narco-Mania“ bedienen, sind Escobar: Paradise Lost (2014) und Sicario (2015).

Die mexikanischen Tony Sopranos

9125196677_28eef025e9_oFür Kanadier Nick eröffnet sich eine faszinierende Welt, als er sich in Kolumbien in die schöne Maria verliebt und in die Gesellschaft ihres charismatischen, großzügigen Onkels eingeführt wird. Dieser Onkel, eine Art Robin Hood der Kolumbianer, ist kein anderer als Pablo Escobar. Schnell verfällt auch der Zuschauer bei Escobar: Paradise Lost der Anziehungskraft, die der Drogenbaron auf den jungen Surfer hat. Das Bild des charmanten, Anzug tragenden, fürsorglichen Familienvaters und Ehemannes, kontrastiert auf faszinierende Weise mit der gängigen Vorstellung des schwitzenden, goldzähnigen, bösen Mafiabosses. Doch in dem Paradies, in dem Nick glaubt gelandet zu sein, sind bald erste Rauchwolken zu sehen. Denn als Escobar für einige Zeit ins Gefängnis geht, um eine Auslieferung an die USA zu verhindern, muss Nick dessen Diamanten verstecken. Den minderjährigen Informanten, der ihm das Versteck zeigen soll, soll er danach erschießen. Dass er nun Teil des mordenden Medellín-Kartells ist und dessen Anhänger auch ihn töten, wenn er seinen grausamen Auftrag nicht erfüllt, realisiert er zu spät.

Der Titel, den Regisseur Andrea Di Stefano für seinen Film wählte, erinnert an das Gedicht Paradise Lost von John Milton über die Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies. Er verweist auch auf die Mythologie, die die Kartelle mittlerweile umgibt. Auch das Paradies von Escobar ist voller Verführungen, die Menschen sonnen sich ich seiner Macht, seinem Geld, seinem Charisma. Auf diese Weise zeigt der Film die Anziehungskraft der Drogenkartelle, der sich scheinbar kaum jemand entziehen kann. In dieser verkommenen Welt, in der sich alle mit den Gräueltaten des Barons abfinden, solange sie ein Stück vom Kuchen abbekommen, wurde auch Nick von seiner Maria dazu verführt, in den Apfel zu beißen. Doch Lichtfigur Escobar verwandelt sich schon bald in eine abscheuliche, hässliche und egoistische Figur: Unrasiert, betrunken und im Jogging-Anzug verkörpert er bald das klassischere Bild eines Mafiabosses. Je mehr Escobar sein Imperium vom Zerfall bedroht sieht, desto mehr Blut lässt er vergießen. Nick versucht, aus dem brennenden Paradies zu fliehen.

Das rauschende Leben voller Geld, Waffen und Frauen von Escobar ist auch Thema der Serie Narcos (2015), in der die Darstellung des Kartellchefs stellenweise an Tony Soprano in der Erfolgserie Sopranos erinnert. Oft wurde die Serie auch mit Scorseses Film Goodfellas (1990) verglichen – die italienischen Mafiosi machen Platz für die lateinamerikanischen.

Die Mauer zwischen Ordnung und Chaos

Filme, deren Handlung in der heutigen Zeit angesiedelt ist, machen die Kartelle zu einer wachsenden Bedrohung für die amerikanischen Bürger. In Sicario kann FBI-Agentin Kate Macer trotz ihres todesmutigen Einsatzes nahe der mexikanischen Grenze die Geißeln eines mexikanischen Drogenkartells nicht befreien. Stattdessen findet sie die Leichen, deren Köpfe mit Plastiksäcken überzogen sind, eingemauert in den Zimmerwänden. Ein Anblick, der auch dem Zuschauer einen Schauer über den Rücken laufen lässt. Kaum versieht sie sich, ist sie einige Tage später Teil eines Einsatzteams, das die Strippenzieher in Mexiko festnehmen soll. Doch auch ihr eigenes Team erweist sich als zunehmend zwiespältig. Kate bekommt Zweifel an der Legalität ihrer Mission, bei der sie mit Alejandro, einem kolumbianischen „Sicario“, einem Auftragskiller, kooperieren muss.

In Sicario ist die Grenze zwischen den USA und Mexiko nicht nur visuell ein immer wiederkehrendes Motiv. Sie markiert die Grenze zwischen der mexikanischen Vorhölle, in der überall Gefahren lauern, an allen Ecken Leichen von Brücken hängen und die Polizei Teil eines korrupten, allgegenwärtigen Terror-Netzwerks ist, und den zivilisierten USA mit ihren Ballroom-Festen und ihren modernen, sauberen und beruhigend aufgeräumten Büros. Doch die Grenze ist porös, die Einflusszone der Kartelle und deren Kriminalität dringen in die USA ein. Die Bilder der Grenzposten, an denen hunderte Autos darauf warten, in die USA zu strömen, während kaum Autos in die andere Richtung wollen, vermitteln das Gefühl einer Invasion, vor der es sich zu schützen gilt. Dass die amerikanischen Einsatzkräfte mit gefühlten 200 km/h ungebremst durch die Grenzposten rasen können, um auf mexikanischem Staatsgebiet agieren, scheint hier selbstverständlich.

Die Darstellung der mexikanischen Kartellmitglieder, mit denen sich das Team einen Schusswechsel liefert, ist ein weiteres gutes Beispiel für das Bild, das in der Popkultur von Kartellmitgliedern gezeichnet wird: Schwer bewaffnet, tätowiert, schmutzig, mit Goldketten behängt. Männer, die schon nach außen hin so abstoßend sind wie ihre Taten. Auch wird die mexikanische Landschaft grundsätzlich aus einer Vogelperspektive visualisiert, die stark an Aufnahmen von Drohnen und Militärflugzeugen aus dem amerikanischen War against Terror erinnert – der Norden Mexikos wird zum Kriegsschauplatz erklärt. In diesem Krieg ist die Rolle der US-amerikanischen Truppen in ihrem fragwürdigen Einsatz keineswegs positiv. Trotzdem lässt Regisseur Villeneuve den Zuschauer die große nächtliche Kampfszene durch die Nachtsichtgeräte des amerikanischen Teams erleben. Die Ästhetik, die hier der eines Computerspiels ähnelt, verleiht dem Einsatz etwas cooles, heldenhaftes.

Ein Feindbild, das in seine Zeit passt

741443511_f50eaba774_oFilme wie Sicario und Escobar: Paradise Lost zeichnen das Bild eines skrupellosen Feindes, das auf der einen Seite von nahezu mythischen Vorstellungen eines rauschenden Lebens voller Waffen und Reichtum lebt, aber auch von einer drohenden Ausbreitung in die USA spricht. Indem ein Feind geschaffen wird, der eine Gefahr für die U.S.-amerikanischen Bürger darstellt, stellen sie die Forderung nach einem Eingreifen des Staates. Ähnlicher Narrative bediente sich Hollywood in Action-Filmen während des Kalten Krieges und des War on Terror. Auffällig ist, dass das Interesse der Filmindustrie für den Drogenkrieg zu einer Zeit aufflammt, in der sich die Berichterstattung in den USA über Verbrechen und Korruption in Mexiko überschlägt und das Land über die Kosten und Misserfolge im „War on Drugs“ sowie über den Ausbau seines Grenzzauns debattiert. Ein gutes Beispiel dafür, dass unsere Bilder von Gut und Böse in den Unterhaltungsmedien oft nicht ganz frei von politischen Einflüssen sind.

Fotos: flickr.com/Alexis Ziritt (CC BY-NC-ND 2.0), flickr.com/Diógenes 😉 (CC BY 2.0), flickr.com/Noah Jacquemin   (CC BY-NC-ND 2.0), flickr.com/Quim Gil   (CC BY-SA 2.0)


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