Kampf um den Schrottplatz

von Maya Morlock

In seinem Langfilmdebüt „Schrotten“ nimmt sich der Oscar-nominierte Max Zähle (Kurzfilm RAJU) einer ganz eigenen und traditionellen Kultur an: der des Schrottplatzes. Die Zukunft des Hofes steht auf dem Spiel, die Investoren kreisen wie Aasgeier über ihm – außerdem hat Mirko Talhammer einen ganz eigenen Plan; er muss dringend an Geld kommen. Schrotten ist ab dem 5. Mai in den Kinos!

Geflohen

Erster Absatz_Pressefoto_c_PortAuPrincePicturesMirko Talhammer (Lukas Gregorowicz)lebt in einer lieblos eingerichteten Wohnung in der Innenstadt und trägt einen langweiligen Anzug. Er ist davon überzeugt, dass er Karriere gemacht hat und vollkommen zufrieden mit seinem Leben ist. Der alleinstehende Mann ohne Kinder oder einem Haustier ist der Starverkäufer seiner Versicherungsagentur. Leider hat er sich verzockt und soll einen Berg Schulden begleichen, sonst droht ihm der berufliche Ruin. Zwei schmuddelige Männer betreten die Firma und wollen zu Mirko, der sie sofort aus dem Gebäude jagt. Sie stammen vom familiären Schrottplatz und haben schlechte Nachrichten dabei: Mirkos Vater, der Eigentümer des Hofes, ist gestorben. Taub für jegliche Informationen fängt sich Mirko kurzerhand eine Kopfnuss ein, die sich gewaschen hat und geht zu Boden. Gegen seinen Willen wacht er im Truck der Männer auf, der sich auf dem direkten Weg zum Schrottplatz befindet. Egal wie weit man sich von der Familie wegbewegt, sie holt einen immer wieder ein.

Ein heikler Plan

Zweiter Absatz_c_PortAuPrincePicturesFür die Talhammers, die in kleinen Häuschen oder Wohnwägen auf dem Hof leben, ist klar, dass Mirkos kleiner Bruder Letscho (Frederick Lau) den Schrottplatz weiterführen wird. Doch Schrott ist nicht mehr rentabel und das Recyclingunternehmen Wolfgang Kercher macht ein großzügiges Angebot, um den Platz zu erwerben. Das kommt für die Familie gar nicht in Frage, seit Generationen leben sie auf dem Hof. Mirko steckt in der Klemme: Einerseits möchte er einfach nur sein Maklerleben weiterführen und braucht dafür dringend Geld, das ihm sein Teil des Erbes verschaffen würde. Andererseits möchte er seine Familie nicht entwurzeln und findet sogar noch Gefallen an Luzi (Anna Bederke), einer Schweißerin auf dem Hof. Die Talhammers versichern Mirko, ihn auszahlen zu können, trotz der schlecht laufenden Geschäfte. Dieser kommt schlussendlich hinter den hirnrissigen Plan: Talhammers wollen 40 Tonnen Kupfer, einen gesamten Zugwagon, stehlen. Mirko, der als einziger studiert hat, kann nur den Kopf schütteln; die Planung ist vollkommen falsch, Parameter sind unzureichend berechnet und die Naivität der Bewohner sperrt Verbesserungsvorschläge. Der Plan ist zum Scheitern verurteilt und der Hof, samt Mirkos Erbe scheint verloren…

Ganz nett – mehr aber auch nicht

Dritter Absatz_c_PortAuPrincePictures„Schrotten“ ist ein leichtlebiger Film für zwischendurch. Nichts Großes und nichts Atemberaubendes – aber unterhaltsam. Der Kulturcrash innerhalb einer Familie ist gut inszeniert. Während Mirko dem heutigen Arbeiter und Karrieretyp entspricht, kommen die Talhammers etwas einfältig und minderintelligent daher. Es ist bei ihnen schon eine Leistung, einen Schulabschluss vorweisen zu können. Bei ihnen herrschen noch die Gesetze der Starken. Zwar entwickeln sich die Charaktere innerhalb des Filmes, doch den Stempel der „Hinterwäldler“ bekommen sie nicht los. Das riskante Spiel mit Vorurteilen glückt nicht, da Menschen aus Dörfern und Provinzen als „dumm“ dargestellt werden und nur mit der Hilfe Studierter Ziele, die außerhalb ihres Kenntnisgebietes liegen, bewältigen können. Wenn man diesen Aspekt nicht allzu ernst nimmt, macht das westernartige Schauspiel Spaß und ist ideal für einen Fernsehfilm.

Fotos: © Port Au Prince Pictures

Facebook gegen Überschriften-Hijacking

Von Roman van Genabith

Es ist einfach zu verlockend: Ein Klick auf die Überschrift einer Meldung erlaubt es Seitenbetreibern einer Meldung anderer Medien einen ganz eigenen Spin zu verleihen. Doch wird diese Funktion allzu häufig in nahezu propagandistischer Weise missbraucht. Facebook möchte nun dagegen vorgehen.

Seit Mitte vergangenen Jahres kann man verstärkt beobachten, wie Facebook-Seitenbetreiber, vorzugsweise bei gesellschaftlich kontroversen Thematiken wie der Flüchtlingskrise, Meldungen von Nachrichtenportalen unter veränderten Überschriften auf ihren Seiten teilten, die deren Inhalt stark verzerrt zusammenfassen oder gänzlich falsche Aussagen implizieren.

Beispiel hierfür ist die Überschrift „Regiobahn führt Frauenabteile ein, wegen Übergriffe durch Flüchtlinge“ der Gruppe „Deutschland DECKT AUF“, die sich eine Meldung des Handelsblattes zueigen machte, unnötig zu sagen, in welchem Teil des politischen Spektrums die Seitenbetreiber einzuordnen sind.

Alle nachfolgenden Versuche der Handelsblatt-Social Media-Redaktion den Sachverhalt richtig zu stellen, blieben wirkungslos, wurden von den Admins der Gruppe gebremst und blockiert, abgesehen davon, dass deren Teilnehmer das Konzept der sogenannten Filterblase vermutlich so formelhaft abbilden, wie eine These nur belegt werden kann. Viele Medienhäuser und News-Publisher haben mit dieser Problematik zu kämpfen. In vielen Fällen kamen manipulierte Überschriften aus dem rechten Spektrum, bei politischen Themen ist dieses Mittel besonders populär, um die eigenen Fans bei der Stange zu halten und weiter anzuheizen, aber natürlich ist auch das schlichte Streben nach mehr Reichweite ein Motiv.

Entschärfung geplant

Wie Facebook unter anderem Spiegel Online mitteilte, arbeite es unter Hochdruck an einer Entschärfung der Problematik: Nur noch die redaktionseigenen Facebook-Seiten sollen künftig Meldungsüberschriften editieren können. Seitdem die Zahl latent bzw. eindeutig volksverhetzender Beiträge auf der Plattform explodiert und das Netzwerk lange Zeit tatenlos blieb, steht das Unternehmen in Deutschland ohnehin unter Druck und der nun angekündigte Schritt ist gleich in mehrfacher Hinsicht notwendig:

Einerseits ist Facebook ein Sammelbecken, in dem Inhalte journalistischer Medien, Beiträge pseudo- bzw. „alternativer“ Medienportale und persönliche Meinungsäußerungen und Diskussionsbeiträge zusammenfließen. In dieser wild brodelnden Hexenküche ist es für viele Nutzer ziemlich schnell ziemlich egal, woher eine Meldung ursprünglich kam oder wer im weiteren Verlauf auf welche Weise darauf einwirkte. Sie ziehen die Bestätigung für ihre eigenen Ansichten aus Posts, deren verlinkte Quelle sie oft gar nicht lesen.

Andere stoßen unter Umständen auf eine skandalisierte Headline, die von Spiegel Online oder Stern zu stammen scheint und schreiben diesen Medien womöglich eine extreme Position zu, die sie nie vertreten haben. Das ist der Aspekt, der etablierten Medien direkt schadet, deren Arbeit seit Ausbruch der Lügenpresse-Angriffigkeiten ohnehin immer unerquicklicher geworden ist. Es ist also sinnvoll dafür zu sorgen, dass nur die tatsächlichen Urheber einer Meldung deren Ausspielung gestalten dürfen.

Gezielte Social-Media-Adressierung legitimes redaktionelles Mittel

Diese Praxis der Content-Piraterie ist allerdings deutlich von der gezielten Differenzierung der Social-Media-Outputs durch Autoren oder Community Manager einer Redaktion abzugrenzen.

Verschiedene soziale Medien weisen deutlich verschiedene Nutzergemeinden auf. Facebook-Nutzer sind eine sehr heterogene Gruppe, bei Twitter kann die Kenntnis relevanter Hashtags hilfreich sein. Ein regionales Nachrichtenangebot kann unter Umständen gut daran tun, einen Artikel über Facebook, Twitter und eventuell auch Google Plus mit jeweils eigenen Überschriften, Teaser-Texten / Bildern oder Veröffentlichungszeiten auszuspielen.

Foto: flickr.com/Sarah Marshall (CC BY 2.0)

 

* Erschien zuerst auf mobiFlip.de (18.04.2016)

Künstliche Intelligenz: Unsere Angst vor der „Robokratie“

Von Lara Luttenschlager

Dass eine künstliche Intelligenz eines Tages die Macht über uns übernehmen könnte, ist eine Angst, die wohl mindestens so alt ist wie die Filmgeschichte. Von jeher ein Medium, in welchem Menschen ihre Ängste verarbeiten, scheint es daher naheliegend, dass Filme voll sind von Horrorszenarien, in denen uns Maschinen und vor allem Roboter das Zepter entreißen und sich über uns erheben. Heute, da sich Meldungen über die Errungenschaften der Forschung überschlagen, wenn Computer malen wie Van Gogh, in Japan bereits Steuerberater ersetzen und Drohnen für uns in den Krieg ziehen, kämpfen die Menschen auf der Leinwand gegen Maschinen, die längst mehr wollen, als nur das Leben ihrer Schöpfer zu erleichtern.

Verkörperung unserer kühnsten Träume

12797962503_a52ff9e10d_oDas Konzept eines vom Menschen erschaffenen, künstlichen Wesens ist zugleich die Geschichte unseres Traums einer neuen, besseren Version unserer Selbst. In ihm verbergen sich Fantasien der Erhebung des Menschen zum Schöpfer, der Weltermächtigung und der Überwindung der Natur. Wie früh diese Ideen ihren Einzug in die Unterhaltungsmedien fanden, lässt sich nicht zuletzt an Mary Shelleys Roman Frankenstein und dessen Verfilmung von James Whale aus dem Jahr 1931 erkennen. 1818 erschienen, stammt der Roman aus einer Zeit, in der Erfindungen wie die elektrische Batterie einen Begeisterungsrausch für Wissenschaft und Fortschritt freilegten. Diese Aufbruchsstimmung schlug sich auch in der Hoffnung einer moralischen, vor allem aber auch biologischen Verbesserung des Menschen nieder. Frankenstein erzählt die Geschichte des von seinem Vorhaben besessenen, nahezu manischen Naturwissenschaftlers Viktor Frankenstein, dem es gelingt, aus heimlich ausgegrabenen Leichenteilen ein menschenähnliches Wesen zusammenzubasteln und zum Leben zu erwecken. Dass er fernab fremder Blicke nahezu unbemerkt ein Wesen erschafft, das ihm bald außer Kontrolle gerät und beginnt, Menschen zu ermorden, um sich an ihm für seine qualvolle Existenz zu rächen, zeigt, wie groß schon damals die Angst einiger war, überambitionierte Wissenschaft könnte klammheimlich etwas „Unnatürliches“ schaffen, das bald nicht mehr kontrollierbar ist.

Mensch oder Maschine?

Während Frankensteins stöhnender, hinkender künstlicher Mensch als klassisches, hässliches Monster auftritt, wandelte sich das Feindbild der künstlichen Intelligenz mit seinem historisch-gesellschaftlichen Kontext. So sind im Roman Die Frauen von Stepford (1972) die Androide, mit denen Ehemänner ihre Ehefrauen ersetzen, keineswegs halbfertige, körperlich unvollkommene Kreaturen, sondern hübschere und unterwürfigere Kopien ihrer Gattinnen. Erkennen lässt sich vor dem Hintergrund des technischen Fortschritts nicht mehr nur eine Absage an den Versuch der Wissenschaft, sich über die Natur bzw. zu einem neuen Gott zu erheben, sondern vielmehr die Frage nach einer Grenzziehung zwischen Mensch und Maschine, die auch ein Kernthema der Science-Fiction darstellt. Auf der Suche nach seiner eigenen Identität fürchtet der Mensch, bald durch perfektere Roboter ersetzt zu werden, die nicht nur immer intelligenter werden, sondern ihm auch äußerlich immer ähnlicher sind. Gerade im Science-Fiction-Film der 1980er und 1990er Jahre ist die technische Herstellbarkeit des Körpers ein Motiv, das sich auf die Suche nach dem Authentischen, Einzigartigen am Wesen des „natürlichen“ Menschen begibt.

Ich denke, also bin ich?

Bild 2Jüngst erschienene Filme wie Transcendence (2014) und Ex Machina (2015) treiben dieses Spiel noch ein Stück weiter. Während das Thema des fanatischen, sich zu einer Art Schöpfer erhebenden Wissenschaftlers ebenfalls wiederkehrt, sind dessen künstliche Menschen ihren „natürlichen“ Vorbildern nun nicht mehr nur äußerlich zum Verwechseln ähnlich: Sie haben gelernt, zu denken. Als Roboter Ava in Ex Machina von Informatiker Caleb auf ihre Empathie-Fähigkeit getestet werden soll, schafft sie es, ihn über ihre weiblichen Reize so zu manipulieren, dass er sie, überzeugt davon, dass sie „echte“ Gefühle empfinden kann, gegen den Willen des Wissenschaftlers in die Freiheit entlässt. Ihren Schöpfer bringt Ava aus Rache für ihre Misshandlung um, doch auch ihren Befreier lässt sie im Haus eingesperrt zurück, um ein neues Leben inmitten der Gesellschaft anzufangen.

Ähnlich stellt Transcendence sowohl die Protagonisten als auch den Zuschauer vor das Rätsel, ob künstliche Intelligenz tatsächlich so etwas wie eine Seele haben kann. Als Forscher Will Caster nach einem Attentat durch eine antitechnologische Terrorgruppe im Sterben liegt, lädt seine Frau Evelyn sein Bewusstsein auf einen Server. Doch schon bald weiß auch diese nicht mehr, ob Will nach seinem Tod tatsächlich in einem Computer weiterlebt oder sich darin nur eine machtgierige Superintelligenz befindet, die gelernt hat, die Menschen zu manipulieren. Denn „Will“ verlangt nun immer mehr Energie, einen Zugang zu allen Datenbanken der Welt und eine Internetverbindung, um immer weiter wachsen zu können und die Welt nach seinen Vorstellungen umzubauen. Auch Evelyn stirbt am Ende im Kampf gegen die von ihr geschaffene Maschine.

Die neue Angst, die in diesen Filmen verarbeitet wird, ist nicht mehr nur die, austauschbar und kopierbar zu sein, sondern dass eine künstliche Superintelligenz mit eigene Gefühlen und Zielen lernen könnte, uns zu manipulieren und sich unserer Kontrolle zu entziehen. Eine Befürchtung, die selbst Microsoft-Gründer Bill Gates letztes Jahr äußerte.

Technisch perfekt – moralisch defekt

Wenn unsere Maschinen immer schöner, schneller und schlauer werden, was macht uns dann noch so unentbehrlich? Am Ende scheint, zumindest im Film, die Antwort darauf gefunden zu sein: Unser Versuch, uns zu neuen Göttern und Schöpfern zu machen, ist zum Scheitern verurteilt. So sehr wir unsere immer nützlicheren und smarteren iPhones lieben, haben wir doch das Gefühl, mit einem Feuer zu spielen, das wir im Ernstfall noch nicht zu löschen wissen. Denn am Ende wird der selbstverherrlichende „mad scientist“ in diesen Szenarien stets durch seine eigene, außer Kontrolle geratene Schöpfung abgestraft. Mitleid kennt diese nicht. Die künstliche Intelligenz mag zwar technisch perfekt sein – sie bleibt jedoch Wissen ohne Gewissen.

Fotos: flickr.com/Dave Mathis (CC BY-NC-ND 2.0), flickr.com/clement127 (CC BY-NC-ND 2.0),  flickr.com/Tom Parnell (CC BY-NC-ND 2.0)


Weitere Artikel dieser Reihe:

Wenn Aladdin zum Feind wird

Feindbilder in den Medien

Skrupellos, gerissen, unentbehrlich: Filmfeinde

CINELATINO – Wo, wenn nicht im Schwabenland?

Von Valerie Heck

Foto: Alexander Gonschior

Bei der Eröffnung des CINELATINO 2016 am 13. April begrüßten nicht nur die Festivalleitung, bestehend aus Paulo de Carvalho, Kathrin Frenz und Pola Hahn, die zahlreichen Besucher, sondern auch der mexikanische Konsul Dr. Horacio Aarón Saavedra Archundia. Er erzählte, dass er vom Präsidenten Enrique Peña Nieto bei dessen Staatsbesuch in Hamburg den Auftrag bekommen habe, einen Ort zu finden, wo die mexikanisch-deutsche Beziehung gestärkt werden konnte. Wo, wenn nicht im Schwabenland war die Antwort von Dr. Saavedra Archundia und so besuchte er das nun schon zum 23. Mal als CineLatino und zum 13. Mal als CineEspañol stattfindende Festival in Tübingen.

Mexiko zu Gast in Tübingen

Alex Gonschior 2Und tatsächlich stellte sich das Festival, das neben Tübingen auch in Stuttgart, Freiburg und Rottenburg zahlreiche Besucher anlockte, als sehr guter Ort für die Entwicklung einer Freundschaft zwischen der deutschen und der mexikanischen Kultur heraus, denn in diesem Jahr bildete Mexiko den Länderschwerpunkt. Nachdem bereits das dritte Mal in Folge der mexikanische Regisseur Alejandro G. Iñarritu einen Oscar gewann, wurde es Zeit, dass in Deutschland auch andere mexikanische Filmtalente in den Fokus rückten. Einer von ihnen ist der Regisseur Fernando Eimbcke, der mit seinem Film „Club sándwich“ das Festival besuchte und die Sources of Inspiration Lecture im Rahmen des Sources 2 Script Development Workshops hielt. Auch Cutter Omar Guzmán Castro alias Julia Pastrana kam extra aus Mexiko zu Besuch, um den Film „Navajazo“ vorzustellen. Dieser handelt von Prostituierten, Drogendealern und einem Pornofilmregisseur, die an der Grenze zu den USA ums Überleben kämpfen. Das Besondere an dem Film: Er zeigt das echte Leben von Menschen in Tijuana zwischen Obdachlosigkeit, Drogenabhängigkeit und Sexualität – schonungslos und brutal. Ein weiterer mexikanischer Film füllte nicht zuletzt wegen der Anwesenheit der Regisseurin Tatiana Huezo den Tübinger Kinosaal am Dienstagabend, den 19.04. In „Tempestad“ wird in beeindruckenden Bildern das Schicksal der „Pagadores“, die unschuldig des Menschenhandels beschuldigt wurden, beleuchtet.

Von Spanien bis Ecuador

Das diesjährige Festival zeichnete sich neben einem herausragendem Rahmenprogramm mit Open Festival Space in der Tübinger Innenstadt, einer Hommage an Frida Kahlo im Club Voltaire und der Vernissage zur Ausstellung „Streetart Colombia“ im Blauen Salon vor allen Dingen durch seine zahlreichen Gäste aus. Neben den bereits erwähnten mexikanischen Filmemachern waren zehn weitere Regisseure, Cutter, Produzenten und Experten aus dem spanischsprachigen Raum von Madrid bis Ecuador zu Besuch und bereicherten das Festival mit interessanten Publikumsgesprächen und guter Stimmung

Foto: Alexander Gonschior

Aus Spanien war unter anderem Regisseur Zoe Berriatúa mit dem Film „Los heróes del mal“ zu Gast. Beim Publikumsgespräch im Anschluss an die Filmvorführung ließ es sich der Spanier nicht nehmen, die spanische Filmförderung, die mit Bestechungen Zensur betreibe, zu kritisieren. Laut Berriatúa werden dort nur Filme unterstützt, die positiv ausgehen – eine Vorgabe, die er mit seinen Filmen nicht einhalten mag. Doch mit Álex de la Iglesia als Produzenten am Bord konnte er, nachdem er zehn Jahre am Drehbuch saß und kein Geld bekam, den Film doch noch verwirklichen. Ergebnis ist ein Film, der zum Nachdenken über den Ursprung von Gewalt anregt. Vom Sohn des Oscarpreisträgers Fernando Trueba wurde der Film „Los exiliados románticos“ gezeigt. Fast ohne Drehbuch gedreht, zeigt er besonders authentisch und realitätsnah, wie sich drei Freunde mit einem Bulli von Madrid auf den Weg nach Paris machen und dabei die ein oder andere romantische Begegnung haben. Der Festivalgast Ángel Santos stellte sein Werk „Las altas presiones“ vor – ein Film über verpasste Chancen und die lähmende Angst, vermeintlich falsche Schritte zu tun.

Beendet wurde das Festival am Mittwochabend, 20.04., mit dem spanischen Film „El apóstata“ von Federico Veiroj. Hauptdarsteller und Drehbuchautor Álvaro Ogalla war anwesend, um von den Dreharbeiten des Films, der sich um den Atheisten Gonzalo dreht, der mit Mitte dreißig noch keine großen Erfolge in seinem Leben verbuchen kann und beschließt mit dem Austritt aus der katholischen Kirche etwas zu ändern, zu berichten. Ein angemessener Abschluss für eine solch erfolgreiche und aufschlussreiche Festivalwoche.

Fotos: Alexander Gonschior

Die Dystopie in den Medien: eine Schlussbetrachtung

Von Antje Günther

Auch wenn das Thema der Dystopie noch viele andere Facetten aufweist, so ist es nun an der Zeit Lebewohl zu sagen. Die wichtigsten Erkenntnisse dieser Reihe werden hier noch einmal zusammengefasst und bilden den Abschluss dieses Ausflugs in die Welt der Dystopie.

Über Unterschiede und Gemeinsamkeiten: Die Genregeschichte

Artikel 11 (1)Im Verlauf der verschiedenen Artikel dieser Reihe wurden die unterschiedlichsten Facetten der Dystopie beleuchtet. Angefangen mit der grundlegenden Frage nach der Definition des Genres wurde die Dystopie zunächst von den verwandten Genres der Utopie und Anti-Utopie abgegrenzt und ihre zentralen Merkmale vorgestellt. Dabei stand insbesondere der Kampf des Einzelnen gegen das Regime und die Verbindung von System- und Gegennarrativ im Mittelpunkt. Darüber hinaus wurde in den ersten Artikeln die Genregeschichte der Dystopie behandelt. Obwohl noch ein recht junges Genre, so hat die Dystopie doch einige Veränderungen durchgemacht: Von Orwells 1984 bis hin zu aktuellen Young Adult Dystopien wurde ihre Entwicklung nachgezeichnet und die jeweiligen Themen und Formveränderungen diskutiert. Standen beispielsweise in den 30er Jahren vor allem Sozialismus und Technophobie im Mittelpunkt der Werke, so dominieren heute das „coming-of-age“ Narrativ und der Romantik-Subplot das Genre. Im Anschluss an diese Betrachtung der Genregeschichte, die insbesondere die Unterschiede zwischen den Epochen betonte, zeigte Artikel sechs, wie stark sich die Ausführungen der Dystopie dennoch ähnelten. Es konnten sechs Machtwerkzeuge identifiziert werden, die sich in vielen Werken widerfanden, darunter beispielsweise die Kontrolle von Sprache und Erinnerung oder die Abschottung des Territoriums nach außen.

Gesellschaftskritik und die Dystopie im Film

Der siebte Artikel dieser Reihe widmete sich dagegen dem kontroversen Thema, ob die Young Adult Dystopie überhaupt noch dem gesellschaftskritischen Anspruch des Genres entspricht. An ausgewählten Szenen des Filmes Divergent wurde aufgezeigt, dass auch die Young Adult Dystopie noch kritische Elemente enthält, auch wenn anderen Aspekten in der öffentlichen Diskussion um die Young Adult Dystopie mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird. Dieser Artikel bildete auch die Überleitung in die Welt des Films, wo die Dystopie ebenfalls prominent vertreten ist. Einige Höhepunkte des dystopischen Films wurden in den Artikeln acht und neun vorgestellt, darunter Science-Fiction Klassiker wie Metropolis und Blade Runner, aber auch neuere Werke wie Alfonso Cuaróns Children of Men (2006).

Der Boom der Dystopie

Artikel 11 (2)Nach diesem Ausflug in die Filmwelt kehrte der zehnte und letzte Artikel der Reihe zum literarischen Genre der Dystopie zurück und stellte die Frage, warum gerade heute die Dystopie unsere Bücherregale und Kinosäle wieder so sehr füllt. In Verbindung mit der Theorie der „Culture of Fear“ und dem crossover Phänomen in der Literatur wurde versucht, eine Antwort auf diese Frage zu geben und auch zu zeigen, warum es gerade die Young Adult Dystopie ist, die heute so boomt. Aufgrund ihres so wandelbaren Erscheinungsbildes kann sich die Dystopie immer wieder den aktuellen gesellschaftlichen Gegebenheiten anpassen und so ist zu vermuten, dass sie nicht nur heute, sondern auch in Zukunft ein wichtiges und interessantes Genre in Literatur und Film darstellen wird. Ihre Wandelbarkeit macht sie auch zu einem spannenden Untersuchungsobjekt in den Wissenschaften; insbesondere die Utopian/Dystopian Studies in der englischsprachigen Literatur- aber auch Kulturwissenschaft widmen sich ihr im Detail. Diese Reihe vermochte nur einen kurzen Einblick in dieses Feld zu geben und einzelne Ansätze aufzuzeigen, hat es aber hoffentlich dennoch geschafft, das Interesse an der (wissenschaftlichen) Untersuchung von Genreliteratur und insbesondere der Dystopie ein wenig zu wecken. Sie bietet ein abwechslungsreiches Forschungsfeld, welches sich weiter zu entdecken lohnt.

Fotos: flickr.com/Craig Duffy (CC BY-NC 2.0), flickr.com/Patrick Hoesly (CC BY 2.0), flickr.com/Roey Ahram (CC BY-NC-ND 2.0)


Alle Artikel dieser Reihe:

Wie man mit sechs Werkzeugen eine dystopische Gesellschaft erschafft

Pubertätsnöte und Regimekämpfe – Die Teenager erobern die Dystopie

Der Silberstreif am Horizont: Die kritische Dystopie

Das große Lied vom Scheitern

Von Unterdrückung und Gedankenkontrolle – Das Genre Dystopie

Big Brother is still watching you – Dystopie in den Medien

Die Young Adult Dystopie – nur noch Kitsch?

Die Dystopie auf der Leinwand (1)

Die Dystopie auf der Leinwand (2)

Der Reiz der Dystopie

Der Reiz der Dystopie

Warum sie gerade jetzt wieder einen Boom erlebt

Von Antje Günther

Einige Zeit war es still um sie geworden, doch in den letzten Jahren boomt die Dystopie wie nie zuvor. Was ist es, was dieses Genre gerade heute so erfolgreich macht?

Culture of fear und die Dystopie

Artikel 10 (2)Ein möglicher Grund ist die aktuelle gesellschaftliche Situation. So ungreifbar und zahlreich wie heute war die Bedrohung noch nie. Sah man früher der Gefahr mehr oder weniger direkt ins Auge, so versteckt sie sich heute im Untergrund – oder im Internet. Auf den ersten Blick erscheint dies eine logische Erklärung, verfehlt aber im Kern das Problem. Denn das Leben heute ist nicht risikoreicher als vor einigen Jahren. Im Gegenteil: Wir leben länger als früher, sind gesünder und viele Sachen, die früher große Probleme darstellten, sind heute mit einfachsten Mitteln zu lösen. Was sich geändert hat, ist die Perspektive, die Betrachtung und Einschätzung von Risiken. Wir leben in einer Zeit die Furedi 1998 und Glassner 1999 als „Culture of Fear“ bezeichnet haben, eine Kultur der Angst, in der die banalsten Tätigkeiten plötzlich zum Risiko erklärt werden. War Busfahren lange Zeit eine Sache, der man ohne Bedenken nachging, so kursieren heute die Warnungen vor Taschendieben und Gewalttätern, die einen ausrauben könnten. Dasselbe gilt für Lebensmittel, die wahlweise voll von Antibiotika, Bakterien oder Schadstoffen sind.

Diese Atmosphäre permanenter Bedrohung nutzt die Wirtschaft aus und so boomt nicht nur die Sicherheitsindustrie mit ihren Alarmanalagen und Überwachungskameras. Auch die Dystopie und andere kulturelle Angebote profitieren davon, in dem sie genau an dieser Angst ansetzen. Sie führen dieses Denken, die Verehrung von Sicherheit, konsequent zu Ende, zum Beispiel in Form totalitärer Überwachung. Die Dystopie ist im Moment vor allem deswegen so erfolgreich, weil sie so wahrscheinlich erscheint, die Motive der totalitären Herrscher so nachvollziehbar sind und weil sie so nah am Zeitgeist ist, wie vielleicht noch nie.

Der Boom der Young Adult Dystopie

Aber es ist nicht nur die Dystopie im Allgemeinen, die boomt, sondern im Besonderen die Young Adult Dystopie. Nach den Vampiren und übernatürlichen Kreaturen sind es nun Dystopien, die den Markt für junge Leser überschwemmen. Doch es sind längst nicht nur Jugendliche, welche sich für die Geschichten um Katniss und Co. begeistern. Auch immer mehr Erwachsene greifen zu Büchern, die ursprünglich an ein jüngeres Publikum gerichtet waren. Dieses Phänomen, genannt Crossover Literatur, findet sich nicht nur im Bereich der Dystopie sondern auch in vielen anderen Young Adult Genres, angefangen mit der Harry Potter Reihe oder aber auch Klassikern wie Alice im Wunderland oder Lord of the flies, die ebenfalls für Kinder bzw. Teenager gedacht waren.

Artikel 10 (1)Der Trend, als Erwachsener Jugendliteratur zu lesen, liegt dabei vermutlich in den Merkmalen des Genres und den gesellschaftlichen Zuständen begründet. Die Young Adult Literatur beschäftigt sich in ihrem Kern mit dem Erwachsenwerden, der Pubertät; einer Phase voller Umbrüche und Veränderungen. Es ist eine Zeit, in der die eigene Identität geformt wird; eine Zeit, in der Fragen wie „wer bin ich?“ und „was will ich eigentlich?“ eine zentrale Rolle spielen. Die jugendlichen Protagonisten müssen ihren Platz in der Welt erst noch finden und erkennen, was für sie wichtig ist.

Gerade diese Identitätssuche ist aber in der Postmoderne kein Phänomen mehr, das ausschließlich auf die Jugend beschränkt ist. Durch den Wegfall von festen Identitätsgrößen wie der Kirche und der Standesgesellschaft, liegt es nun am Individuum selbst, seine Identität zu bestimmen. Das postmoderne Subjekt, wie Stuart Hall es formuliert, ist fragmentiert und setzt sich aus mehreren, sich manchmal auch widersprechenden Identitäten zusammen. Identität ist nun etwas, das kontinuierlich gebildet und verändert wird, sodass sich die Erlebnisse des postmodernen Subjekts in seiner Identitätssuche an die eines Jugendlichen annähern. Die Verwirrung über die eigene Identität ist somit nicht nur etwas, das die jungen Leser nachvollziehen können; es ist zu einer Art Modus des gesamten Lebens geworden.

In dieser Kombination von gesellschaftlichen Zuständen, in denen Sicherheitswahn und Identitätssuche unser Leben bestimmen, scheint es wenig verwunderlich, dass gerade die Young Adult Dystopie unsere Bücherregale füllt. Sie verbindet das zentrale kulturelle Thema von Risiko und Sicherheit mit einer Narration über das Erwachsenwerden; über eine Phase, die in unserer heutigen Gesellschaft nie ganz abgeschlossen zu sein scheint.

Fotos: flickr.com/Magdalena Hörmann-Prem (CC BY 2.0), flickr.com/elycefeliz (CC BY-NC-ND 2.0), flickr.com/Dominic Sayers (CC BY 2.0)


Weiter Artikel dieser Reihe:

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Pubertätsnöte und Regimekämpfe – Die Teenager erobern die Dystopie

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Die Young Adult Dystopie – nur noch Kitsch?

Die Dystopie auf der Leinwand (1)

Die Dystopie auf der Leinwand (2)

Wie startet nun die neue Woche?

von Caroline Wahl

Wie soll nun die neue Woche starten? Für Georg Simmel ist die „psychologische Grundlage, auf der der Typus großstädtischer Individualitäten sich erhebt, […] die Steigerung des Nervenlebens, die aus dem raschen und ununterbrochenen Wechsel äußerer und innerer Eindrücke hervorgeht“ (S. 116). So ist der Mensch in der Großstadt einer ständigen Reizüberflutung ausgesetzt, die ihn zunächst überfordert. Er fühlt sich fremd und die Stadt erscheint ihm wie ein Labyrinth. Und das ist der entscheidende Unterschied zwischen der aufkommenden Großstadt Anfang des 20. Jahrhunderts und unserer Medienwelt. Marie fühlt sich weder fremd noch überfordert, wenn sie sich von einer Datingapp über eine Lernplattform zu Twitter treiben lässt. Vielmehr ist alles irgendwie vertraut und natürlich. Statt wie ein Labyrinth erscheint die Medienvernetzung wie ein Wegweiser, der Marie zu jeder Zeit mit unzähligen Möglichkeiten unterschiedliche Richtungen aufzeigt. Und Marie ist kein Einzelfall. Viele erkennen sich vermutlich ein bisschen in Marie wieder, manche mehr manche weniger. Auch mein Tag beginnt und endet mit meinem iPhone. Und das macht mir Angst. Früher war alles noch aufregend. Das erste Mal etwas von meinem Vater bei eBay bestellen lassen oder über icq mit Mitschülern chatten. Aber heutzutage ist es selbstverständlich zu jedem Zeitpunkt, an jedem Ort Medien zu nutzen. Wenn man einen Rucksack in der Stadt kaufen geht, muss man das erst einmal rechtfertigen. Im Internet bekommt man es ja schließlich viel einfacher, schneller und billiger.

Wir haben keine Distanz mehr zu den Medien und uns ist nicht einmal vollkommen bewusst, wie sie ein Teil von uns geworden sind. Und das ist nicht richtig. Es ist nicht natürlich, sein Smartphone zu zücken, wenn man etwas Schönes erlebt um es auf Instagram, Facebook oder Snapchat hochzuladen. Es ist nicht natürlich sich mit seinen Freunde mit GefälltMir-Däumchen zu streiten. Medien sind toll. Und ich möchte sie auch nicht missen. Sie machen wirklich vieles unendlich leicht und sind sehr unterhaltsam. Aber wo sind die Grenzen? Wie viel Besitz dürfen sie von uns nehmen? Wie abhängig sind wir wirklich von ihnen? Der Mensch hat sich vor 113 Jahren in der Großstadt fremd gefühlt. Fremdheit ist sicherlich kein erstrebenswertes Gefühl, aber es ist manchmal gewinnbringend. Es ermöglicht uns die Umwelt aus einer gewissen Distanz zu betrachten. Vielleicht wäre es gut, einfach mal ein Schritt zurück zu gehen von dem Mediennetz und versuchen Distanz zu gewinnen. Vielleicht wäre es gut, einen Schritt zurück zu gehen und sich sein Medienverhalten fremd anstatt zu eigen zu machen, es zu hinterfragen. Will ich jetzt wirklich ein Foto von meinem Frühstücksbrei knipsen um es hinterher mit der Beschreibung „#porridge#geil#healthy“ auf Instagram hochzuladen? Vielleicht wäre es gut, einfach mal einen Schritt zurückzugehen und das Spinnen in seine Grenzen zu weisen.

Foto: flickr.com/mathias hielscher (CC BY-NC-ND 2.0)

Tag 7: #Tatort

von Caroline Wahl

Sonntag. Dreizehn Uhr vierzehn. Meine Mama weckt mich zum Mittagessen. Ich habe Kopfschmerzen. Eigentlich müsste ich mich jetzt um einen Zug, einen Fernbus oder eine Mitfahrgelegenheit kümmern. Heute Abend bin in ich in Tübingen zum „Tatort“-Public Viewing schauen verabredet. Aber ich will einfach nur hier mit meiner Familie und meinem Kater am Esstisch sitzen. Am liebsten für immer. Mein Kopf tut weh und wir haben leider kein „Schleckerey deutscher Gymnasiasten und Burschen“ zum Verjagen des Katers hier.

Sonntag. Fünfzehn Uhr elf. Apathisch sitze ich noch immer am Esstisch. Meine Schwester sitzt neben mir und spielt Candy Crush. Ich finde zurzeit keine Energie, unter diversen Verbindungen mit unterschiedlichen Verkehrsmitteln die preiswerteste und noch dazu die schnellste zu finden. Davon würde ich nur noch mehr Kopfschmerzen bekommen. Außerdem bin ich ein Gegner von Sofort-Überweisungen. Ich denke, dass ich nachher einfach zum Bahnhof fahre und mich überraschen lasse, welcher Zug mich mitnimmt. Dann zahle ich eben einundfünfzig Euro.

Sonntag. Siebzehn Uhr vier. Ich sitze in einer Regionalbahn und bin zum zweiten Mal umgestiegen. Ich war dann doch nicht bereit, einundfünfzig Euro für einen ICE zu zahlen. Dafür höre ich jetzt in den Durchsagen jede gefühlte Minute einen neuen lustigen Ortsnamen, den ich noch nie im Leben gehört habe. Bretten. Illingen. Sachsenheim.

Sonntag. Neunzehn Uhr fünfundzwanzig. Ich bin endlich da. Jetzt noch schnell für Tatortschauen fertig machen. Wann treffen wir uns überhaupt? Wo habe ich denn mein Handy hingesteckt? Verdammt. Ich habe es zuhause vergessen.

Sonntag. Zwanzig Uhr. Todesmutig bin jetzt einfach zu der Bar gefahren, in der wir meistens Tatort schauen, und hoffe, dass sich meine Freunde nicht kurzfristig in irgendeiner neu gegründeten WhatsApp-Gruppe nach langer Diskussion für einen anderen Ort entschieden haben. Marie, da bist du ja. Wieso schreibst du nicht in die „Tatort“-Gruppe? Wir dachten schon, dir ist was passiert! Wieso gehst du nicht an dein Handy? Wir haben dich mindestens zwanzigmal angerufen! Ich habe mein Handy zuhause vergessen. Und wieso postest du das nicht auf Facebook? Dann würden wenigstens alle wissen, dass du nur noch über Facebook erreichbar bist! Vergessen. Mache ich morgen.

Sonntag. Zwanzig Uhr fünfzehn. Schade Marie, jetzt kannst du gar nicht mit „Tatort-Twittern“. Ich komme zurecht. Dabei bist du immer die, die von Anfang an weiß, wer es war. Wen soll ich jetzt retweeten?

Sonntag. Zwanzig Uhr zwanzig. Fleißig tippen meine Detektiv-Freunde unter dem Hashtag Tatort ihre neusten Vermutungen ein, welche Indizien für welchen Mörder sprechen, was sie unlogisch finden und welchen Darsteller sie am besten finden. Ganz lustig, das als Außenseiter zu beobachten. Ich weiß wer der Mörder ist.

Sonntag. Zweiundzwanzig Uhr neunundfünfzig. Ich liege im Bett und weiß nicht was ich machen soll. Normalerweise verbringe ich die letzten Stunden vor dem Einschlafen immer mit meinem Handy. Facebook. Instagram. Snapchat. Youtube. Whatsapp. Jetzt liegt mein Handy zuhause und ich hier. Ich könnte meinen Laptop holen aber der ist noch im Rucksack. Stattdessen nehme ich mir einen Roman, den ich schon lange lesen wollte. Ich bin es gewohnt, dass mein Tag mit meinem Smartphone beginnt und endet. Vielleicht wollte ich es ja einfach mal liegen lassen. Vielleicht wollte ich einfach mal einen Roman lesen. Und vielleicht gehe ich die Woche mal im Wald spazieren.

Sonntag dreiundzwanzig Uhr. Es war die richtige Entscheidung das Handy liegen zu lassen. Ja, es war eine Entscheidung. Ich habe ganz vergessen, wie gerne ich immer schon gelesen habe.

Foto: flickr.com/Insomnia Cured Here (CC BY-SA 2.0)

Tag 6: Wieso antwortest du nicht? Ist dir was passiert?

Von Caroline Wahl

Samstag. Neun Uhr zwanzig. Einhundertdreiundreißig neue Nachrichten auf Whatsapp? Ich erschrecke, als ich mein iPhone in das Ladekabel stecke. Ist etwas passiert? Verdammt, warum habe ich es nicht rechtzeitig aufgeladen. Heutzutage kann man nicht einfach so nicht erreichbar sein. Das geht nicht.

Samstag. Neun Uhr zwanzig. Erleichtert stelle ich fest, dass lediglich eine neue Whatsapp-Gruppe mit dem Namen „PartyParty“ gegründet wurde, in welcher ich neben vierzehn anderen, überaus Diskutierfreudigen Mitglied bin. Ich habe keine Lust, mich an der Abendplanung zu beteiligen. Bei solchen Diskussionen kann ich mich eh nie durchsetzen. Und ich habe auch keine Lust, die einhundertdreißig Nachrichten zu lesen. Einhundertvierunddreißig. Und so ertönt im Sekundentakt mein WhatsApp-Klingelton bis ich es auf lautlos stelle und mich noch einmal ins Bett lege.

Samstag. Elf Uhr drei. Langsam und noch immer müde erklimme ich die Treppe zum Erdgeschoss. Ich werde schneller als mir der Geruch nach Apfelkuchen und Zimt in die Nase steigt. Mama, du bist die Beste. Ob ich mit ihr einen Waldspaziergang machen will? Ich? Warum eigentlich nicht.

Samstag. Zwölf Uhr drei. Es ist wunderschön im Wald. Sanfter Nebel. Sonnenstrahlen erkämpfen sich den Weg durch die Bäume. Vogelgezwitscher. Das Rauschen des Baches und der Geruch. So gut. Eigentlich müsste ich jetzt ein Snapchat-Bild an alle meine Freunde schicken. Oder am besten ein Video. Wenn man etwas Schönes erlebt, muss man es schließlich mit den Freunden teilen. Ich denke darüber nach und bin glücklich, dass ich mein Smartphone neben meinem Bett liegen gelassen habe. Wahrscheinlich hätte ich mich sonst nicht zurückhalten können und tatsächlich ein Video an Kati und Lena geschickt. Manchmal kann ich einfach nicht anders. Peinlich. Was ist das überhaupt für ein kranker Instinkt? Teilen, Teilen, Teilen. Warum muss man heutzutage alles Schöne, das einem zustößt, mit seinen Freunden teilen? Will man, dass sie neidisch sind oder einen bewundern? Schau mal, was ich gleich Leckeres verzehren werde, neidisch? Schau mal, wie viel Spaß ich auf der Party habe, neidisch? Schau mal, wo ich Urlaub mache, neidisch??? Kann man sich nicht einfach nur an den Dingen erfreuen, den Wald mit allen Sinnen wahrnehmen, anstatt einen Ausschnitt zu fotografieren und nachdem man einen hippen Filter benutzt hat an seine Freunde zu schicken oder auf einer Plattform hochzuladen um dann gespannt auf die Reaktionen zu warten. Oh das Porridge-Bild, das ich gerade eben erst auf Instagram hochgeladen habe, gefällt Mirco. Damit möchte er mir bestimmt was sagen. Aber was nur? Vermutlich will er mich zum Essen einladen. Bestimmt.

Samstag. Siebzehn Uhr. Zweihundertdreiundzwanzig neue Nachrichten und acht Anrufe in Abwesenheit. Was ist denn jetzt schon wieder? Ich rufe Sonja, eine der „PartyParty“-Mitglieder zurück. Marie! Ist alles gut? Ist dir was passiert? Warum schreibst du nichts in die Gruppe? Kommst du nicht mit? Ich habe dich mindestens zwanzig Mal angerufen! Die wollen alle zu so einer Hausparty, ich würde viel lieber in die Stadt gehen, aber Felix zieht alle auf seine Seite. Aha. Du kommst doch mit oder? Ja, denke schon.

Samstag. Einundzwanzig Uhr sieben. Inzwischen bin ich bei Sonja und lasse mir von ihr einen Lidstrich ziehen. Ich bin immer noch müde und habe irgendwie keine Lust wegzugehen. Aber da ist eben dieser soziale Druck, dem ich mich beugen muss. Also trinke ich mir so schnell es geht die gute Partylaune an. Bevor wir losziehen schießen wir noch ein paar Selfies. Eins davon schicke ich Kati. Schau mal wie viel Spaß und was für einen perfekten Lidstrich ich habe? Ohne dich und dein Zutun. Ha.

Samstag. Dreiundzwanzig Uhr vier. Wir sitzen zu acht in einer Cocktail-Bar in der Stadt. Die restlichen Mitglieder der WhatsApp-Gruppe, einschließlich Fabian, sind bei der Hausparty. Sonja hat sich mit ihnen zerstritten. Selbstverständlich via WhatsApp. Wild und energisch tippt sie auf ihr Smartphone ein.

Samstag. Dreiundzwanzig Uhr zweiundzwanzig. Meine angetrunkene gute Laune sinkt. Gierig schlürfe ich an meinem Mojito. Lange hält der Display von Sonjas Handy die spitzen Nägeln, die ohne Pause auf ihn einhacken, nicht mehr aus. Da bin ich mir sicher. Vermutlich ist das letzte Wort in der „PartyParty!“-Gruppe noch nicht gesprochen. Simon und Finn spielen Tischkicker gegen zwei Mädchen, deren Namen ich vergessen habe. Ein drittes Mädchen filmt das Spiel. Dementsprechend lachen die Namenlosen viel zu laut und versuchen so zu tun als ob total im Match vertieft wären. In Echt konzentrieren sie sich nur darauf, dass sie ihren Arsch rausstrecken und die Haare sitzen. Sie erinnern mich an Hühner. Meine Oma hat Hühner. Auf einmal legt sich eine Hand auf meine rechte Schulter. Es ist Jenny. Sie fragt noch nicht einmal ob ich mich zu einem Bild bereit fühle. Das Handy in der linken Hand mit dem Arm in die Höhe gestreckt, tippt sie ungefähr fünfzehnmal auf den Auslöser. Hey Marie, jetzt lach doch mal. Automatisch ziehen sich meine Mundwinkel nach oben.

Samstag. Dreiundzwanzig Uhr Dreißig. Der Abend ist doof. Ich bin müde und will ins Bett. Und ich will Apfelkuchen. Gegenüber von mir gesellt sich ein unglaublich gut aussehender junger Mann zu uns an den Tisch. Ok ein letzter Versuch, den Abend zu retten. Ich versuche Blickkontakt aufzunehmen. Er bemerkt mein Interesse und lächelt zurück. Bekomme ich doch noch mein Match. Ha. Doch bevor er etwas sagt oder ich etwas sagen kann, widmet sich seine Aufmerksamkeit voll und ganz von mir ab und seinem Getränk zu. Er schiebt den Pina Colada kritisch auf dem Tisch rum und drapiert die Melonenscheibe am Glasrand neu. Dann zückt er sein Handy. Geteilt. Ich gehe.

Samstag. Dreiundzwanzig Uhr fünfundfünfzig. Gute Nacht.

Fotos: flickr.com/Bayerische Staatsforsten (CC BY-NC-ND 2.0)

Tag 5: Welche Probeklausur?

von Caroline Wahl

Freitag. Null Uhr vier. Ich schaffe es nicht. Meine Augen zucken. Die Texte sind zu lang. Als dann zu allem Überfluss auch noch die Buchstaben vor meinen Augen anfangen zu tanzen, widme ich mich kurz dem geliebten, von Möglichkeiten überfluteten Internet. Ich muss eh noch schauen, in welchem Raum wir morgen, ich meine heute, schreiben, bzw. tippen und klicken. Ich besuche das Campus-Portal. Prüfungsverwaltung. Klick. Info über angemeldete Prüfungen. Klick. Medienwissenschaft (PO-Version 2010). Haha Po! Ich bin eindeutig übermüdet. Klick. Herzstillstand.

Freitag. Null Uhr fünf. Ach du Scheiße. Wieso steht da keine angemeldete Prüfung. Ich habe mich doch angemeldet. Ich bin mir hundertprozentig sicher. Ich habe mich angemeldet. Habe ich mich angemeldet? Die Dozentin hat uns immer wieder daran erinnert, dass wir uns auch ja rechtzeitig anmelden, damit sie genügend Laptops zur Verfügung stellen wird. Habe ich mich angemeldet?

Freitag. Null Uhr zwanzig. Mir ist es wieder eingefallen, nachdem ich die letzte Woche Revue passieren habe lassen. In meinem Kalender habe ich auf der Seite des letzten Mittwochs eine verteufelte ToDo-Liste wiedergefunden auf der zwischen „Pfandflaschen wegbringen“ und „Wäsche waschen“ dick und fett, sogar mit rotem Buntstift und mit vier Ausrufezeichen „Prüfungsanmeldung bis morgen!!!!“ steht. Was dann passiert ist, ist nicht schwer zu erraten: ToDo-Listen. Was mache ich jetzt? Ich schaffe es nicht mehr! Scheiße. Das Prüfungsamt hat mitternachts meinen Berechnungen zufolge geschlossen und die Klausur findet morgen schon um zehn Uhr statt. ST!

Freitag. Null Uhr zwölf. Nein! Das Prüfungsamt hat morgen geschlossen.

Freitag. Ein Uhr dreiunddreißig. Nachdem ich meine Mama aus dem Schlaf telefoniert habe und mehrere Dozenten und andere für die unterschiedlichsten Ämter Zuständige mit Emails tyrannisiert habe, entscheide ich mich für mein Bett und gegen die ungelesenen Texte. Wahrscheinlich kann ich die Klausur sowieso nicht schreiben.

Freitag. Ein Uhr vierzig. Ich habe zu viel Kaffee getrunken.

Freitag. Sieben Uhr. Ich bin todmüde. Aber ich muss aufstehen: Klausur. Nicht angemeldet. Texte.

Freitag. Sieben Uhr vierzig. Nachdem ich meine Dozentin in ihrem Büro aufgefunden habe, ihr meine verzweifelte Lage niedergelegt habe und es dabei peinlicherweise nicht geschafft habe, die Tränen zu unterdrücken, beruhigt sie mich. Ich bin nicht die Einzige, die die Anmeldung versäumt hat. Selbstverständlich darf ich mitschreiben, bzw. mittippen und mitklicken. Ein schwerer Stein fällt mir vom Herzen. Dafür wird mir aber die Last der vier ungelesenen Texte in meinem Rucksack umso bewusster.

Freitag. Neun Uhr drei. Ich sitze auf dem Boden vor dem Vorlesungsaal, in welchem gerade schon Laptops für die Klausur verteilt werden. Ich bin gleich mit dem zweiten Text durch, wobei ich mich aufgrund des Zeitdrucks nicht konzentrieren kann und eigentlich einfach nur den Text mit Textmarker anmale. Eine meines Erachtens in Anbetracht der Lage viel zu entspannte Kati gesellt sich zu mir. Und gut vorbereitet? Wie fandest du die Probeklausur? PROBEKLAUSUR? Welche Probeklausur? Nein! Nein! Nein! Hast du die nicht gesehen? Die wurde letzten Donnerstag auf ilias hochgeladen. Als ob ich jeden Tag auf ilias schaue, ob etwas neues Wichtiges hochgeladen wurde. Auf ilias wird jedes poplige Handout, jede noch so schlechtPowerpoint-Präsentation, jeder noch so unwichtige Text, „weiterführende Lektüre“ (haha), hochgeladen! Auf ilias wird alles hochgeladen! Als ob ich das alles verfolge! Ich habe schließlich wichtigeres zu tun! Ok, ich sollte hier nicht so rumschreien. Ruhe bewahren. Plan B: Ich werde doch Youtuberin. Ich muss Youtuberin werden. Dann verkaufe ich meine auf den ersten Blick für Zuschauer unbefriedigenden Schminktutorials und Food-Diaries eben als Comedy-Videos. Guter Plan.

Freitag. Zwölf Uhr. Anscheinend war die Probeklausur fast identisch mit der hochgeladenen Klausur. Laut Kati. Egal. Ich denke, dass ich bestanden habe. Auf jeden Fall muss ich diesmal nicht ein Semester warten bis die Klausur korrigiert wird.

Freitag. Vierzehn Uhr zwanzig. Nach über einer Stunde fährt der Bus ein. Inzwischen habe ich selbstverständlich auch schon eine Verspätungs-SMS bekommen. Er hatte eine Panne in Karlsruhe. Ich sage meinen Namen und der Fahrer lässt mich durch. Ich habe schließlich per Sofort-Überweisung bezahlt.

Freitag. Zwanzig Uhr sechs. Meine Mama hat Lasagne gemacht. Ich bin glücklich. Abends trinken wir einige Gläser Wein und reden viel. Als ich ihr das Bild von ihrer Schwester und deren „new beginning“ zeigen will, bemerke ich, dass der Akku von meinem Handy leer ist. Egal.

Freitag. Dreiundzwanzig Uhr sieben. Ich liege in meinem Bett in meinem Kinderzimmer. Weit weg von Lernplattformen, Fitness-Apps, Youtube-Videos und diversen sozialen Netzwerken. Mein Smartphone ist immer noch aus und mein Laptop steckt noch im Rucksack. Mir geht es gut.

Foto: flickr.com/Frank Behrens (CC BY-SA 2.0)