Reingelegt: Wie Medien Menschen täuschen
Von Roman van Genabith
Journalisten sollen für die Leser schreiben, nicht für sich selbst, wird ihnen immer wieder eingeschärft. Doch wie oft halten sie sich nicht daran?
Reaktionen von Lesern, Hörern oder Zuschauern auf die Arbeit der Journalisten können vielfältig sein: Von Hass und Ablehnung über unqualifizierte, aber belanglose Äußerungen bis zum völligen Desinteresse ist alles dabei. Da lässt sich durchaus nachvollziehen, wie mancher Kollege gelegentlich ausprobiert, wie aufmerksam die Zielgruppe tatsächlich ist. Aber wann geht ein solches Experiment zu weit?
Im Jahr 2010 strahlte der SWR auf seinem Kulturkanal SWR2 in der Sendereihe „SWR2 Wissen“ ein Feature aus, das sich mit einer Kolonie deutscher Auswanderer im indischen Ozean beschäftigte. Im 19. Jahrhundert, so der Autor in dem technisch durchaus anspruchsvoll gemachten Stück, strandete eine Gruppe schwäbischer Auswanderer auf den Kerguelen, einer entlegenen Inselwelt im indischen Ozean. Die auch Desolation Islands genannten Inseln liegen in der subarktischen Klimazone, es weht dort ganzjährlich ein stetiger Wind, die Vegetation ist kärglich, die Landschaft zerklüftet und unwirtlich. Dennoch ließen sich die Siedler dort nieder, gründeten eine Kolonie und bewahrten sich ihr schwäbisches Brauchtum bis heute. Das drückt sich auch im Programm ihres einzigen Radiosenders aus: Radio Neuschwabenland sendet einen Mix aus Heimatmusik und Nachrichten aus Europa. Betrieben wird das kleinste Bürgerradio der Welt vom einzigen hauptberuflichen Journalisten auf der Insel, dem deutschen Auswanderer Fred Rattenhart, der vor Jahren unter ungeklärten Umständen aus Deutschland verschwand und von den Insulanern mit offenen Armen aufgenommen wurde. Die Insel teilen sich die Schwaben mit den Bewohnern einer französischen Forschungseinrichtung, mit denen sie in friedlicher Eintracht zusammenleben.
Dieses kleine Utopia, das von einer Münchner LMU-Professorin im Feature gar als prototypische Gemeinschaft im besten Sinne der Europäischen Union charakterisiert wurde, hat nur einen bedenklichen Fehler: Es existiert nicht.
Genauer, der deutsche Teil der Inselbevölkerung ist schlicht eine, wenn auch fantasievolle, Erfindung des SWR-Autors Udo Zindel. Die französische Forschungsstation existiert tatsächlich. Schon seit dem zweiten Weltkrieg unterhält Frankreich die Niederlassung in seinem Subantarktis-Überseeterritorium. Deutsche Siedler aber gab es auf den Kerguelen nie. Die einzigen Deutschen, die je ihren Fuß auf die Insel setzten, gehörten zu zwei deutschen Versorgungsschiffen während des zweiten Weltkriegs.
Dreiste Luftnummer
Andre Holz (Name geändert) arbeitet bei einer großen Telefongesellschaft in der Kundenbetreuung. Seine Tage sind lang, die Routine ermüdend. Nach acht Stunden am Bildschirm schaltet er gern die Wellen des ARD-Rundfunks ein, häufig auch als Podcast. Ihm gefallen die sorgsam produzierten Stücke, die einen qualitativen Mix aus Wissen und Information transportieren. Die Sendung über den Sender am Ende der Welt begeisterte ihn. Auch, weil er in Kindertagen oft am heimischen Radio die Kurz- und Mittelwellenfrequenzen durchlauschte, fühlte er sich an die prädigitale Zeit des Radios erinnert.
Nachgeforscht
Die Faszination für die isoliert lebende Gruppe der Auswanderer teilt er mit verschiedenen Globetrottern und Geografieinteressierten, die sich in der subarktischen Inselwelt bereits selbst aufgehalten haben. Diese Weltreisenden in eigener Sache gingen dem Rätsel der großen Gruppe deutscher Siedler, von der bis dato noch nie jemand gehört hatte, schließlich auf den Grund.
Gute Fiktion mit Fehlern
Das rührselige Stück genügt tontechnisch allen Ansprüchen und ist auch inhaltlich nicht schlecht recherchiert, aber eben auch nicht gut genug, wie Fabian Seitz Skyttevägen in seinem Blog schmerzlich ausführlich darlegt:
- „Die Einwohnerzahl von fast 1000 Leuten auf der Insel ist für diese Breiten außerordentlich hoch. Mit Ausnahme der Falklandinseln erreichen alle subantarktischen Inseln gerade so dreistellige Einwohnerzahlen.
- Es findet sich keine Spur von den subantarktischen Schwaben im Netz, was heutzutage schon fast verdächtig ist. Jedoch finden sich Reiseberichte über Kerguelen, die von der Forschungsstation Port-aux-Français erzählen, aber die deutsche Siedlung unerwähnt lassen. Auch der umfängliche Wikipediaartikel zur Insel sowie das CIA Factbook schweigen sich aus.
- Der Sender benutzt Frequenzen, die für Rundfunk vollkommen unüblich sind. Die verwendete Langwellenfrequenz 103,7 kHz ist zu genau angegeben und liegt rund 50 kHz unter dem normalen Rundfunkband. Die Kurzwellenfrequenz 2073 kHz ist auch zu tief, und zwar so tief, dass sie schon eine Mittelwelle ist.
- Der Sportreporter berichtet nicht wie behauptet aus dem Olympiastadion, denn das Ereignis, über das er berichtet, ist die Abschlussetappe des Giro d’Italia 1958, der über 10 Jahre vor dem Bau des Stadions stattfand. Dass er nach Kerguelen berichtet, ist bei der damaligen Technik auch kaum denkbar – er regt sich wohl eher über die schlechte Telefonleitung nach Deutschland auf.
- Der Kerguelenkohl existiert zwar, aber angebaut wurde er wohl nie.
- Die Professorin Sieglinde Ewerich und ihr „Lehrstuhl für Neuere Geschichte des südpazifischen und subantarktischen Raumes“ existieren zumindest im Internet nicht.“
Dass der Autor für die erwähnten Übertragungen aus der Heimat Ausschnitte bekannter historischer Sportübertragungen aus dem Rundfunkarchiv benutzte, komplettiert das traurige Bild einer kühl inszenierten Täuschung des Hörers.
Schließlich meldet sich die Apothekenumschau zu Wort und räumt eine weitere niedliche Fantasie des Features ab: „Die fiktiven Einwohner können kaum mit dem Export des einheimischen Kerguelenkohls und dem Verkauf an internationale Pharmakonzerne einen bescheidenen Wohlstand erwirtschaften: Der Kerguelenkohl ist zwar reich an Vitamin C und eine potenzielle Nutzpflanze, doch in der Natur ist er sehr selten geworden und ein kommerzieller Anbau ist bisher nicht gelungen.“
Zwischen Fakt und Fiktion
Nicht alle der aufgezählten Umstände zählen zum Allgemeinwissen und müssen Hörern ins Auge respektive Ohr springen, aber ganz unabhängig von der Plausibilität der Geschichte bleibt die Frage, ob ein Journalist oder Skriptautor Sendungen produzieren sollte, die vom Hörer zunächst auf ihre Authentizität geprüft werden müssen.
Die Antwort kann hier eigentlich nur ein klares nein sein. Welchen Grund könnte es geben die Hörer derart zu verschaukeln? Udo Zindel vom SWR blieb dem geografisch interessierten Blogger die Antwort keineswegs schuldig: „Man wollte die alte alemannische Tradition der Späße in der Fastnachtszeit ausnutzen und einen Fake an einem Tag platzieren, an dem die Leute nicht damit rechnen.“
Ein Aprilscherz zu Fasching?
Ging es also tatsächlich nur um einen außerordentlich anspruchsvoll produzierten vorgezogenen Aprilscherz? Diese Tradition ist, besonders in Fachpublikationen, durchaus verbreitet: Redakteure bemühen sich um teils plausibel klingende Beiträge, die für den versierten Leser eine sensationelle Entwicklung ankündigen. Diese Scherze werden in der Regel am Ende des Tages oder spätestens dem nächsten Morgen aufgelöst und Leser und Autoren sind im Idealfall mit der humoristischen Einlage zufrieden.
Der SWR verzichtete gänzlich auf einen solchen Hinweis: Weder auf der noch immer abrufbaren Seite der Sendung, oder der Mediathek findet sich ein Verweis auf den komödiantischen Hintergrund der Sendung, im Audiobeitrag wurde ebenfalls auf jeden erhellenden Abschlusskommentar verzichtet.
Auch der Nachsatz in der Antwort Zindels macht nachdenklich: „Eine interessante Idee und ein interessantes medienwissenschaftliches Experiment, das vorführt, wie leicht man Dinge aus einer vermeintlich seriösen Quelle glaubt.“ Welchen Blick hat ein Publisher, der dieses Statement setzt, auf sein Publikum?
Was bleibt ist ein Stück, das vielen Hörern die flüchtige Illusion eines fernen, friedlichen Biotops subarktischer Völkerverständigung hinterlässt. Wie viele von ihnen werden den Beitrag gänzlich unhinterfragt hingenommen haben?
Andre Holz ist die Lust auf Podcasts des SWR und anderer ARD-Anstalten ein wenig vergangen. „Wenn man nicht einmal mehr hier sicher sein kann, dass stimmt, was man hört, warum sollte man es sich dann überhaupt noch anhören?“ Die Frage ist berechtigt.
Frustrierte Fiktionisten
Ein möglicher Erklärungsansatz könnte im Verhältnis der Autoren zu ihrer Zielgruppe zu suchen sein. Jeder, der bereits für ein (Massen)Medium gearbeitet hat, wird die Resignation in der täglichen Arbeit schon erlebt haben. Die Rezipienten können sich teils abwertend, teils in unqualifiziertem Brabbel-Ton oder auch gar nicht äußern. Die Empfindung stundenlang an einer Reportage zu arbeiten, die beim Rezipienten resonanzlos durchrauscht, kann durchaus den eingangs erwähnten Grundsatz des Journalismus in Frage stellen, ein Prinzip, das Medienforscher schon seit Jahrzehnten für chronisch gefährdet halten: Nicht für dich arbeitest du, sondern für dein Publikum.
Fotos: flickr.com/Pascal Subtil (CC BY 2.0), flickr.com/Pascal Subtil (CC BY 2.0)