Wie der Vampire zum Mensch wurde

von Sanja Döttling

Vor Graf Dracula hatte man noch Angst – im Stummfilm Nosferatu ist er eine Schreckensgestalt. Doch weniger als ein Jahrhundert später belustigt Edward Cullen die moderne Popliteratur. Wie konnte es dazu kommen, dass die albtraumhafte Gestalt zu einem vegetarisch lebenden Familienvampir verkam?

Vampire – es gibt sie nicht erst seit der Erfindung von Film und Fernsehen. Schon seit Jahrhunderten treiben sie ihr Unwesen in Mythen und Geschichten. Am bekanntesten ist aber bis heute der „abendländische Vampir“, der nachts auszieht, um seinen Opfern das Blut auszusaugen und tagsüber im Grab ruht.

Doch warum ist diese Figur nach Jahrhunderten noch immer so faszinierend? Der Vampir ist immer ein Spiegel des Menschen und der Gesellschaft selbst und wurde oft dazu verwendet, tabuisierte Konflikte zu bewältigen und das andere, unbeschreibliche, auszudrücken. Außerdem ist der so dauerhaft in unseren Geschichten verankert, weil er sich im Laufe der Zeit so sehr geändert hat.

Die ersten Vampire waren Frauen

In der Novelle Carmilla, die 1872 erschien und damit älter ist als der Bekannte Dracula-Roman von Bram Stoker von 1897, wird die weibliche Protagonistin von einer Vampirin umgarnt. Das Tabuthema der weiblichen Sexualität ist hier im mythologischen Gewand beschrieben; ebenso die imminenten homosexuellen Tendenzen. Der Biss in den Hals – nicht nur eine Metapher für Sexualität, sondern vollmundig eine für die orale Sexualität. Der Vampir als Ausdruck dessen, was damals nicht besprochen werden konnte.

Vom Schreck zur Liebe

Ganz anders Dracula; auch wenn hier eine gewisse Erotik des Bisses nicht abgestritten werden kann, so nageln doch die ersten Verfilmungen von Stokers Bestseller den Vampir auf seine Monsterhaftigkeit hin fest. Max Schreck als schrecklicher Dracula in der Verfilmung Nosferatu (1922), mit überlangen Fingernägeln, einem krummen Rücken und eine langen Nase, die an die Totengräbermasken der Pestzeit erinnert, bildet wohl kaum das Bild des perfekten Ehemanns, wie es heute ein Edward Cullen tun wird. Doch schon 1958 im Film Horror of Dracula mit Chrisopher Lee als aristoraktischem Vampir verliert der Blutsauger seine Triebhaftigkeit – er wird rationaler. Die Vermenschlichung der ehemals so unfassbaren Figur beginnt, er wird vom Albtraum zum Exoten. Und damit einher geht auch sein gesteigerter Sexappeal, der Frauen (wenn auch nicht ganz freiwillig) in seine Arme zwingt. Am Schluss der Entwicklung dieser Figur steht Francis Ford Coppolas Liebesdrama um Dracula und seine wiedergeborene Frau; Das ehemalige Monster krank 100 Jahre nach seinem Entstehen an unsterblicher Liebe. Menschlicher geht es wohl kaum.

Vampire als Grenzgänger zwischen den Genres

Natürlich – nicht alle neuen Vampirfilme sind Liebesdramen. So wie Vampire immer Grenzgänger zwischen Leben und Tod waren, sind sie es heute über Genre-Grenzen hinweg.

Noch immer ist die übermenschlich strake Figur im Action und Horrorfilm verhaftet – das blutsaugende Monster ist nicht verloren. Doch dort bleibt der Vampir nicht aleine: Er bekommt neue Gegner und Mitstreiter, aber auch eine komplexe Hintergrundgeschichte, die den ersten Vampiren verwehrt war.

Van Helsing kämpft im gleichnamigen Film gegen ein ganzes Sammelsurium viktorianischer Schreckensgestalten; in der Filmserie Underworld treten die Vampire gegen ihre Erzfeinde, die Werwölfe, an und der historische Abraham Lincoln muss ebenfalls bald gegen Vampire in den Kampf ziehen. Auch Vampirjägerin Buffy muss in der gleichnamigen Serie gegen höllische Gegner in den Kampf ziehen. Und obwohl sie nebenberuflich Vampire jagt, hat sie doch auch welche zum Freund. Noch einmal sei auf die Gender-Frage zurückzukommen;,denn die Serie überrascht bis heute mit einem (einigermaßen) emanzipierten Frauenbild.

Alles in allem lässt sich nicht bestreiten, dass die Vampire ihren Schrekcne verloren haben und langsam immer besiegbarer wurden. 1967 drehte Roman Planski den Musik-Slapstick-Film Tanz der Vampire, in denen inzwischen etablierte Motive verwendet und parodiert werden. Der homosexuelle Subtext, der sich durch die Vampirmystik zieht, wird sichtbar, als Vampirsohn Herbert den naiven Alfred verführen will. Folgerichtig wurde aus dem satirischen Film ein deutsches Musical mit großem Herzschmerz-Feeling, dessen Erfolg in Deutschland mit seinem Misserfolg am Broadway ausgeglichen wurde.

Der Vampir und die Gesellschaft

Waren die ersten Draculas noch eigenbrödlerische Burgherren, die nur zum Essen nach England ausgingen, so rückte der Vampir im Laufe des folgenden Jahrhunderts immer mehr in die Mitte der Gesellschaft. Mit dem Film britischen The Hunger begann sich das Image des Vampirs als leidender Künstler zu formen und am Rande der Gesellschaft niederzulassen. In schwarzen Lederklamotten und zu den Klängen klassischer Musik wird in Musikvideo-Optik gefeiert, getrunken und gehurt. Und dennoch stehen auch hier so menschliche Themen im Vordergrund: Das Vampir-Pärchen Miriam und John versuchen, den Alterungsprozess des Letzteren zu stoppen. Unsterblichkeit ist passé – spätere Vampire fordern ihretwegen eher Mitleid als Bewunderung.

Auf die Spitze treibt das Künstlertum Autorin Anne Rice mit ihrem Vampir-Zyklus. Vor allem die Filme Interview mit einem Vampir und Königin der Verdammten nehmen die Künstlerthematik auf; Lestat erschafft Louis als Begleiter und Kunstwerk und ist somit schaffender Künstler;  Louis selbst findet seine Muse in der puppenhaften Claudia, die in ihrer kindlichen Gestalt gefangen ist. Im nächsten Film dann erklimmt Lestat den Himmel der Rockstars.

Auch untereinander werden die Beziehungsgeflechte der Vampire immer menschlicher. Aus dem einzelgängerischen Draclua, der sich zum Vergnügen ein dreiköpfigen Harem hielt, werden Pärchen- und Familienstrukturen. Später finden sich Vampire dann auch in größeren Gruppen zusammen und etablieren eine eigene Gesellschaft.

In der Serie True Blood geben sich die Vampire mit diesem Randsatus nicht mehr zufrieden. Nachdem das synthetisch hergestellte Blut „Tru Blood“ den Menschenbiss nicht mehr notwendig macht, drängen die Vampire in die Mitte der Gesellschaft und wollen sich dort etablieren. Jetzt sind die Vampire eine Minderheit, die sich mit dem Rassismus der Menschen auseinandersetzen müssen.

Und dann kam Twilight

Der Boom um Vampire war nie größer als mit dem aufkommen rund um die Bücher und Filme der Twilight-Saga. Mit der Bilderbuch-Vampirfamilie Cullen wird auf die Spitze getrieben, was nach hundertjähriger Entwicklung aus dem Vampirgenre geworden ist; denn heutige Vampire haben mit Dracula noch so viel zu tun wie der Tiger mit der Wohnungskatze.

Familie Cullen will menschlich sein; die „Kinder“ gehen zur Schule und ans College, Mama und Papa versuchen sogar zu kochen, wenn menschlicher Besuch ins traumhaft moderne Eigenheim kommt. Von der Hässlichkeit eines Dracula ist hier lang nicht mehr die Rede; denn Familie Cullen sieht unglaublich gut aus. Natürlich gibts für die Cullens nur noch vegetarisches Tierblut, dass sie sich besser in die Gesellschaft einfügen können (natürlich – der Vampirpapa ist praktizierender Arzt). Sohn Edward wird mit seiner angetrauten Bella nach der Hochzeit auch noch Vater eines Kindes, mit dem sie in ein eigenes Haus ziehen. Die Cullens sind der Traum einer jeden Vorstadtfamilie.

Während also die Entwicklung des Vampirgenres in die eine Richtung in Twilight konsequent weitergeführt wird, verliert der Vampir dadurch alles, was ihn je als solchen ausgezeichnet hat. Kein Wunder also, dass auch Fans der Serie den Vampir-Aspekt (und den Werwolf-Aspekt) ausklammern: Fanfictions zu Twilight haben auffällig oft den Zusatz „All Human“ – also die Anmerkung, dass alle Protagonisten menschlich sind.

Der Vampir ist eben auch nur ein Mensch.

Fotos: flickr/drurydrama (Len Radin) (CC BY-NC-SA 2.0), flickr/Kid’s Birthday Parties (CC BY-ND 2.0)

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