Ich poste, also bin ich
Die Bedeutung von Social Media für die Identitätsfindung
Von Smilla Haendel
In der Jugend entscheidet sich, wer wir später einmal werden. In der Generation der „Digital Natives“ begleiten das Smartphone und soziale Netzwerke bereits den Alltag. Welche Rolle spielen Instagram und Co. also für die Identitätsentwicklung von Jugendlichen?
Ein Date mit Jonas steht an. Jonas ist 23 Jahre alt, liebt Fremdsprachen und geht mehrmals die Woche ins Fitnessstudio – laut seinem Tinder-Profil zumindest. Doch woher wissen wir, ob das auch wirklich stimmt, bevor wir Jonas zum ersten Mal offline treffen? Die Antwort lautet schlicht: Gar nicht. Online können wir alle sein, wer immer wir sein wollen. Wir können uns so darstellen, wie wir gerne wären. Oder so, wie wir unserer Meinung nach sind. Oder etwa so, wie andere uns Berichten zufolge sehen. Mit anderen Worten gibt das Netz 2.0 uns die Möglichkeit, zahlreiche Varianten unserer Selbst zu erschaffen. Was bedeutet das für Jugendliche, die in diesen Zeiten aufwachsen – die gewissermaßen noch auf der Suche nach ihrer eigentlichen Identität sind? Können soziale Netzwerke dem Finden des Selbst vielleicht sogar zuträglich sein? Um diese Frage beantworten zu können, muss erst einmal geklärt werden, wie der abstrakte Begriff der Identität überhaupt zu verstehen ist.
Was ist Identität?
Dafür gibt es in der Psychologie viele Erklärungsansätze. Der wohl bekannteste stammt von dem deutsch-amerikanischen Psychoanalytiker Erik Erikson. Für ihn bezeichnet Identität die gefühlte Stimmigkeit der eigenen Person, die über die Zeit konstant ist und die auch Außenstehende wahrnehmen. Im Jahr 2022 ist dieses Modell noch genauso aktuell wie bei seiner Veröffentlichung 1973. Was sich geändert hat, ist die Umgebung, in der die Identitätsbildung stattfindet – das sind jetzt überwiegend soziale Netzwerke. Die dort aktivste Bevölkerungsgruppe stellt in Deutschland die Jugend dar. Zum Beispiel nutzen laut aktueller ARD/ZDF-Onlinestudie 73% aller 14 – 29-Jährigen mindestens wöchentlich Instagram. Zwischen dem 13. und dem 18. Lebensjahr findet laut Erikson auch die eigentliche Ausbildung der Ich-Identität (oder deren Scheitern) statt. In dieser Zeit suchen Jugendliche nach Werten und Einstellungen, über die sie sich definieren wollen. Gleichaltrige und Idole dienen dabei als Inspirationsquelle und Vergleichspersonen.
Social Media als Experimentierkasten
Influencer im Besonderen, aber auch Privatpersonen aus dem Offline-Bekanntenkreis, leben Jugendlichen im Netz verschiedene Lebensstile vor. Aus diesen picken sich Heranwachsende – wie bei einem Puzzle – passend erscheinende Teile für sich heraus und testen sie im eigenen Leben. Die Reaktion des Umfelds entscheidet dann darüber, ob der Identitätsbaustein dauerhaft aufgenommen oder wieder verworfen wird. Praktisch ist, dass Soziale Netzwerke sowohl Identitäts-Fundgrube und Feedback-Tool in einem sind. Ist die 16-jährige Instagram-Nutzerin Lisa beispielsweise der Meinung, das Hipster-Image ihrer Lieblingsinfluencerin würde ihr auch gut stehen, geben ihr die Likes und Kommentare auf ihr nächstes Selfie mit Jutebeutel und Hornbrille eine direkte Einschätzung darüber, ob ihre Freund*innen das auch so sehen. Viele positive Rückmeldungen und damit Selbstbestätigung führen mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu, dass Lisa ein Hipster bleibt. Soziale Netzwerke haben ihr also in gewisser Weise zu mehr Selbstkonzeptklarheit verholfen. Sie weiß jetzt eher, welche Identitätsbausteine zu ihr passen und welche Wirkung sie damit auf Andere hat.
Die ganze Welt ist eine Bühne
All das klingt stark nach Schauspielerei und wirft die altbekannte Frage auf, zu welchem Grad sich unsere Netz-Identität(en) mit unserem Offline-Selbst decken. Aber bereits die Fragestellung ist irreführend. Auch im realen Leben spielen Menschen verschiedene Rollen, bei denen jeweils bestimmte Aspekte des Selbst in den Vordergrund treten. In der Schule zeigt Lisa vielleicht eher ihre lernwillige und politisch interessierte Seite als beim Ausgehen mit Freund*innen an einem Samstagabend. Trotzdem sind beide Rollen Ausdrücke ihrer Selbst – eben angepasst an die jeweilige Situation. Neuere Studien zeigen auch, dass Entwürfe von Identitäten auf Facebook und Co. sich in der Regel stark mit nicht-virtuellen Selbstkonzepten decken. Wir faken unsere virtuellen Auftritte also gar nicht so oft, wie sich vermuten ließe. Das wird in der Wissenschaft als „extended real–life hypothesis“ bezeichnet. Diese steht im Gegensatz zur „idealized virtual identity hypothesis“, die davon ausgeht, dass Menschen in sozialen Netzwerken idealisierte Charaktere erschaffen, die mit ihren tatsächlichen Identitäten nicht viel gemeinsam haben.
Info
Wenn ihr mehr über die Problematik der Selbstdarstellung auf sozialen Plattformen erfahren wollt, geht es hier zu einem spannenden Artikel der Media-Bubble-Redaktion.
Online übt sich
Wenn virtuelle Identitäten also gar nicht so fake sind, bedeutet das im Umkehrschluss, dass sie auch reale Unterschiede im Leben der User widerspiegeln. Sie sind also divers. Studien haben gezeigt, dass dieser Kontakt mit Menschen verschiedener Altersgruppen und kultureller sowie ethnischer Hintergründe Jugendliche ebenfalls bei der Identitätsbildung bestärken kann. Gerade bei sonst eher introvertierten Heranwachsenden verbesserten diese Kontakte die Sozialkompetenz auch im Offline-Alltag. Allerdings nur dann, wenn auf Social Media nicht nur still beobachtet, sondern auch aktiv gepostet würde. Besonders Selfies dienten als Tool zur Weiterentwicklung des Selbstkonzepts. Mit ihnen könnten Identitätssuchende bestimmte Aspekte ihres Ideal-Selbst in ihr Real-Selbst eingliedern. So postet Lisa, die den Hipster-Lifestyle für sich entdeckt hat, zum Beispiel Fotos, die sie in dieser Rolle zeigen. Damit festigt sie diesen Bestandteil der Identität, die sie für sich beanspruchen möchte. Untermauern kann Lisa über die sozialen Netzwerke außerdem ihre Stellung innerhalb ihres Freundeskreises oder anderer sozialer Gruppen. Schließlich ist sie über Messenger auf dem Smartphone permanent mit Anderen verbunden – sie verbringt also faktisch viel mehr Zeit mit sogenanntem Beziehungsmanagement als das ohne Social Media der Fall wäre.
Ich seh dich nicht – Du siehst mich nicht (wirklich)
Im Gegensatz zu der permanenten Sichtbarkeit der eigenen Person, die in Zusammenhang mit sozialen Netzwerken üblicherweise betont wird, lassen sich bestimmte Äußerlichkeiten im virtuellen Raum aber auch cachieren. Eine körperliche Beeinträchtigung kann beispielsweise in den Hintergrund treten. Dadurch fallen Barrieren, die in der direkten Interaktion mit der Person eventuell bestanden hätten. Jugendlichen mit Einschränkungen kann das Mut verleihen und ihr Selbstwertgefühl stärken. Zusätzlich trägt es auf der Seite des Gegenübers zum Abbau von Vorurteilen bei, weil es seinen Gesprächspartner nicht in erster Linie über dessen körperlichen Nachteil definiert.
Phase | Konflikt | Alter |
---|---|---|
1. | Ur-Vertrauen vs. Ur-Misstrauen | 1. Lebensjahr |
2. | Autonomie vs. Scham und Zweifel | 2. bis 3. Lebensjahr |
3. | Initiative vs. Schuldgefühl | 4. bis 5. Lebensjahr |
4. | Werksinn vs. Minderwertigkeitsgefühl | 6. Lebensjahr bis zur Pubertät |
5. | Identität vs. Identitätsdiffusion | Jugendalter |
6. | Intimität und Solidarität vs. Isolation | Frühes Erwachsenenalter |
7. | Generativität vs. Stagnation und Selbstabsorption | Erwachsenenalter |
8. | Ich-Integrität vs. Verzweiflung | Spätes Erwachsenenalter |
Also alles völlig risikofrei?
Die einseitige Medaille ist bisher nicht erfunden. Das heißt, dass mit der Identitätskonstruktion im virtuellen Zeitalter natürlich auch Risiken verbunden sind. Diese reichen von der zu bereitwilligen Preisgabe von Daten über Cybermobbing bis hin zu Selbstdarstellungswahn. Dass viele Jugendliche soziale Medien aber eben auch als unterstützendes Instrument für die Selbstfindung nutzen, geht in der medialen Berichterstattung oft unter. In welchen Lebensbereichen Social Media noch eine bestärkende Funktion haben kann – das erfahrt ihr in den anderen Artikeln der Reihe zu Empowerment durch Social Media.
Quellen:
Kneidinger-Müller, B. (2016). Identitätsbildung in Sozialen Medien. In J.H. Schmidt und M. Taddicken (Hrsg.), Handbuch Soziale Medien. (S. 61-80). Springer. DOI: 10.1007/978-3-658-03765-9_4