Islamfeindlichkeit: Der Medien-Verkaufsschlager

von Lara Luttenschlager

Wenn es etwas gibt, was in Europa gerade wortwörtlich schlechte Presse hat, ist es wohl der Islam. Inzwischen halten laut des Religionsmonitors der Bertelsmann-Stiftung 57 Prozent der nicht-muslimischen Bevölkerung in Deutschland den Islam für bedrohlich. Und das äußert sich nicht nur in Form von alltäglicher Diskriminierung und Fremdenfeindlichkeit, sondern auch in Form von steigenden Angriffen auf Asylunterkünfte. Doch warum hat dieses Feindbild überhaupt Hochkonjunktur?

Zur Erfindung eines Feindes

Neu ist das Feindbild des Islam in Europa keineswegs. Schon während der Kreuzzüge und Türkenkriege brannten sich Vorteile über Muslime tief in das europäische Gedächtnis ein. Gerade die Idee eines „Islam auf dem Vormarsch“ und einer „Islamisierung des Abendlandes“ sind Motive, die seit Jahrhunderten existieren – auch wenn die Erfüllung dieser scheinbar todsicheren Prophezeiungen durchaus auf sich warten lässt. Trotzdem waren Beiträge über den islamischen Orient in den Medien lange so romantisch und exotisch gefärbt, dass Edward Said in diesem Rahmen den Begriff des Orientalismus prägte. Auch im 20. Jahrhundert interessierte der Islam lediglich als Randthema, das allenfalls eine Meldung über den alljährlichen Beginn des Ramadans wert war. Richtiges Interesse flammte erst 1978/9 durch die islamische Revolution im Iran auf – und mit ihm ein politisiertes Islambild. Zum Vorreiter unter den Feindbildern avancierte der Islam mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion, und somit zum größten Feindbild des Westens. Schon 1991 sprach die NATO, ursprünglich als Bündnis gegen die UdSSR gegründet, von einer potenziellen Bedrohung aus dem Nahen Osten.

Eine Form des Kulturrassismus

13512605195_2178eca61b_o„Mekka Deutschland. Die stille Islamisierung“, „Allahs rechtlose Töchter. Muslimische Frauen in Deutschland“, „Der Koran. Das mächtigste Buch der Welt“ – das sind nicht etwa die reißerischen Titel rechtsradikaler Nischenpublikationen, sondern Titelstories von Der Spiegel, also immerhin Deutschlands meistgelesenem Nachrichtenmagazin. Rund 80%[1]  aller Beiträge in den öffentlich-rechtlichen Magazinsendungen berichten im Kontext von Terrorismus, Integrationsproblemen und Fundamentalismus über den Islam. Mit ihm gleichgesetzt werden heute schwarz verschleierte Frauen, brennende Fahnen und Terrorismus, die zugleich als nahezu einzige visuelle Motive dienen. Die visuelle Darstellung des Islam ist auch deshalb besonders problematisch, da wir in einer Zeit leben, in der Bildmedien und Bilder allgemein enorm an Bedeutung gewinnen. Mit ihren Bilderwelten und Berichten bedienen unsere Medien auf diese Weise soziale Ängste und rassistische Klischees, die laut dem früheren Vorsitzenden des Zentralrates der Juden in Deutschland Ignatz Bubis auf den gleichen Fehlinformationen beruhen, die zum Antisemitismus in Deutschland geführt hätten.

Besonders am Feindbild Islam ist zudem, dass nicht nur Menschen diskriminiert werden, die sich tatsächlich zum Islam bekennen und diesen praktizieren, sondern die negativen Zuschreibungen, die das Feindbild enthält, auch Menschen zugeordnet werden, die unter Umständen gar keine Muslime sind. Die Stereotype der Männer als Gewalttäter und Fanatiker und der Frauen als Opfer von Unterdrückung und Gewalt werden beispielsweise bereits Menschen ihrer Herkunft oder ihres Namens wegen angelastet, wenn diese mit dem Islam in Verbindung gebracht werden. Personen mit arabischem oder türkischem Familiennamen etwa werden pauschal einer kulturell oder biologisch definierten Gruppe zugeordnet, ungeachtet ihrer Religion und Religiosität – Islamfeindlichkeit ist also keine reine religiöse Diskriminierung, sondern auch eine Form des Kulturrassismus.

Doch wozu das Ganze?

Die Bildung der eigenen Identität funktioniert zu großen Teilen über das Zugehörigkeitsgefühl zu bestimmten sozialen Gruppen. Doch auch Gruppen müssen sich definieren, sich bestimmte normative Eigenschaften zuschreiben und festlegen, welche Ziele und Werte sie haben. Indem sie sich gleichzeitig von anderen Gruppen abgrenzen und ihnen somit den Gegenentwurf ihrer „eigenen“ Eigenschaften zuordnen, beschreiben sie sich selbst. Ob die Beschreibung der anderen Gruppe korrekt ist, ist dabei zunächst wenig von Interesse. Gerade in unserer Gesellschaft werden Muslime als sehr gewalttätig beschrieben, als Terroristen, Fundamentalisten und Anhänger von „Parallelgesellschaften“ (Stichwort Abgrenzung), die die Demokratie gefährden, indem sie das Gesetz nicht akzeptieren. Weit verbreitete Vorurteile gegenüber Migranten führen beispielsweise dazu, dass Probleme der Geschlechtergleichstellung oder häuslicher Gewalt als rein gruppenspezifische Thematiken dargestellt werden, die verdecken, dass Geschlechterdiskriminierung  sowie körperliche und psychische Gewalt in Paarbeziehungen in der gesamtdeutschen Gesellschaft weit verbreitete Phänomene sind. Auch dass Ehrenmorde in patriarchalen, christlichen Kulturen des Mittelmeerraums ebenfalls verbreitet sind, wird dadurch zum Beispiel gerne vergessen. Insgesamt wirkt die eigene, „deutsche“ oder „europäische“ Gruppe infolgedessen moderner, freier, besser. Diese Funktion der Abgrenzung bietet der Islam als Feindbild innerhalb unserer Einwanderungsgesellschaft durch den Migrationsdiskurs und nach außen als rückständiges, fundamentalistisches und gewalttätiges Gegenbild für den gesamten Westen.

Eine Frage der Darstellung

6391084357_b1821442eb_oDie Inhalte und Darstellungen, die das Publikum über die Medien rezipiert, sind nicht zuletzt deshalb so wirkungsvoll, weil ein Großteil der Bevölkerung keine direkten Kontakte zu Muslimen pflegt und die medial verbreiteten Vorurteile so nur schwer an der Realität überprüfen kann. Hinzu kommt, dass die selektive Berichterstattung der Medien, die sich an Negativ- und Konfliktereignissen als Nachrichtenfaktor orientiert, keinen Informationskontext bietet, der den Rezipienten ermöglicht, beispielsweise islamistische Angriffe zu relativieren und richtig einzuordnen, da etwa über gewaltfreie Formen des Widerstandes im Islam, die durchaus weit verbreitet sind, nicht berichtet wird. So symbolisiert der weltberühmte Gandhi den friedlichen Hinduismus, aber Badshah Khan, der als pakistanischer Muslim tausende friedliche Demonstranten anführte und 1985 für den Friedensnobelpreis nominiert wurde, genießt heute hingegen keine besondere Bekanntheit.

Feindbilder sind keine in den Stein gemeißelten Tatsachen. Das lässt sich zum Beispiel daran erkennen, dass durch eine verantwortungsvollere, reflektierte Berichterstattung und genügend politischen Willen selbst aus dem jahrhundertelangen Erbfeind Frankreich irgendwann ein Partner wurde. Doch solange Zeitungen und TV-Sender statt Aufklärung über die Vielfalt muslimischer Bräuche, Konfessionen und Lebenswirklichkeiten nur Ehrenmorde und Burkas zu bieten haben, ist eine Abkehr von unserer „Islamophobie“ noch weit entfernt.

Fotos: flickr.com/Aslan Media (CC BY-NC-ND 2.0), flickr.com/jonathanorjack (CC BY-NC-ND 2.0), flickr.com/Kevin Schoenmakers (CC BY-NC-ND 2.0)

[1] Hafez, Kai/Carola Richter (2007): „Das Islambild von ARD und ZDF“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 26-27(2007), S. 40-46.

 


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Die Gewinner des „Internationalen Wettbewerbs“

von Andrea Kroner

Eine andere Seite der DDR, die man so normalerweise nicht sieht. Ein langweiliger Schultag. Rhythmusgefühl mit schrägen Formen. Die Angst, etwas vergessen zu haben. So lassen sich die Gewinnerfilme des ITFS in Kurzform beschreiben, doch was macht sie zum Besten, das die Animationsbranche zu bieten hat?

Grausame Realität – Kaputt

Es ist sehr schwierig, eine Dokumentation in einem Animationsfilm zu verarbeiten. Doch genau das ist hier gelungen. „Kaputt“ erzählt vom Alltag im berüchtigten Frauengefängnis „Burg Hoheneck“ der DDR. Die Zellen waren vollkommen überbelegt und es lastete ein enormer Leistungsdruck auf den Gefangenen. Sie mussten Bettwäsche für westliche Konzerne in Rekordzeit produzieren und wurden dabei gegeneinander aufgestachelt. Dadurch erzielten alle hohe Gewinne, außer den Gefangenen.

Das Besondere ist, dass zwei Gefangene über ihre Erlebnisse sprechen und ihre Schilderungen im Film illustriert werden. Die Bilder sind äußerst abstrakt und einfach gehalten und zeigen deutlich die Monotonie und Einfachheit des Alltags. Alles sieht sich ähnlich und es werden kaum Farben verwendet. Dadurch wird eine starke Atmosphäre erzeugt, die den Zuschauer direkt in den Film hineinzieht. Die Jury findet es wichtig, diesen Teil der Geschichte in Erinnerung zu behalten und hat den Film deshalb mit dem „Grand Prix“ und 15.000€ Preisgeld ausgezeichnet.

Schulalltag extrem – Afternoon Class

Das Dasein eines Schülers ist nicht immer leicht. Ständig muss man aufpassen und so viel lernen. Das fällt nicht immer leicht und vor allem nachmittags lässt die Konzentration erheblich nach. Da ist die Versuchung manchmal ziemlich groß, einfach einzuschlafen. Schnarchende Nachbarn machen es dem Protagonisten nicht gerade einfacher. Und als sein Kopf auch noch so schwer wie eine Bowlingkugel oder gar ein Amboss wird, kann er der Versuchung immer schwieriger widerstehen und gibt am Ende nach. Jetzt kann sich auch der Lehrer ein Nickerchen gönnen, da sowieso niemand mehr wach ist.

Dieser Film dauert nur knapp vier Minuten, doch diese Zeit wird optimal genutzt. Das Timing stimmt perfekt und auch die Pointen stehen an den passenden Stellen. Dafür verleiht ihm die Jury den „Lotte Reininger Förderpreis für Animation“, mit 10.000€ dotiert, und erhofft sich viel für die Zukunft des Regisseurs.

Bewegung wird zu Musik – Rhizome

Am Anfang stand ein Ton von vielen kleinen Kugeln, die aneinander stießen. Doch daraus entwickelte sich immer mehr. Die Töne und auch die Formen wurden immer differenzierter und ausgefallener, bis daraus am Ende ein regelrechter Strom wurde, der alles zusammenbrachte. Die Formen verschmolzen zu einem großen Ganzen und es entstand ein richtiges Lied. Dahinter steht eine wesentlich größere Aussage: Alles im gesamten Universum hängt irgendwie zusammen und bildet dadurch eine große Einheit. Dadurch kann selbst aus den kleinsten Dingen etwas Großartiges entstehen. Leider wird der Film durch mangelnde Variation in Bild und Ton auf Dauer etwas langweilig. Für die einfallsreiche Idee erhielt das französische Studio eine besondere Aufmerksamkeit durch die „Jury Special Mention“ beim ITFS.

Was wäre wenn – Paniek!

Bestimmt jeder hat sich auf dem Weg schon einmal gefragt, ob der Ofen wirklich ausgeschaltet oder das Bügeleisen ausgesteckt ist. Wenn diese Gedanken sich jedoch verbinden, kann daraus ein wahres Schreckensszenario werden – Kopfkino vom Feinsten auf der Leinwand.

Die Geschichte beginnt vollkommen harmlos und unspektakulär: Eine Frau packt ihr Auto für einen Urlaub und fährt los. Doch nach und nach fallen ihr immer mehr Dinge ein, die sie vergessen haben könnte. Und gemeinsam ergeben diese Vorkommnisse das absolute Chaos, das in der Explosion des ganzen Hauses endet – zumindest in der Vorstellung der Protagonistin. Denn, als sie in heller Panik wieder zuhause ankommt, ist alles beim Alten. Doch in ihrer Eile hat sie die Handbremse vergessen und ihr Auto löst eine Verkettung von Unfällen aus. Diese lustige Produktion, in die man sich unglaublich gut hineinversetzen kann, hat den Zuschauern so gut gefallen, dass er mit dem „SWR-Publikumspreis“ und 6.000€ Preisgeld ausgezeichnet wurde.

Etwas ganz besonderes

Jeder der Filme zeigt eine ganz besondere Seite des Animationsfilms und ist auf seine eigene Art großartig. Doch die Sieger sind nur ein paar von vielen, interessanten Ideen und Herangehensweisen. So war jeder ein Sieger, der die schöne Filmvielfalt des ITFS sehen und genießen durfte.

 

Foto: ITFS

Zwei Welten prallen aufeinander – Animation Oper

von Andrea Kroner

Der Trickfilm und diese Gesangskunst scheinen im ersten Moment keinerlei Gemeinsamkeiten zu besitzen – und zusammenpassen können sie erst recht nicht, oder? Doch das ITFS beweist das Gegenteil und hat dafür wahre Schätze ausgegraben.

Mozart mal anders

Wer kennt sie nicht, „Die Zauberflöte“, eine der bekanntesten Opern Mozarts – und die meistgespielte deutschsprachige Oper überhaupt. Doch die Wenigsten wissen, dass sich die Faszination an diesem Stoff auch im Animationsfilm widerspiegelt. Seit den Anfängen des Trickfilms wurde die Oper auf unterschiedlichste Arten adaptiert. Schon Lotte Reininger erweckte mit „Papageno“ einen Teil des Meisterwerks zum Leben. Alles in Form ihrer berühmten Scherenschnitte. Doch obwohl der Film dadurch komplett in Schwarz-Weiß gehalten ist, bekommt er durch die detailreiche Gestaltung von Figuren und Hintergründen eine wunderschöne Lebendigkeit, welche die Musik perfekt ergänzt.

Oft gestaltet es sich jedoch als äußerst schwierig, Opern einem jüngeren Publikum zu vermitteln. Deshalb hat die BBC 1994 eine Opernreihe im Zeichentrickformat veröffentlicht. Darunter befindet sich neben Werken von Wagner oder Verdi auch „Die Zauberflöte“. Dafür musste radikal gekürzt werden, da eine Vorstellung normalerweise etwa 2,5 Stunden dauert. Die Filme wurden jedoch auf  etwa eine halbe Stunde reduziert. Dadurch wurden natürlich viele Details der Handlung gestrichen, aber man bekommt einen guten Überblick über die wichtigsten Figuren. Außerdem bietet das Medium Film grundsätzlich bessere Möglichkeiten, in die Fantasiewelt einzutauchen. Zu dieser Atmosphäre tragen besonders die aufwändig gestalteten Schauplätze und Kostüme bei.

Eine ganz besondere und etwas andere Annäherung hat unlängst die Komische Oper Berlin gewagt: Gemeinsam mit der britischen Theatergruppe „1927“ entwickelte sie 2012 eine Aufführung, die Sänger auf der Bühne mit Filmanimationen verbindet. Dadurch entsteht eine außergewöhnliche Zauberwelt voller Überraschungen, die Film und Oper auf eine ganz neue Art verbinden kann.

Eine Oper ohne Sänger

Mit einer klassischen Oper hat „The End“ aus dem Jahr 2012 nicht mehr viel zu tun. Es gibt weder Sänger, noch ein Bühnenbild oder ein Orchester. Dafür kann der Zuschauer in ein vollkommen neues Erlebnis eintauchen: Die erste komplett computergenerierte Oper, die voller Überraschungen steckt. Die Geschichte handelt von der jungen Animefrau Miku Hatsune, einem Star der Szene mit langen, türkisfarbenen Haaren. Für sie hat sogar ein Designer von Louis Vuitton virtuelle Kleider gestaltet.

Die zentrale Frage des Stücks beschäftigt sich mit der Bedeutung des Todes und mit Sterblichkeit im Allgemeinen. Doch gestaltet es sich als äußerst schwierig, solche Fragen zu beantworten. Das muss auch Miku Hatsune am eigenen Leib erfahren. Sie wird mit der Tatsache konfrontiert, dass sie bald sterben muss und versucht deshalb auf ihre ganze eigene Art, damit umzugehen. Denn das Ende ist unausweichlich und wird mit ihrem Tod besiegelt. Doch die Handlung tritt mit der Zeit immer mehr in den Hintergrund und wird schwieriger nachvollziehbar, da die Handlungsorte und Themen immer skurriler und weltfremder werden. Dadurch bleibt sehr viel Interpretationsspielraum, aber auch vieles ungeklärt. Deshalb geht die Kernaussage in der Fülle an angeschnittenen Themen leider etwas unter.

Technisch gesehen kommt die Oper mit einem einzigen Musiker aus. Der Macher dahinter ist Keiichiro Shibuya. Er sitzt in einem viereckigen Kasten auf der Bühne und begleitet das Stück musikalisch. Ansonsten besteht das Bühnenbild lediglich aus Wänden für eine 3D-Projektion. Die Stimmen der Figuren werden mithilfe eines sogenannten „Vocaloid Synthesizers“ erzeugt und ähneln menschlichen Stimmen. Gerade Miku Hatsune ist damit sehr erfolgreich, nicht nur in der Oper. Diese Figur entstand bereits 2007 und ist seitdem vor allem in Japan immer populärer geworden – dort sind Musikalben und Konzerte einer 3D-Projektion nichts ungewöhnliches, sondern sehr beliebt.

Gegensätze ziehen sich an

Wie so oft kann man scheinbar Gegensätzliches meist besser verbinden, als es zunächst den Anschein hat und dadurch neue, einzigartige Kombinationen und Kompositionen schaffen. Wer weiß, wohin der Trend der animierten Oper in Zukunft noch führen kann. Denn eines ist sicher: Das Potenzial der Kombination lässt auf die Zukunft hoffen.

Foto: ITFS

Das Team hinter dem Film

von Andrea Kroner

Wie entsteht eigentlich ein Film aus einer Idee? Und welche Möglichkeiten gibt es, einen Animationsfilm zu produzieren? Verschiedene Studios haben sich im Rahmen des ITFS vorgestellt und einen kleinen Einblick in ihre Arbeit gegeben.

Studio Soi – Ludwigsburg

Im Jahr 2003 entschieden sich sieben Absolventen der Filmakademie, eine eigene Firma zu gründen – heute beschäftigen sie bis zu 100 Spezialisten aus aller Welt und produzieren erfolgreich Animationsfilme für Kinder. Eine ihrer bekanntesten Co-Produktionen ist „Der Grüffelo“, ein Kurzfilm über ein Ungeheuer, das von einer Maus das Fürchten lernt.

Derzeit verfolgt das Studio zwei verschiedene Projekte: Zum einen „Trudes Tier“ für „Die Sendung mit der Maus“. Die Idee dazu stammt aus dem eigenen Team und soll den Kindern helfen, mehr Vertrauen zu sich selbst zu entwickeln und fürs Leben zu lernen. Die andere Serie handelt vom Bären „Petzi“, der mit seinen Freunden zahlreiche Abenteuer bestehen muss. Hier dienen 35 Comics als Vorlage. Dadurch hat man einerseits eine Orientierungshilfe, muss sich aber auch überlegen, wie man die Inhalte am Besten in das Medium Film „übersetzen“ kann. Doch das Team hatte viele Freiheiten – oft entstand eine Episode aus einem einzigen Bild im Comic.

Il Luster – Utrecht

Dieses niederländische Studio hat sich auf unabhängige Kurzfilme spezialisiert und bisher schon mehr als 50 produziert. Gegründet wurde es 1996 von vier Produzenten, die sich seitdem ein weitläufiges Netzwerk aufgebaut haben. Im Laufe der Zeit kam auch die Produktion von Fernsehserien und zwei Langfilme hinzu. Das Publikum des ITFS konnten sie dieses Jahr so von sich überzeugen, dass der „SWR-Publikumspreis“ an einen ihrer Filme ging.

Saban Brands – Los Angeles

Die wohl bekannteste Serie dieses Studios sind die „Power Rangers“. Davon abgesehen hat es viel mit bekannten Marken gearbeitet und diese in Kinderserien verwandelt. So beispielsweise Paul Frank, dessen Tierfiguren in Vorschulalter versetzt und zu „Julius Jr.“ wurden. Auch das aktuelle Projekt „Luna Petunia“ arbeitet nach diesem Prinzip: Es nimmt die Akribatikshows des „Cirque du Soleil“ als Vorlage und macht daraus eine bunte Welt voller Überraschungen und magischer Wesen. Dabei hat sich nicht nur das Medium, sondern auch das Zielpublikum geändert. Es richtet sich an Mädchen im Vorschulalter und ist, wie alle Serien von „Saban Brands“, stark geschlechtsspezifisch.

LAIKA – Portland

Für seine Produktionen braucht dieses Studio nicht nur Computer zum Animieren, sondern auch Arbeitsraum in der Größe von 2,5 Fußballfeldern. Denn seine Filme entstehen durch Stop-Motion-Technik. Für jeden einzelnen Film werden deshalb mittels 3D-Druck Figuren und Hintergründe erschaffen – rund 60.000 verschiedene Gesichter, von denen über 5.000 an die Hauptfigur gehen, ebenso wie etwa 50 Perücken. Dadurch haben sie es beispielsweise bei „Coraline“ geschafft, über 90% der Szenen mittels Stop-Motion zu drehen.

Bei ihrer neuesten Produktion „Kubo – Der tapfere Samurai“ ist das anders: Viele Hintergründe wie beispielsweise Wasser sind nur sehr schwer nachbaubar. Deshalb werden sie mittels Computern animiert, die Figuren jedoch weiterhin in Kleinstarbeit bewegt. Denn an einem guten Tag können maximal drei bis vier Filmsekunden gedreht werden.

A Film Production – Kopenhagen

Nach seiner Gründung 1988 hat sich das Studio hauptsächlich mit Werbung, einer guten Einnahmequelle, beschäftigt. Mit Filmen beschäftigten sie sich erst nach dem Erfolg von „Arielle, die Meerjungfrau“. Die großen Studios konnte die Nachfrage nach klassischen Animationsfilmen nur stillen, indem sie kleinere Firmen engagierten. Mit „Jungle Jack“ entstand 1993 der erste eigene Film, der 400.000 Besucher in die Kinos lockte. Doch bei Eigenproduktionen muss das Studio enorm auf seine Kosten achten, mehr als zwei Millionen Euro Kosten kann es sich nicht leisten.  Um Risiko und Ausgaben noch weiter zu senken, stützen sie sich viel auf Co-Produktionen. Ihr Hauptpartner ist „Kiddinx“ mit Serien wie „Benjamin Blümchen“ und „Bibi Blocksberg“.

Ein breites Spektrum

Wie auch bei Spielfilmen kennt man meist nur die Filme der großen Studios. Doch blickt man einmal über den Tellerrand hinaus, kann man Erstaunliches entdecken. Denn auch kleinere Entwickler schaffen oft großartige Filme – das ITFS ist der beste Beweis dafür.

Foto: ITFS

Die fabelhafte Welt des Trickfilms – das ITFS in Stuttgart

von Andrea Kroner

Voll besetzte Kinos, Filme unter freiem Himmel, Computerspiele in einer virtuellen Realität. All das und noch viel mehr  konnten die 85.000 Besucher des Internationalen Trickfilmfestivals letzte Woche erleben. Schon zum 23. Mal lud das Festival Filmbegeisterte ein, die Welt des Animationsfilms zu entdecken – mit 1000 Beiträgen aus 55 Ländern.

Das Herz des Festivals

Tosende Vulkane und die Evolution der Menschheit in Kurzform können mithilfe neuester Techniken unglaublich realistisch dargestellt werden – man vergisst dadurch fast, dass man sich in einem Animationsfilm befindet. Danach werden die klassischen Superhelden aufs Korn genommen – mit einer Frau, die wie selbstverständlich ein Ufo zerstört. So wechseln sich skurrile, lustige, spannende und nachdenkliche Themen während des „Internationalen Wettbewerbs“ im Minutentakt ab.

Dieser bildet das Kernstück des gesamten Festivals und zeigt die besten Animationskurzfilme des vergangenen Jahres. Aber nicht nur die Themen, sondern auch die verwendeten Techniken sind vielfältig: Es gibt zum einen noch viele klassisch gezeichnete Filme, aber ebenso Stop-Motion und Computeranimation. Die Farbpalette reicht von Schwarz-Weiß über wenige Farbakzente bis hin zu schillernden Regenbogen – es ist für jeden etwas dabei. Mehr über die Gewinner…

Die Game Zone

Wie kann man noch mehr in das Spielerlebnis eintauchen? Wie kann man die Erfahrung noch realistischer gestalten? Damit beschäftigen sich Spielentwickler seit jeher – so entstanden „Virtual-Reality-Brillen“. Und auch in der Spielwelt des ITFS konnte man dieses Jahr die neueste Generation der Unterhaltungselektronik auf verschiedenste Arten erleben. Mit „Keep Talking and Nobody Explodes“ beispielsweise wird das Spiel mit der Realität verknüpft: Zwei Spieler müssen gemeinsam eine Bombe entschärfen. Das hört sich zunächst nicht allzu schwierig an, doch einer der beiden trägt eine VR-Brille und sieht nur die Bombe, der andere muss mithilfe eines Handbuchs Anweisungen zur Entschärfung geben. Natürlich könnte man das genauso gut an einem normalen Computer spielen, aber die virtuelle Realität macht es noch intensiver.

Kino mal anders

Wer sich keinen Festival-Pass kaufen wollte, konnte kostenlos an vielen Veranstaltungen des ITFS teilnehmen, unter anderem an den Spielen der Game Zone oder dem Open-Air-Kino auf dem Schlossplatz. Doch letzteres hatte dieses Jahr leider viel mit dem sprichwörtlichen Aprilwetter zu kämpfen. Und zusätzlich ein wenig mit der Technik – denn die 85m² große Leinwand fiel sogar komplett aus. Und das genau eine Stunde bevor der neue „Star Wars: Das Erwachen der Macht“ gezeigt werden sollte. Das Problem konnte jedoch zeitnah behoben werden und dem Filmerlebnis stand nichts mehr im Wege – nicht einmal das Wetter. Insgesamt wurden an allen Festivaltagen viele spannende Filme gezeigt: Tagsüber Kurzfilme aus der ganzen Welt, die ähnlich vielfältig waren, wie das ITFS selbst. Nachmittags und abends folgten aktuelle Langfilme, darunter der diesjährige Oscar-Gewinner „Alles steht Kopf“. Die große Ausnahme bildete hierbei die Live-Übertragung der Oper „Rigoletto“ am Montag. Mehr zu Animation und Oper…

Der Animationsfilm ist schon längst kein Genre mehr, das sich nur an Kinder richtet. Dennoch bilden diese immer noch ein wichtiges Zielpublikum und wurden im Laufe der vergangenen Jahre immer mehr in das Festival mit eingebunden. In zahlreichen Workshops und Filmvorführungen bekommen sogar die Kleinsten die Möglichkeit, in die Welt der Animation einzutauchen.

Ein Highlight war es, zusammen mit richtigen Filmemachern einen eigenen, kleinen Film produzieren zu können. Es wurde fleißig gemalt, geknetet und gebastelt, um vor der Kamera das bestmögliche Ergebnis zu erzielen. Entstanden sind dabei verschiedenste Ideen – von einem Pinguin im Büro bis zu einer abenteuerlichen Weltraummission.

Um zu sehen, wie professionelle Filmemacher ihre Werke gestalten und sich vielleicht etwas für die eigenen Ideen abzuschauen, gab es in den täglichen Vorstellungen viel zu sehen – dabei waren häufig Regisseure anwesend, die sich den Fragen der neugierigen Kinder stellten. Am Sonntag wurde sogar der Preis für den besten Kinderfilm von einer Jury bestehend aus sechs Kindern zwischen neun und dreizehn Jahren vergeben. Er ging an die spanische Produktion „Alike“. Dieser spielt sehr stark mit verschiedenen Farben und Körpersprache, denn er funktioniert ohne Sprache. Darüber hinaus zeigt er die traurige, ernste Seite des Animationsfilms. Genau diese Andersartigkeit gefiel der Jury besonders.

Eine bunte Mischung

Insgesamt konnte das Festival wieder mit einem außergewöhnlichen und vielfältigen Programm überzeugen, das den Zuschauer abwechselnd zum Lachen, Weinen oder Nachdenken brachte.

Foto: ITFS

Triple 9 – schieß oder stirb!

von Maya Morl295ock

Im packenden Crimethriller von John Hillcoat, der am 5. Mai in die Kinos kommt, steht eine Gruppe korrupter Polizisten gewaltig unter Druck: Die blutrünstige russische Mafia verlangt nach einem Banküberfall einen nahezu unmöglichen Coup – ein grausames Ablenkungsmanöver muss her!

Auge um Auge

Frischling Cris Allen (Casey Affleck) rappelt sich langsam auf. Gerade eben war er von einem bulligen Gangmitglied niedergeschossen worden – die schusssichere Weste verhinderte das Schlimmste. Allen ist erst kürzlich in das gefährlichste Viertel in Atlanta versetzt worden, hier herrscht die übermächtige Russenmafia. Folter, Straßenschlachten, öffentliche Hinrichtungen und rivalisierende Gangs stehen hier an der Tagesordnung. Sein neuer Partner Marcus Belmont (Anthony Mackie) ist dem Angreifer gefolgt. Zurück auf den Beinen jagt er seinem Partner zur Unterstützung hinterher. Sein Idealismus treibt ihn an; er ist größer als die Angst von einem Gangmitglied niedergeschossen zu werden und Frau samt Kind zurückzulassen. Er stürmt um die Ecke und sieht Belmont mit dem hünenhaften Riesen ringen. Beide haben den Griff eng um eine Pistole gelegt und versuchen sie auf den Gegner zu richten. Der Stärkere wird gewinnen, der Verlierer ist derjenige, dem zuerst die Kraft ausgeht. Schnell wetzt Allen los und erledigt den Feind mit einem gezielten Kopfschuss; das Blut spritzt. Belmont sieht seinem Lebensretter in die Augen; das schlechte Gewissen beginnt an ihm zu nagen: Weiß er doch, dass er für den Tod des engagierten Kollegen verantwortlich sein wird!

Das Dilemma

Triple NineEine Truppe aus vier erfahrenen Polizisten oder Militärkumpanen bildet das Team der korrupten Cops. Michael Atwood (Chiwetel Ejiofor), der Anführer, war einst ein guter und gewissenhafter Polizist, bevor er sich mit der Schwester von Irina Vlaslov (Kate Winslet) einließ. Sie ist der Kopf der Russenmafia in Atlanta und an Grausamkeit nicht zu übertreffen. Atwoods Sohn Felix ist ihr Druckmittel.  Marcus Belmont, Russel Welch (Norman Reedus), sein Bruder Gabe Welch (Aaron Paul aus „Breaking Bad“) und Jorge Rodriguez (Clifton Collins Jr.) runden das Team ab; sie sind aus Geldgier oder aus verloren gegangenem Idealismus dabei. Der erste Coup, ein waghalsiger Bankraub am hellen Tag, läuft um ein Haar schief. Doch Vlaslov verlangt einen zweiten, nahezu unmöglichen Raub, um dem Deal nachzukommen. Die Sicherheitsvorkehrungen sind immens. Eher beiläufig schlägt Gabe den „Triple 9“ vor, die schlimmste Grenzüberschreitung für jeden Polizisten: 999 ist der Polizeicode für angeschossenen oder getöteten Polizisten. Dann lässt die gesamte Zentrale alles stehen und liegen, um sich um diese wichtige Angelegenheit zu kümmern. Währenddessen werden andere Straftaten ignoriert. Die korrupten Kollegen nehmen den Vorschlag jedoch ernst und schnell ist auch das Opfer gefunden. Es ist kein geringerer als der neue Partner von Belmont: Cris Allen!

Der Hautnah-Effekt

John Hillcoat ist bekannt für seine „hautnah“-Filme (Lawless-die Gesetzlosen oder The Road). Er möchte die Szenen realitätsnah zeigen und wenig mit Computertechniken arbeiten, um die Authentizität zu wahren. Bei Einbrüchen und Verfolgungsjagden auf offener Straße wurden deswegen genau mit der Kameraführung gearbeitet und zum Großteil auf Computereffekte verzichtet. Vor allem zwei Actionszenen, eine zu Beginn und eine relativ weit am Ende, stellten den Stuntkoordinator Mickey Giacomazzi vor eine Herausforderung, weil sie echt und kaum nachbearbeitet sein sollten. Auch die Schauspieler bereiteten sich intensiv auf ihre Rollen vor: Ejiofor trainierte mit Navi Seal Mark Stefanich in einem kleinen Ausbildungslager und studierte unterschiedlichste Körperhaltungen und Waffen. Affleck begleitete echte Polizisten, die tagtäglich im Einsatz gegen Bandenkriminalität ihr Leben aufs Spiel setzen, um den nötigen Respekt und den Mut zu verkörpern. Und Kate Winslet trainierte sich akribisch einen russischen Akzent an. „Ihr Akzent musste immer absolut perfekt sein, sonst war sie nicht zufrieden“, schwärmt Regisseur John Hillcoat.

Fazit

Letzter Abschnitt FazitIm Großen und Ganzen ist Hillcoat ein guter und mitreißender Film gelungen. Sein Bestreben nach Authentizität und dem Hautnah-Effekt ist gelungen. Die Inszenierung und die Actionszenen sind sehr gut. Die Suche nach Moral, dem Gewissen und den menschlichen Abgründen, wie die Gier nach Macht und Geld sind gut inszeniert. Die Starbesetzung trägt ihren Teil dazu bei und ist dem Film nur förderlich. Vor allem Kate Winslet glänzt in ihrer Rolle: Ohne zu übertreiben, mimt sie eine durch und durch kaltblütige Frau. Sie hat die Rolle verinnerlicht, weshalb man ihr jedes Wort und jede Grausamkeit abnimmt. Etwas schade ist, dass der eigentliche, große und schwierige Coup etwas aus den Augen verloren geht und dann ganz plötzlich durchgeführt wird, ohne dass der Zuschauer Teil an der perfiden Planung hatte. Außerdem bleibt wenig Platz, um dem Publikum auch emotional etwas zu bieten: Das schlechte Gewissen, das Gabe Welch am Ende fast zerreißt, wirkt aus der Luft gegriffen und an der Sympathie des todgeweihten Cris Allen wurde ebenfalls nicht genug gearbeitet. Es wäre schön gewesen, wenn auch der Zuschauer gebannt in seinem Sitz hockt und kopfschüttelnd wimmert: „Oh nein, Allen ist doch so ein guter Mensch – er darf nicht sterben“, anstatt nur darauf zu warten, dass endlich 999 gewählt wird.

Triple 9 ist demnach ein guter und spannender Film, dem jedoch die Brise Emotionalität fehlt, um herausragend zu sein.

Fotos: Wild Bunch Germany

Slut-Shaming: Wenn sich der Mob zur Moralpolizei erhebt

von Lara Luttenschlager

Als sich die Australierin Olivia Melville, 23 Jahre alt, vergangenes Jahr ein Profil auf der allseits gehypten Dating-App Tinder zulegte, hatte sie sich wohl etwas andere Reaktionen erhofft. Denn eigentlich verspricht die App vor allem eins: Den ersten Eindruck auf potentielle Flirts durch ein perfekt inszeniertes Selfie und einen lustigen oder besonders tiefgründigen Spruch bis ins letzte Detail selbst bestimmen zu können. Wem dieser gefällt, ist vielleicht ein „Match“, und wem er nicht zusagt, sieht man sowieso nicht. Abfuhren bleiben so garantiert aus. Olivia, auf ihrem sorgsam ausgewählten Profilbild mit Lippenstift-Lächeln und zwei Freundinnen im Hintergrund ausgestattet, wählte einen vielleicht nicht ganz so romantischen Untertitel für ihr Profil, ein Zitat aus Drakes Song Only: „Type of girl that will suck you dry and then eat some lunch with you“. Für Tinder-Nutzer Chris Hall war dies zwar keinen Match wert – aber einen Screenshot, den er auf Facebook veröffentlichte. Sein Kommentar dazu: „Behaltet Klasse Ladies / Ich bin erstaunt, dass sie immer noch Hunger auf Mittagessen hat“. Der Screenshot ging viral – in Begleitung einer Welle an Beleidigungen über die junge Frau und ihr Profil. Wie so viele andere war Melville soeben „geslutshamed“ worden.

Die Moralpolizei und ihr digitaler Pranger

erster AbschnittDer öffentliche Pranger, wie er früher etwa in Form öffentlicher Auspeitschungen auf dem Marktplatz stattfand, hat in den Sozialen Medien in Form von Cybermobbing sein großes Comeback erlebt. Wer in den Augen der Öffentlichkeit – oder zumindest einer Teilöffentlichkeit – gesündigt hat, wird zur Schau gestellt, diffamiert, beleidigt. Sogenannte shamer betreiben gezielt public shaming gegen jene, die ihrer Meinung eine Normverletzung begangen haben. Im Fall des immer weiter verbreiteten slut-shaming sind es Frauen, die sich scheinbar zu freizügig zeigen oder ein zu freies Sexualleben haben, über die ein wahrer Shitstorm hereinbricht. Am digitalen Pranger werden sie als „slut“ beleidigt, ein Exempel an ihnen statuiert, ihre Normverletzung viral verbreitet. Hall und seine Freunde kündigten sich selbst als „die Kavallerie“ an, bevor sie in der Kommentarzeile weitere Anfeindungen formulierten, als würden sie sich als Kämpfer im Krieg gegen die Verdorbenheit der Frauen verstehen.

Als besonders engagiertes Mitglied dieser selbsternannten digitalen Moralpolizei erwies sich Halls Facebook-Freund Zane Alchin mit Kommentaren wie: „It’s people like you who make it clear women should never have been given rights“. Die wütenden Antworten einer Freundin Melvilles würdigte er durch Vergewaltigungsdrohungen: „You know the best thing about a feminist they don’t get any action so when you rape them it feels 100 times tighter“. Melvilles Fall ist dabei nur einer von vielen – und auch slut-shaming ist nur ein Beispiel für die Bloßstellung sich nicht „normenkonform“ verhaltender Menschen. So verursachte beispielsweise die PR-Managerin Justine Sacco 2013 eine riesige Empörungswelle, als sie kurz vor ihrem Flug nach Kapstadt twitterte: „Going to Africa. Hope I don’t get AIDS. Just kidding. I’m white!“. Sofort zirkulierten weltweit hasserfüllte Kommentare zu der jungen Frau und ihren rassistischen Tweet unter dem Hashtag #hasjustinelandedyet, wenige Tage später setzte ihr sie Arbeitgeber vor die Tür.

Die Verlockungen der digitalen Experimentierwiese

zweiter AbschnittIm digitalen Zeitalter haben wir einen Raum geschaffen, in dem sich nicht nur immer mehr Aspekte unseres Lebens abspielen, sondern in welchem wir auch eine neue Bühne finden, um uns selbst zu inszenieren. Dabei gehört die Selbstinszenierung zum alltäglichen sozialen Leben des Menschen dazu – nur findet sie im Internet nicht Face-to-Face statt. Im zunächst anonymen oder zumindest entpersonalisierten virtuellen Raum haben wir so die Möglichkeit, mit unserer digitalen Identität zu experimentieren, indem wir in sozialen Netzwerken bestimmte Informationen preisgeben, Bilder von uns veröffentlichen und so gezieltes impression management betreiben, wie Erving Goffman sagen würde. Doch während es in der analogen Welt weitaus schwieriger ist, sich zu verstellen, kann man sich in der digitalen Welt durchaus von seiner wahren Person lösen und sich ein anderes Gesicht geben – manchmal im wahrsten Sinne des Wortes. Wohl deshalb ist die Freizügigkeit und sexualisierte Eigendarstellung junger Frauen im Wettbewerb um Aufmerksamkeit und Anerkennung ein inzwischen wohlbekanntes Phänomen.

Wofür viele jedoch noch kein Bewusstsein besitzen, sind die neuen, theoretisch weltweiten Öffentlichkeiten, in die sie ihre Informationen einspeisen. Dies führt dazu, dass Normverletzungen nicht mehr nur in einem begrenzten, lokalen Rahmen sichtbar werden, sondern völlig fremde, weit entfernt lebende Menschen sich ebenfalls über die Handlungen anderer entrüsten können. Durch den höheren Anonymitätsgrad im Netz und die indirekte Form der Kommunikation verlieren diese jedoch große Teile ihrer Empathiefähigkeit, da sie ihren Opfern nicht direkt ins Gesicht sehen, wenn sie agieren. Das Ergebnis sind enthemmtere, verletzendere Reaktionen auf Menschengruppen, deren Verhalten scheinbar nicht mit vorherrschenden Wertvorstellungen vereinbar ist – im Fall des slut-shaming werden dabei Menschen angegriffen, deren Sexualleben angeblich nicht dem gesellschaftlich anerkannten Vorbild entsprechen.

Eine Hetzjagd mit Folgen

Welche Folgen diese digitale Hetzjagd auf die Opfer haben kann, dessen sind sich die shamer meist nicht bewusst. Das wohl bekannteste Beispiel für die Auswirkungen des slut-shamings ist der Selbstmord der 15-jährigen Amanda Todd im Jahr 2012, deren Nacktfoto auf einem Facebook-Profil veröffentlicht wurde und trotz mehrmaliger Wohnortswechsel immer wieder zu Mobbing im Internet und durch ihre Mitschüler führte. Philosoph Burkhard Liebsch spricht im Zusammenhang mit Cybermobbing von einer virtuellen symbolischen Gewalt, durch die gezielt das moralische Gesicht, das Ansehen einer Person zerstört wird. Und da das Internet ja bekanntlich nicht vergisst, ist dieses Gesicht auf lange Sicht kaum wiederherstellbar. Wer heute Olivia Melvilles Namen auf Google eingibt, findet sofort die Spuren ihrer Bloßstellung, die sich auch in  Zukunft wahrscheinlich nicht mehr löschen lassen werden. Wenigstens hatte der Vorfall dieses Mal auch für die shamer Folgen: Chris Hall verlor seinen Job und Zane Alchin muss sich im Juni 2016 vor Gericht verantworten.

Fotos: flickr.com/Delete (CC BY-NC 2.0), flickr.com/Helga Weber (CC BY-ND 2.0), flickr.com/_eWalter_  (CC BY-NC 2.0)


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Kampf um den Schrottplatz

von Maya Morlock

In seinem Langfilmdebüt „Schrotten“ nimmt sich der Oscar-nominierte Max Zähle (Kurzfilm RAJU) einer ganz eigenen und traditionellen Kultur an: der des Schrottplatzes. Die Zukunft des Hofes steht auf dem Spiel, die Investoren kreisen wie Aasgeier über ihm – außerdem hat Mirko Talhammer einen ganz eigenen Plan; er muss dringend an Geld kommen. Schrotten ist ab dem 5. Mai in den Kinos!

Geflohen

Erster Absatz_Pressefoto_c_PortAuPrincePicturesMirko Talhammer (Lukas Gregorowicz)lebt in einer lieblos eingerichteten Wohnung in der Innenstadt und trägt einen langweiligen Anzug. Er ist davon überzeugt, dass er Karriere gemacht hat und vollkommen zufrieden mit seinem Leben ist. Der alleinstehende Mann ohne Kinder oder einem Haustier ist der Starverkäufer seiner Versicherungsagentur. Leider hat er sich verzockt und soll einen Berg Schulden begleichen, sonst droht ihm der berufliche Ruin. Zwei schmuddelige Männer betreten die Firma und wollen zu Mirko, der sie sofort aus dem Gebäude jagt. Sie stammen vom familiären Schrottplatz und haben schlechte Nachrichten dabei: Mirkos Vater, der Eigentümer des Hofes, ist gestorben. Taub für jegliche Informationen fängt sich Mirko kurzerhand eine Kopfnuss ein, die sich gewaschen hat und geht zu Boden. Gegen seinen Willen wacht er im Truck der Männer auf, der sich auf dem direkten Weg zum Schrottplatz befindet. Egal wie weit man sich von der Familie wegbewegt, sie holt einen immer wieder ein.

Ein heikler Plan

Zweiter Absatz_c_PortAuPrincePicturesFür die Talhammers, die in kleinen Häuschen oder Wohnwägen auf dem Hof leben, ist klar, dass Mirkos kleiner Bruder Letscho (Frederick Lau) den Schrottplatz weiterführen wird. Doch Schrott ist nicht mehr rentabel und das Recyclingunternehmen Wolfgang Kercher macht ein großzügiges Angebot, um den Platz zu erwerben. Das kommt für die Familie gar nicht in Frage, seit Generationen leben sie auf dem Hof. Mirko steckt in der Klemme: Einerseits möchte er einfach nur sein Maklerleben weiterführen und braucht dafür dringend Geld, das ihm sein Teil des Erbes verschaffen würde. Andererseits möchte er seine Familie nicht entwurzeln und findet sogar noch Gefallen an Luzi (Anna Bederke), einer Schweißerin auf dem Hof. Die Talhammers versichern Mirko, ihn auszahlen zu können, trotz der schlecht laufenden Geschäfte. Dieser kommt schlussendlich hinter den hirnrissigen Plan: Talhammers wollen 40 Tonnen Kupfer, einen gesamten Zugwagon, stehlen. Mirko, der als einziger studiert hat, kann nur den Kopf schütteln; die Planung ist vollkommen falsch, Parameter sind unzureichend berechnet und die Naivität der Bewohner sperrt Verbesserungsvorschläge. Der Plan ist zum Scheitern verurteilt und der Hof, samt Mirkos Erbe scheint verloren…

Ganz nett – mehr aber auch nicht

Dritter Absatz_c_PortAuPrincePictures„Schrotten“ ist ein leichtlebiger Film für zwischendurch. Nichts Großes und nichts Atemberaubendes – aber unterhaltsam. Der Kulturcrash innerhalb einer Familie ist gut inszeniert. Während Mirko dem heutigen Arbeiter und Karrieretyp entspricht, kommen die Talhammers etwas einfältig und minderintelligent daher. Es ist bei ihnen schon eine Leistung, einen Schulabschluss vorweisen zu können. Bei ihnen herrschen noch die Gesetze der Starken. Zwar entwickeln sich die Charaktere innerhalb des Filmes, doch den Stempel der „Hinterwäldler“ bekommen sie nicht los. Das riskante Spiel mit Vorurteilen glückt nicht, da Menschen aus Dörfern und Provinzen als „dumm“ dargestellt werden und nur mit der Hilfe Studierter Ziele, die außerhalb ihres Kenntnisgebietes liegen, bewältigen können. Wenn man diesen Aspekt nicht allzu ernst nimmt, macht das westernartige Schauspiel Spaß und ist ideal für einen Fernsehfilm.

Fotos: © Port Au Prince Pictures

Facebook gegen Überschriften-Hijacking

Von Roman van Genabith

Es ist einfach zu verlockend: Ein Klick auf die Überschrift einer Meldung erlaubt es Seitenbetreibern einer Meldung anderer Medien einen ganz eigenen Spin zu verleihen. Doch wird diese Funktion allzu häufig in nahezu propagandistischer Weise missbraucht. Facebook möchte nun dagegen vorgehen.

Seit Mitte vergangenen Jahres kann man verstärkt beobachten, wie Facebook-Seitenbetreiber, vorzugsweise bei gesellschaftlich kontroversen Thematiken wie der Flüchtlingskrise, Meldungen von Nachrichtenportalen unter veränderten Überschriften auf ihren Seiten teilten, die deren Inhalt stark verzerrt zusammenfassen oder gänzlich falsche Aussagen implizieren.

Beispiel hierfür ist die Überschrift „Regiobahn führt Frauenabteile ein, wegen Übergriffe durch Flüchtlinge“ der Gruppe „Deutschland DECKT AUF“, die sich eine Meldung des Handelsblattes zueigen machte, unnötig zu sagen, in welchem Teil des politischen Spektrums die Seitenbetreiber einzuordnen sind.

Alle nachfolgenden Versuche der Handelsblatt-Social Media-Redaktion den Sachverhalt richtig zu stellen, blieben wirkungslos, wurden von den Admins der Gruppe gebremst und blockiert, abgesehen davon, dass deren Teilnehmer das Konzept der sogenannten Filterblase vermutlich so formelhaft abbilden, wie eine These nur belegt werden kann. Viele Medienhäuser und News-Publisher haben mit dieser Problematik zu kämpfen. In vielen Fällen kamen manipulierte Überschriften aus dem rechten Spektrum, bei politischen Themen ist dieses Mittel besonders populär, um die eigenen Fans bei der Stange zu halten und weiter anzuheizen, aber natürlich ist auch das schlichte Streben nach mehr Reichweite ein Motiv.

Entschärfung geplant

Wie Facebook unter anderem Spiegel Online mitteilte, arbeite es unter Hochdruck an einer Entschärfung der Problematik: Nur noch die redaktionseigenen Facebook-Seiten sollen künftig Meldungsüberschriften editieren können. Seitdem die Zahl latent bzw. eindeutig volksverhetzender Beiträge auf der Plattform explodiert und das Netzwerk lange Zeit tatenlos blieb, steht das Unternehmen in Deutschland ohnehin unter Druck und der nun angekündigte Schritt ist gleich in mehrfacher Hinsicht notwendig:

Einerseits ist Facebook ein Sammelbecken, in dem Inhalte journalistischer Medien, Beiträge pseudo- bzw. „alternativer“ Medienportale und persönliche Meinungsäußerungen und Diskussionsbeiträge zusammenfließen. In dieser wild brodelnden Hexenküche ist es für viele Nutzer ziemlich schnell ziemlich egal, woher eine Meldung ursprünglich kam oder wer im weiteren Verlauf auf welche Weise darauf einwirkte. Sie ziehen die Bestätigung für ihre eigenen Ansichten aus Posts, deren verlinkte Quelle sie oft gar nicht lesen.

Andere stoßen unter Umständen auf eine skandalisierte Headline, die von Spiegel Online oder Stern zu stammen scheint und schreiben diesen Medien womöglich eine extreme Position zu, die sie nie vertreten haben. Das ist der Aspekt, der etablierten Medien direkt schadet, deren Arbeit seit Ausbruch der Lügenpresse-Angriffigkeiten ohnehin immer unerquicklicher geworden ist. Es ist also sinnvoll dafür zu sorgen, dass nur die tatsächlichen Urheber einer Meldung deren Ausspielung gestalten dürfen.

Gezielte Social-Media-Adressierung legitimes redaktionelles Mittel

Diese Praxis der Content-Piraterie ist allerdings deutlich von der gezielten Differenzierung der Social-Media-Outputs durch Autoren oder Community Manager einer Redaktion abzugrenzen.

Verschiedene soziale Medien weisen deutlich verschiedene Nutzergemeinden auf. Facebook-Nutzer sind eine sehr heterogene Gruppe, bei Twitter kann die Kenntnis relevanter Hashtags hilfreich sein. Ein regionales Nachrichtenangebot kann unter Umständen gut daran tun, einen Artikel über Facebook, Twitter und eventuell auch Google Plus mit jeweils eigenen Überschriften, Teaser-Texten / Bildern oder Veröffentlichungszeiten auszuspielen.

Foto: flickr.com/Sarah Marshall (CC BY 2.0)

 

* Erschien zuerst auf mobiFlip.de (18.04.2016)

Künstliche Intelligenz: Unsere Angst vor der „Robokratie“

Von Lara Luttenschlager

Dass eine künstliche Intelligenz eines Tages die Macht über uns übernehmen könnte, ist eine Angst, die wohl mindestens so alt ist wie die Filmgeschichte. Von jeher ein Medium, in welchem Menschen ihre Ängste verarbeiten, scheint es daher naheliegend, dass Filme voll sind von Horrorszenarien, in denen uns Maschinen und vor allem Roboter das Zepter entreißen und sich über uns erheben. Heute, da sich Meldungen über die Errungenschaften der Forschung überschlagen, wenn Computer malen wie Van Gogh, in Japan bereits Steuerberater ersetzen und Drohnen für uns in den Krieg ziehen, kämpfen die Menschen auf der Leinwand gegen Maschinen, die längst mehr wollen, als nur das Leben ihrer Schöpfer zu erleichtern.

Verkörperung unserer kühnsten Träume

12797962503_a52ff9e10d_oDas Konzept eines vom Menschen erschaffenen, künstlichen Wesens ist zugleich die Geschichte unseres Traums einer neuen, besseren Version unserer Selbst. In ihm verbergen sich Fantasien der Erhebung des Menschen zum Schöpfer, der Weltermächtigung und der Überwindung der Natur. Wie früh diese Ideen ihren Einzug in die Unterhaltungsmedien fanden, lässt sich nicht zuletzt an Mary Shelleys Roman Frankenstein und dessen Verfilmung von James Whale aus dem Jahr 1931 erkennen. 1818 erschienen, stammt der Roman aus einer Zeit, in der Erfindungen wie die elektrische Batterie einen Begeisterungsrausch für Wissenschaft und Fortschritt freilegten. Diese Aufbruchsstimmung schlug sich auch in der Hoffnung einer moralischen, vor allem aber auch biologischen Verbesserung des Menschen nieder. Frankenstein erzählt die Geschichte des von seinem Vorhaben besessenen, nahezu manischen Naturwissenschaftlers Viktor Frankenstein, dem es gelingt, aus heimlich ausgegrabenen Leichenteilen ein menschenähnliches Wesen zusammenzubasteln und zum Leben zu erwecken. Dass er fernab fremder Blicke nahezu unbemerkt ein Wesen erschafft, das ihm bald außer Kontrolle gerät und beginnt, Menschen zu ermorden, um sich an ihm für seine qualvolle Existenz zu rächen, zeigt, wie groß schon damals die Angst einiger war, überambitionierte Wissenschaft könnte klammheimlich etwas „Unnatürliches“ schaffen, das bald nicht mehr kontrollierbar ist.

Mensch oder Maschine?

Während Frankensteins stöhnender, hinkender künstlicher Mensch als klassisches, hässliches Monster auftritt, wandelte sich das Feindbild der künstlichen Intelligenz mit seinem historisch-gesellschaftlichen Kontext. So sind im Roman Die Frauen von Stepford (1972) die Androide, mit denen Ehemänner ihre Ehefrauen ersetzen, keineswegs halbfertige, körperlich unvollkommene Kreaturen, sondern hübschere und unterwürfigere Kopien ihrer Gattinnen. Erkennen lässt sich vor dem Hintergrund des technischen Fortschritts nicht mehr nur eine Absage an den Versuch der Wissenschaft, sich über die Natur bzw. zu einem neuen Gott zu erheben, sondern vielmehr die Frage nach einer Grenzziehung zwischen Mensch und Maschine, die auch ein Kernthema der Science-Fiction darstellt. Auf der Suche nach seiner eigenen Identität fürchtet der Mensch, bald durch perfektere Roboter ersetzt zu werden, die nicht nur immer intelligenter werden, sondern ihm auch äußerlich immer ähnlicher sind. Gerade im Science-Fiction-Film der 1980er und 1990er Jahre ist die technische Herstellbarkeit des Körpers ein Motiv, das sich auf die Suche nach dem Authentischen, Einzigartigen am Wesen des „natürlichen“ Menschen begibt.

Ich denke, also bin ich?

Bild 2Jüngst erschienene Filme wie Transcendence (2014) und Ex Machina (2015) treiben dieses Spiel noch ein Stück weiter. Während das Thema des fanatischen, sich zu einer Art Schöpfer erhebenden Wissenschaftlers ebenfalls wiederkehrt, sind dessen künstliche Menschen ihren „natürlichen“ Vorbildern nun nicht mehr nur äußerlich zum Verwechseln ähnlich: Sie haben gelernt, zu denken. Als Roboter Ava in Ex Machina von Informatiker Caleb auf ihre Empathie-Fähigkeit getestet werden soll, schafft sie es, ihn über ihre weiblichen Reize so zu manipulieren, dass er sie, überzeugt davon, dass sie „echte“ Gefühle empfinden kann, gegen den Willen des Wissenschaftlers in die Freiheit entlässt. Ihren Schöpfer bringt Ava aus Rache für ihre Misshandlung um, doch auch ihren Befreier lässt sie im Haus eingesperrt zurück, um ein neues Leben inmitten der Gesellschaft anzufangen.

Ähnlich stellt Transcendence sowohl die Protagonisten als auch den Zuschauer vor das Rätsel, ob künstliche Intelligenz tatsächlich so etwas wie eine Seele haben kann. Als Forscher Will Caster nach einem Attentat durch eine antitechnologische Terrorgruppe im Sterben liegt, lädt seine Frau Evelyn sein Bewusstsein auf einen Server. Doch schon bald weiß auch diese nicht mehr, ob Will nach seinem Tod tatsächlich in einem Computer weiterlebt oder sich darin nur eine machtgierige Superintelligenz befindet, die gelernt hat, die Menschen zu manipulieren. Denn „Will“ verlangt nun immer mehr Energie, einen Zugang zu allen Datenbanken der Welt und eine Internetverbindung, um immer weiter wachsen zu können und die Welt nach seinen Vorstellungen umzubauen. Auch Evelyn stirbt am Ende im Kampf gegen die von ihr geschaffene Maschine.

Die neue Angst, die in diesen Filmen verarbeitet wird, ist nicht mehr nur die, austauschbar und kopierbar zu sein, sondern dass eine künstliche Superintelligenz mit eigene Gefühlen und Zielen lernen könnte, uns zu manipulieren und sich unserer Kontrolle zu entziehen. Eine Befürchtung, die selbst Microsoft-Gründer Bill Gates letztes Jahr äußerte.

Technisch perfekt – moralisch defekt

Wenn unsere Maschinen immer schöner, schneller und schlauer werden, was macht uns dann noch so unentbehrlich? Am Ende scheint, zumindest im Film, die Antwort darauf gefunden zu sein: Unser Versuch, uns zu neuen Göttern und Schöpfern zu machen, ist zum Scheitern verurteilt. So sehr wir unsere immer nützlicheren und smarteren iPhones lieben, haben wir doch das Gefühl, mit einem Feuer zu spielen, das wir im Ernstfall noch nicht zu löschen wissen. Denn am Ende wird der selbstverherrlichende „mad scientist“ in diesen Szenarien stets durch seine eigene, außer Kontrolle geratene Schöpfung abgestraft. Mitleid kennt diese nicht. Die künstliche Intelligenz mag zwar technisch perfekt sein – sie bleibt jedoch Wissen ohne Gewissen.

Fotos: flickr.com/Dave Mathis (CC BY-NC-ND 2.0), flickr.com/clement127 (CC BY-NC-ND 2.0),  flickr.com/Tom Parnell (CC BY-NC-ND 2.0)


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