Medienmächtigkeit ist nicht gleich Medienmündigkeit
Von Nadja Lämmle
Es ist wohl so ziemlich überall auf den Schulhöfen zu beobachten: Pünktlich zum Klingeln der Schulglocke strömen Kinder und Jugendliche aus dem Gebäude, während ihre gesamte Aufmerksamkeit auf ein Smartphone gerichtet ist. Einige tauschen sich kichernd über die neusten TikTok-Videos aus, während andere versuchen den Highscore eines Videospiels zu knacken. Es stellt sich hier die Frage: Sind die Minderjährigen überhaupt in der Lage, verantwortungsbewusst mit den Medien umzugehen?
Hier ein Like, da eine neue Nachricht und parallel dazu trudeln Kommentare zu dem allerneusten Post herein: Durch die Medien werden wir in Dauerschleife Reizen und Informationen ausgesetzt. Algorithmen und Apps sind darauf ausgerichtet, die Rezipierenden möglichst lange zu fesseln und an das Angebot zu binden. Da ist es nicht verwunderlich, wenn die scheinbar niemals endende Flut an Bildern, News und verführerischen Angeboten bei dem einen oder anderen einen Information-Overflow auslöst. Einige lassen diesen über sich ergehen und stumpfen ab, bis die Masse an Benachrichtigungen und Neuigkeiten schließlich nur noch oberflächlich an ihnen vorbeizieht. Wieder andere haben sich so sehr an den ständigen Input gewöhnt, dass sie das Gefühl haben, nicht mehr darauf verzichten zu können, ohne etwas Wichtiges zu verpassen. Das erfordert laut einem Artikel der Deutschen Welle wiederrum dauerhafte Aufmerksamkeit, sowie ausgeprägtes Multitasking und führt unweigerlich über kurz oder lang zu einem erhöhten Stresslevel. Viele besorgte Eltern, Lehrer und Lehrerinnen, sowie Medienwissenschaftler*innen fragen sich nun, wie es möglich ist Kinder und Jugendliche vor den negativen Auswirkungen der übermäßigen Mediennutzung zu schützen, ohne den Gebrauch von Smartphone und Co komplett zu unterbinden.
Mediennutzung für Kinder mit Risiken und Nebenwirkungen
Eine Antwort darauf kann die Medienpädagogik liefern. Diese besagt, dass je früher man Kinder an eine verantwortungsbewusste Mediennutzung heranführt, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich diese auch mit fortschreitendem Alter den Risiken des Internets bewusst sind. Das Sperren von Seiten und das Anzeigen von Warnungen vor Meldungen mit erschütternden Inhalten ist grundsätzlich sinnvoll, um Minderjährige vor Informationen und Bildern zu schützen. Denn sie selbst können diese nicht richtig einordnen und verarbeiten. Durch das zusätzliche Stärken ihrer eigenen Medienkompetenz kann zusätzlich auch der eigenverantwortliche und souveräne Umgang mit den Medien herausgebildet werden. Schließlich ist es als Erziehungsberechtigte*r kaum möglich, das Kind vor allen möglichen Gefahren im Netz vollständig abzuschirmen. Vor allem mit fortschreitendem Alter und zunehmender Selbstständigkeit ist es sinnvoll, dass sich das Kind den möglichen Folgen seiner Taten im Netz bewusst ist.
Diese Folgen können breitgefächert ausfallen. Das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik, kurz BSI, zählt einige dieser Risiken und die vorsorglich zu treffenden Schutzmaßnahmen auf. Dazu gehört beispielsweise das Preisgeben von persönlichen Daten. Auch wenn der Spruch „Das Internet vergisst nie“ bereits etwas ausgelutscht ist, ist er dennoch wahr. „Kinder sollten deswegen früh lernen, dass sie keine Kontrolle mehr über alle Informationen haben, die sie einmal im Netz geteilt haben“, empfiehlt das BSI. Besonders beim Angeben von Daten wie dem Namen und der Telefonnummer oder beim Verschicken von privaten Bildern an vermeintliche Freunde ist Vorsicht geboten. Aus diesem Grund sollten Kinder und Jugendliche darauf sensibilisiert werden, jederzeit den Hintergrund und die Dringlichkeit des Einblicks in die Privatsphäre zu hinterfragen.
In diesem Zuge ist es unumgänglich auch das Thema Cyber-Mobbing anzusprechen. Unter dem Begriff versteht man bloßstellendes, ausgrenzendes und beleidigendes Verhalten gegenüber einer Person, das über die digitalen Medien stattfindet. Die Anonymität, die das Internet bietet, senkt die Hemmschwelle bei Täter*innen um ein Vielfaches. Sie können sich beispielsweise Profile unter falschen Namen anlegen und ihre Mobbingopfer unerkannt mit unangebrachten Nachrichten, kompromittierenden Kommentaren und blamierenden Fotos konfrontieren. Im Gegensatz zum Mobbing, das außerhalb der digitalen Welt stattfindet, kann Cyber-Mobbing rund um die Uhr und unkontrolliert geschehen. Da digitale Medien von beinahe überall aus und zu jeder Uhrzeit genutzt werden können, sind den Täter*innen selbst nach Schulschluss oder in den Ferien keine Grenzen gesetzt. Kinder sollten aus diesem Grund zum einen darauf aufmerksam gemacht werden, welch verletzende Wirkung beleidigende Worte und unangebrachte Witze auch durch den scheinbar schützenden Mantel des Internets haben können. Zum anderen ist es von großer Bedeutung, den Heranwachsenden deutlich zu machen, wie wichtig es ist, mit jemanden darüber zu sprechen und sich nicht zu schämen, falls man sich selbst durch Kommentare im Netz gekränkt fühlt.
Schulfach „Medienerziehung“?
Was sich also erst einmal toll anhört – nämlich dass jede*r durch digitale Medien eine Stimme hat und zum Sender oder zur Senderin werden kann – kann auf der anderen Seite der Auslöser der bereits erläuterten Risiken des World Wide Webs sein. Laute Stimmen werden häufig gehört und gefördert, während leise Stimmen zum Verstummen gebracht werden. Mobbingattacken werden befeuert und Desinformation weiterverbreitet. „Der Einzelne ist medienmächtig geworden, aber noch nicht medienmündig“, meint der Medienexperte und Professor für Medienwissenschaft, Bernhard Pörksen, in einem Interview im Südkurier.
Eine Sache liegt hierbei auf der Hand: Es ist nicht allen Erziehungsberechtigten möglich, die Bildungsherausforderung, die durch die Digitalisierung entstehen, als solche zu erkennen und auf sie zu reagieren. Man kann es ihnen zudem nicht zumuten, eigenständig aus Medienmächtigen Medienmündige zu machen. Aus diesem Grund flammt schon lange, mal mehr und mal weniger, die Diskussion um die Einführung eines Schulfachs unter dem Namen „Medienerziehung“ oder „Digitalkunde“ auf.
„Die Bildungsvision lautet: Wir müssen von der digitalen Gesellschaft, in der wir heute leben, zur redaktionellen Gesellschaft der Zukunft werden. Hier sind die Prinzipien des guten Journalismus zu einem Element der Allgemeinbildung geworden“, so Pörksen.
Mit dieser Vision der redaktionellen Gemeinschaft ist die Einigung der Grundsätze des professionellen Journalismus mit denen der Gesellschaft gemeint. Das bedeutet, die obersten Regeln des Journalismus wie „Prüfe erst, publiziere später! Analysiere deine Quellen! Mache ein Ereignis nicht größer als es ist!“ sollten zukünftig auch zu den Idealen der Gesellschaft werden. Um das zu ermöglichen, sollten sich Kinder und Jugendliche laut Pörksen bereits in der Schule beispielsweise mit der Medienanalyse, mit der Irrtumsanfälligkeit des Menschen und der Verführbarkeit durch Propaganda auseinandersetzen. Besonders das Quellenbewusstsein sollte in Zeiten von Fake-News und Information-Overflows trainiert werden. Denn Inhalte an sich bleiben im Bewusstsein einer Person meist länger hängen als deren fraglicher Ursprung, erklärt der Medienwissenschaftler.
Zumutung für Schulen oder sinnvolle Lösung?
Bei vielen trifft der Vorschlag für ein weiteres Schulfach für den richtigen Umgang mit den (digitalen) Medien jedoch auf Unverständnis. „Seltsam, was Eltern der Schule alles zumuten. Nun soll sie die Kinder auch noch medienkompetent und internetfest machen“, lautet beispielsweise ein Kommentar im Tagesspiegel. Es sei schließlich ganz klar die Aufgabe der Eltern mit ihren Kindern Regeln zu vereinbaren. „Wir brauchen echte Bildung. Wer nichts weiß, findet auch im Internet nichts. Wenn naive Digital Natives auf analoge Wirklichkeiten treffen, kann das ganz böse enden“, ist in einem anderen Kommentar in der Südwest Presse zu lesen.
Wie so oft liegt die Lösung vermutlich auch hier in der Mitte. Durch die Sensibilisierung der Heranwachsenden für Themen wie Fake News, Cyber-Mobbing und Datenschutz können Erziehungsberechtigte einen wichtigen Grundstein für den verantwortungsbewussten und selbstbestimmten Umgang ihrer Kinder mit den digitalen Medien legen. Mit einem zusätzlichen Schulfach ist es darüber hinaus möglich, Themen wie die Medienanalyse und Medienpraxis vertiefend zu thematisieren. Bernhard Pörksen bringt das wie folgt auf den Punkt: „Die Bewusstseinsbildung, auf die es ankommt, ist nur im Zusammenspiel möglich: durch das Elternhaus, die Schule, einen möglichst transparenten, dialogorientierten Journalismus“.
Quellen:
Bäuerlein, Ulrike (2019): „Visionsarm, floskelhaft, technokratisch“: Medienexperte kritisiert digitale Bildung in der Schule und fordert das Schulfach Medienerziehung, SÜDKURIER Online, [online] https://www.suedkurier.de/ueberregional/panorama/Visionsarm-floskelhaft-technokratisch-Medienexperte-kritisiert-digitale-Bildung-in-der-Schule-und-fordert-das-Schulfach-Medienerziehung;art409965,10014091 [abgerufen am 05.04.2022].
Deutsche Welle/Wiebke Feuersenger/Jasmin Rogge (2019): Was die Informationsüberflutung mit uns macht, DW.COM, [online] https://www.dw.com/de/was-die-informations%C3%BCberflutung-mit-uns-macht/l-49536495 [abgerufen am 05.04.2022].
Konrad, Niklas (2010): Pro & Contra : Soll Internetkompetenz ein neues Schulfach werden?, tagesspiegel.de, [online] https://www.tagesspiegel.de/berlin/pro-und-contra-soll-internetkompetenz-ein-neues-schulfach-werden/1964978.html [abgerufen am 05.04.2022].
Risiken und Schutzmaßnahmen – Kinder im Internet (2019): Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik, [online] https://www.bsi.bund.de/DE/Themen/Verbraucherinnen-und-Verbraucher/Informationen-und-Empfehlungen/Cyber-Sicherheitsempfehlungen/Kinderschutz-im-Internet/Risiken-und-Schutzmassnahmen-fuer-Kinder-im-Internet/risiken-und-schutzmassnahmen-fuer-kinder-im-internet_node.html [abgerufen am 05.04.2022].
Steinle, Igor/André Bochow (2017): Pro und Contra: Pro & Contra: Muss Digitalisierung in den Schulen sein?, swp.de, [online] https://www.swp.de/muss-digitalisierung-in-den-schulen-sein_-24314148.html [abgerufen am 05.04.2022].