Verpixelte Augenzeugen – Amateurvideos in politischen Konflikten

von Lara Luttenschlager

Amateurvideos sind inzwischen ein fester Bestandteil unserer visuellen Kultur und prägen unsere Wahrnehmung von Ereignissen weltweit. Da heute auch in Konfliktregionen nahezu jeder ein Handy besitzt, werden Bürger zu potenziellen Reportern unvorhergesehener Ereignisse, die uns mit Bildern versorgen, von denen Kriegsfotografen noch vor einigen Jahren nur träumen konnten. Von Redaktionen für ihre Berichterstattung aufgekauft oder im Internet recherchiert, gelten Zeugenvideos oftmals dank ihrer authentischen Wirkung als Referenz für „das, was wirklich geschah“. Doch warum nehmen Amateure in dramatischen und lebensgefährlichen Situationen überhaupt die Kamera in die Hand?

Digitaler Kampf um die Gunst des Publikums

Militärisch asymmetrische Konflikte werden auf ideologisch-politischer Ebene ausgetragen, Regierung und Oppositionelle sind daher auf die Unterstützung der öffentlichen Meinung angewiesen. Damit verbunden ist der Begriff der Propaganda, ein Mittel zur systematischen Beeinflussung von Wahrnehmungen und Einstellungen, um beim Publikum den eigenen  Interessen entsprechende Reaktionen zu erzielen. Man will davon überzeugen, die Schuld liege beim grundlegend niederträchtigen Gegner und dass gemeinsames Handeln gegen ihn notwendig sei. Während früher die klassischen Massenmedien als Hauptinstrument der Meinungssteuerung dienten, können im Internet heute auch Amateure ungefiltert ein Millionenpublikum erreichen, vorbei an Redakteuren und Journalisten, jenen Gatekeepern, die vorher entschieden, was an die Öffentlichkeit geriet und was nicht.

Amateurvideos wird große Beweiskraft zugesprochen, da sie besonders authentisch wirken. Meist verwackelt, mit niedriger Auflösung und schlechtem Ton, entgehen sie dem Verdacht, möglicherweise inszeniert worden zu sein und bewirken eine starke Identifikation mit Opfern und Augenzeugen.

Skandalisierung und Schaffung von Öffentlichkeit

Im syrischen Bürgerkrieg beispielsweise haben Oppositionelle die Wunderwaffe Zeugenvideo längst für sich entdeckt. Ein ausgefeiltes  Mediensystem aus lokalen Aktivisten und der Diaspora im Ausland präsentiert uns den Krieg quasi im Live-Stream. Auf unangenehme Weise muss das Assad-Regime feststellen, wie leicht Zensur heute umgangen werden kann. Durch Amateurvideos mit niedergeschossenen Demonstranten und Opfern von Bombenangriffen erzählen Oppositionelle nun ihre eigene Version der Geschichte. Ereignisse, von denen die Welt wohl niemals erfahren hätte, finden so ihren Weg über YouTube und Facebook in unsere Wohnzimmer. Und sie bewegen den Zuschauer: Die Emotionen des Kameramanns sind zu spüren, wenn das Bild verwackelt, Nahaufnahmen der Verletzten und Toten werden gezeigt und das Regime in dramatischen Kommentaren angeprangert. Brutale Angriffe auf die Bevölkerung werden erfolgreich skandalisiert, das Regime somit diskreditiert.

Solidarität und Mobilisierung

Gewalt gegenüber unschuldigen Personen, von Thomas Olesen als violent person-events bezeichnet, können beim Publikum sogenannte moral shocks auslösen. Bei Gewalt gegen friedliche Proteste entstehen besonders intensive moralische Schocks, welche in der Bevölkerung das Gefühl von Verrat durch die eigene Regierung wecken und deshalb besonders starke Mittel sind, um dieser zu schaden und eigene Interessen beim Publikum zu bewerben. Gezeichnet wird das Bild eines Bürgerkriegs, in dem ein brutales, repressives Regime das eigene Volk für sein Streben nach Freiheit bestraft.

Für Oppositionelle ist die Diskreditierung des Regimes über die emotionalisierenden Videos nützlich, da sie eine Polarisierung des langwierigen Konflikts bewirken kann. Die Polarisierung von Konflikten führt zu klar definierten Feinden und somit zu interner Solidarität: Die Akteure sind überzeugt, dass die eigenen Ziele richtig und jene des Gegners falsch sind. Ein gemeinsamer Feind führt zu einem Verbundenheitsgefühl Gleichgesinnter, das Kooperation fördert und somit die Wahrscheinlichkeit kollektiver Aktionen steigert. Zudem steigt das Gefühl, dass der aktuelle Zustand eine akute Krise ist, wodurch eigene Zweifel zugunsten einer schnelleren Lösung zurückgestellt werden.

Weltweite Appelle

Das Feindbild des brutalen, die Freiheit unterdrückenden Regimes soll aber auch in den Rest der Welt hinausgetragen werden: Netzwerke wie das Shaam News Network übersetzen ihre Facebook– und YouTube-Kanäle ins Englische und untertiteln ihre Videos. Denn mitreißende Bilder sind ein entscheidender Nachrichtenfaktor, anhand dessen verhindert werden kann, dass der Krieg im Ausland vergessen wird. Durch das Vorhandensein von Kriegsbildern und somit auch -videos und deren Einbettung in die klassische Berichterstattung werden Kriege in den Köpfen des weit entfernten, internationalen Publikums realer und gewinnen an Bedeutung: der sogenannte CNN- Effekt. Bisher zeigte die konventionelle journalistische Berichterstattung aus Kriegsgebieten selten Opfer in Leidenssituationen und sprach meist von Kollektiven, selten aber von den Schicksalen einzelner Personen. Empathie und jegliche Appellwirkung versiegten. Durch die leichtere Identifikation mit Opfern in Amateurvideos jedoch entsteht das Bedürfnis, etwas gegen das „miterlebte“ Leid zu unternehmen.

Letztendlich scheint es, als erfüllten die Videos ihre Funktion. Selbst soziale Plattformen im Internet unterstützen die Strategien der Opposition. So löschten Facebook und Twitter wiederholt Profile und Kommentare, die dem Regime zugerechnet wurden. YouTube jedoch löschte zunächst Videos von Oppositionellen, weil sie aufgrund ihres brutalen Inhaltes gegen Nutzerregelungen verstießen, stellte diese allerdings bald wieder her und lässt die Video- Aktivisten seitdem gewähren. Vielfach stieß das Material, wie 2013 im Fall der  Giftgasangriffe bei Damaskus, Diskussionen über humanitäre Hilfe und internationale Interventionen an.

Und nun?

Amateurvideos ermöglichen neue Einsichten und Empathie mit weit entfernten Opfern und die Bildung von Gegenmacht in asymmetrischen Konflikten. Das ist gut so. Oft sind sie unsere einzige Informations- und Bildquelle politischer Konflikte, über die sich sonst kaum berichten ließe. Aber: Sie sind Mittel der Gegenpropaganda der unterlegenen Seite, die mit der staatlichen Propaganda in Konkurrenz um die Deutungshoheit und die Herzen des Publikums zu tritt. Und so groß die Vorteile auch sein mögen, Amateure handeln nicht mit den ethischen und professionellen Standards beruflicher Journalisten. Im Vordergrund steht das Ziel, ein Feindbild des Gegners zu errichten und zu verbreiten, das eine gemeinsame, oppositionelle Identität schafft und Unterstützung im Inland und Ausland mobilisiert. Bedenklich kann dies dann sein, wenn die Videos im Internet ohne journalistische Überprüfung und Einordnung zu sehen sind. Die enormen politische Hoffnungen, die in ihre Appellwirkung gesteckt werden, verleiten leicht dazu, Aufnahmen durch Tricks wie künstlichen Rauch etwas zu „verbessern“ oder sie gänzlich zu falschen. Und so gilt es, sie mit ähnlicher Vorsicht zu betrachten wie staatliche Erzeugnisse.

Foto: flickr.com/Dan H (CC BY-NC 2.0)