ASMR – Abends mal Intimität statt Pornos?

Von Priscilla Ackermann und Luna Thalmann

Flüstern, kauen, streicheln – für manche sind die Geräusche dieser Aktivitäten einfach nur Töne, manche werden davon aggressiv. Doch für einen nicht unerheblichen Anteil an Menschen bedeuten diese „Trigger“ Entspannung und Wohltuung – sie werden in sogenannten ASMR-Videos extra für diese Menschen produziert. Hier erfahrt ihr, was es mit dem Phänomen auf sich hat und wieso die Videos inzwischen eine so große Fan-Gemeinde haben.

Der Tag war lang, die Arbeit hart. Da heißt es: Erst mal runterkommen. Ich öffne meinen Browser und klicke mich bis zum Video einer jungen Blondine durch’s Netz. Sie lächelt mir darin liebreizend zu, beugt sich langsam vor, bis ihr Gesicht mehr als den halben Bildschirm füllt. „I missed you so so much“, flüstert sie – und ein wohltuendes Kribbeln durchfährt meinen Körper. Es beginnt am höchsten Punkt meines Kopfes, wandert über meinen Nacken zu meinem Rücken hinab und bringt einen wohltuenden Dämmerzustand mit sich. Wie in Trance kann ich mich auf nichts anderes mehr konzentrieren als auf die Frau, ihre Stimme und ihre weichen Handbewegungen. Meine kreisenden Gedanken finden keinen Halt mehr. Der Schlaf ergreift mich zunehmend.

Es ist nicht, wonach es klingt: Bei der beschriebenen physiologischen Reaktion auf konkrete audiovisuelle Stimuli handelt es sich keineswegs um „Schmuddelkram“, sondern um das Wahrnehmungsphänomen Autonomous Sensory Meridian Response (ASMR). Manche fühlen es, manche nicht. Es ist eine Art Kopfkribbeln, das sich zumeist entlang der Wirbelsäule über den Hals und den oberen Rücken ausbreitet und nur wenige Sekunden anhält. Es fühlt sich an, als würde man eine Kopfspinne benutzen – aber eben ohne berührt zu werden. Manche nennen dieses Kopfkribbeln aufgrund seiner euphorisierenden und entspannenden Wirkung auch brain- oder eargasm.

ASMR – was ist das?

ASMR ist ein Neologismus der Amerikanerin Jennifer Allen und steht für Autonomous Sensory Meridian Response. Man versteht darunter ein kribbelndes Gefühl (auch Tingling genannt), dass sich am Kopf beginnend im Körper ausbreiten kann. Ausgelöst wird dieses Gefühl durch verschiedene Trigger, wie z.B. knisternde Geräusche, Flüstern und/oder ruhige Handbewegungen. Diese werden von ASMRtists produziert und meist auf Youtube als „ASMR-Video“ hochgeladen. Im Internet hat sich v.a. innerhalb der letzten 7 Jahre eine breite ASMR-Community gebildet, denn die dort verfügbaren Trigger sollen Enstpannung und seelisches Wohlbefinden bewirken.

Was sagt die Forschung zu ASMR?

Zu den beliebtesten Triggern von ASMR gehören Flüstern, persönliche Zuwendung, raschelnde bis knisternde Geräusche und langsame, fließende Handbewegungen. Das sind Dinge, die einem natürlich nicht nur in Youtube-Videos, sondern auch Offline begegnen können, zum Beispiel in Situationen, in denen man von anderen „umsorgt“ wird. Vielleicht erinnert ihr euch ja sogar daran ein solches Kribbeln mal verspürt zu haben: Beim hilfsbereiten Optiker, der netten Buchhändlerin oder bei Mutti, wenn sie euch was vorgelesen hat. Also in Momenten von großer Nähe oder (non-sexualisierter) Intimität. Das ist ASMR. Und man weiß noch sehr wenig darüber. Nur, dass es depressive Symptome wie Schlafprobleme oder innere Unruhe lindert. Drum haben sich zwei Studentinnen der Uni Tübingen an das Phänomen herangewagt.

Priscilla Ackermann ASMR

Priscilla Ackermann bei der Aufnahme. Foto: Priscilla Ackermann

Priscilla Ackermann hat im Rahmen ihrer Masterarbeit ein Werkstück zum Thema produziert. Der Titel: „Kribbeln im Kopf – Ein Radiofeature über die Wirkung von ASMR“. Dazu hat sie sich in eine Welt voller Entspannung und Geräusche begeben und ist unter anderem den Fragen nachgegangen, warum das Phänomen so viele Menschen fasziniert und warum es sich zu so einem Internetphänomen entwickelt hat. Doch nicht jeder kann ASMR spüren und ist von seiner Wirkung überzeugt.

Priscillas Sendung läuft am Sonntag, den 3.11., von 12-13 Uhr. Livestream bei der Wüsten Welle: https://www.wueste-welle.de/broadcasts/livestream

Luna Thalmann ASMR

Luna Thalmann hat sich in ihrem Artikel mit dem Phänomen ASMR beschäftigt. Foto: Luna Thalmann

Luna Thalmann zeigt in ihrem Artikel „ASMR als Meditation. Über medienvermittelte ,Ohrgasmen’ zur Awareness Society“ auf, dass das Schauen von solchen Videos als meditative Praxis verstanden werden kann – bewusst oder unbewusst. Sie offenbart, dass die Wirkung von ASMR-Videos weit über den Entspannungszweck hinausreichen und uns sogar an ganzheitliche Denkstrukturen heranführen kann. Hier findet ihr ihren Artikel zum Download: https://www.ingentaconnect.com/contentone/plg/spiel/2017/00002017/00000002/art00009;jsessionid=1rxof9dbx9ee3.x-ic-live-02

Literaturtipps zu ASMR

Andersen, J. (2014). Now You’ve Got the Shiveries: Affect, Intimacy, and the ASMR Whisper Community. Television & New Media. 16(8), S. 683-700.

Barrat, E.L. & Davis, N.J. (2015). Autonomous Sensory Meridian Response (ASMR): a flow-like mental state. PeerJ, o.Jg.(3), S. 1-17.

Gerhard, S. (2018). ASMR. Spüren Sie schon das Kribbeln am Kopf? Zeit Online. (01.04.2018).Verfügbar unter: https://www.zeit.de/digital/2018-03/asmr-videos-youtube- entspannung-tingles [08.03.2019].

Kirschall, S. (2014). Touching Sounds – ASMR-Videos als akustisch teleaktile Medien. In: Institut für immersive Medien (Hrsg.). Jahrbuch immersiver Medien. Marburg, S. 19-32.

Poerio, G. (2016). Could Insomnia Be Relieved with a YouTube Video? The Relaxation and Calm of ASMR. In F. Callard, K. Staines & J. Wilkes (Hrsg.), The Restless Compendium: Interdisciplinary Investigations of Rest and Its Opposites. Basingstoke (UK): Palgrave Macmillan, S. 119-128.