Billig, Bunt, Boulevard
Ist unsere abwertende Haltung gegenüber der BILD gerechtfertigt?
Von Frida Knödler
Jeder kennt sie, niemand liest sie…anscheinend. Die BILD erreichte allein letztes Jahr 7,82 Millionen Leser pro Ausgabe und trotzdem will niemand zugeben, sie gelesen zu haben. Das Boulevardblatt hat keinen guten Ruf. Zu Recht?
Bildest du dir das gerade ein? Die ja! Schlagsahne wäre dir fast aus der Hand gefallen. Aber nein, tust du nicht. Vor dem Rewe sitzt ein Mann auf den klebrigen Stufen und liest die Bild. Die BILD, sorry. Eigentlich nichts Besonderes. Immerhin ist das die auflagenstärkste Tageszeitung Deutschlands.
Wieso stehst du dann hier, mitten im Weg, mit deinen Chiliflocken unterm Arm, der Sahne in der Hand und Unverständnis im Gesicht? Wer liest denn heute noch die BILD…und gibt es offen zu? Das streitet man doch ab, ganz verlegen mit leicht glänzender Stirn und krampfhaftem Lächeln – “Ich hab‘ nur mal so kurz durchgeblättert, wirklich!” – in der Hoffnung, dass der oder die Andere Mitleid hat und das Thema sein lässt. Denn trotz der hohen Verkaufszahlen haben viele nicht viel übrig für das Boulevardblatt. Seit Jahren regnet es Mahnungen vom Presserat für verzerrte Berichterstattungen, Verletzungen der Privatsphäre oder Diskriminierung. Das ist kein richtiger Journalismus, heißt es. Aber was ist es dann? Bevor man die billige, bunte Boulevardpresse aufgibt, sollte man sich vielleicht auch fragen was hinter der simplen Denkweise steckt, die BILD-Leser*innen als “Konsumidioten” darstellt und somit die BILD zu dem macht, was sie sein will: Die Stimme der einfachen Leute.
Bilder lügen nicht…oder?
Ein Kind quengelt – “Willichaaaber!!!” – und du zuckst aus deiner kleinen Schockstarre. Das Heizgebläse vor dem Ausgang klatscht dir einen Schwung abgestandene warme Luft ins Gesicht. Weg hier. Auf den Stufen fällt dein Blick wieder auf die aufgeschlagene BILD-Titelseite. Diesmal kannst du den Fettdruck entziffern: „59% der Flüchtlinge haben keinen Schulabschluss“. Ein abwertendes Pfff kannst du dir nicht verkneifen. Wer glaubt sowas? Was soll das?
Provozieren. BILD-Artikel sollen provozieren. Während der Finanzkrise 2010 waren es die “Pleite-Griechen”, dann kam die “Flüchtlingskrise” 2015. Menschen auf der Flucht als Bedrohung zu stilisieren, als Wellen, die nach Deutschland drängen, verkauft sich immer gut. Mit Schlagzeilen wie „Burka-Frau verprügelt Dessous-Verkäuferin“ und „Nur eins von 103 Kindern spricht zu Hause deutsch“ bleibt die Boulevardzeitung weiterhin im Gespräch. Die Pandemie hat daran nichts geändert. Außer vielleicht, dass diese ständige, diskriminierende “Berichterstattung” nicht mehr so offen kritisiert wird, immerhin gibt es gerade wichtigere Themen. Zum Beispiel die ganzen Wissenschaftler*innen, die denken sie wissen es besser, die denken man kann allen anderen einfach vorschreiben, was sie zu tun haben. Ganz schön dreist, meint die BILD.
Dieser typische Populismus gegen “die da oben” ist nichts Besonderes im Boulevardjournalismus. Es gibt keine klare Trennung zwischen der eigenen Meinung und den Fakten. Fehlerhafte Berichterstattungen werden nur vereinzelt korrigiert und dann als neue Enthüllung präsentiert, so auch Tschermal und Schönhauer in Ohne Rücksicht auf Verluste: Wie Bild mit Angst und Hass die Gesellschaft spaltet (2021). Viele BILD-Leser*innen sehen die Zeitung aber auch nicht als verlässliche Quelle von Nachrichten, sondern eher als Unterhaltung, meint Tanjev Schultz, Professor am Institut für Publizistik an der Johannes-Gutenberg Universität in Mainz. Im Boulevardjournalismus ist das Themenspektrum breiter. Das macht ihn massentauglich. Jede Bevölkerungsschicht fühlt sich bei einem Thema angesprochen. Meistens findet man ein Gewaltverbrechen auf der Titelseite, irgendein tragisches Schicksal. Dann ertappt man sich aber doch beim Artikel über irgendein Promi-Haustier, bevor man ganz verlegen noch kurz den Sportteil überfliegt. Aber rechtfertigt das die Verzerrung von Fakten? Darf man lügen wie gedruckt, weil alles „nicht so ernst gemeint ist“? Läuft das noch als Unterhaltung und wenn ja, Unterhaltung für wen?
Eine BILD kaufen – am selben Kiosk, beim selben Typen, zur selben Zeit
Der Mann dreht sich zu dir um. „Kann man Ihnen helfen?“ Dein spöttisches “Pfff” war wohl doch etwas lauter als gedacht. Vielleicht weil sich in dem Moment das Kind die schniefende Nase am Ärmel abgewischt hat. Vielleicht aber auch weil du das Hörvermögen des Mannes doch unterschätzt hast. Von nahem sieht er gar nicht mehr so alt aus. “Ehm nein. Alles okay.“ Wie peinlich. Schnell weg hier. Auf dem Weg zur Haltestelle spielst du die Situation nochmal durch. In deinem Gedanken-Szenario hast du natürlich mehr Selbstsicherheit und antwortest mit leicht hochgezogenen Augenbrauen: „Wieso lesen Sie das?“
Viele machen es aus Gewohnheit. Franziska, Teilnehmerin einer Studie zur Bedeutung der BILD im Alltag ihrer Leser*innen sagt dazu: „Immer, wenn ich morgens zur Arbeit fahre, kaufe ich mir die Bild-Zeitung – am selben Kiosk, beim selben Typen, zur selben Zeit. Das gehört eben zu meinem Tag dazu. Es würde sich nicht richtig anfühlen, wenn ich das nicht so machen würde.“ Sarah meint: „Man versteht eben alles in der Bild. Das müsste man in anderen Zeitungen mindestens zweimal lesen und hätte es trotzdem noch nicht verstanden.“ Das ist typisch für den Boulevardjournalismus. Komplizierte Fachwörter werden vermieden, die Sätze bleiben kurz. Andere Zeitungen werden im Gegensatz dazu als ausgrenzend wahrgenommen. Mascha Brichta, Doktorandin am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienkultur an der Leuphana Universität Lüneburg betont dabei aber, dass es zu weit gegriffen wäre „dies als alleinigen Beweggrund für die Lektüre zu sehen.“ Es geht nicht nur darum etwas leicht lesen zu können, sondern auch etwas Leichtes zu lesen, in der Mittagspause oder auf dem Weg zur Arbeit.
Hat der Boulevardjournalismus vielleicht doch eine gesellschaftliche Funktion?
Viele halten nichts von den Dramen und Trivialitäten, die in Boulevardblättern ganze Seiten zukleistern. Das ist kein richtiger Journalismus, heißt es. Spätestens jetzt muss man aber ein paar altbewährte Denkstrukturen auflösen. Was ist Boulevardjournalismus und was ist schlechte Berichterstattung? Das eine muss nämlich nicht unbedingt das andere bedeuten. Boulevardblätter dramatisieren, ja. Sie geben komplizierte Sachverhalte einfach, manchmal zu einfach wieder, ja. Aber solange die Presse journalistisch korrekt handelt, Quellen angibt und hinterfragt, kann die „vierte Gewalt ihre Kontrollfunktion auch in Fettdruck ausüben“. Die Boulevardpresse an sich vom richtigen Journalismus abzugrenzen wäre falsch. Zum einen, weil damit oft auch eine Geringschätzung gegenüber den Leser*innen einhergeht, die pauschal als ungebildete soziale Schichten abgestempelt werden.
Das erinnert an den Grundgedanken der Frankfurter Schule, vor allem an Adorno und Horkheimers Kritik am passiven Massenpublikum, das Nachrichten nicht (wie die Bildungselite) kritisch aufnehmen kann, sondern nur konsumiert. Zum anderen wäre es nicht richtig, weil diese Denkweise die Berichterstattung anderer Zeitungen idealisiert. Artikel der Zeit und FAZ sind auch bis zu einem gewissen Grad dramatisiert und ideologisch verzerrt, auch wenn das oft nicht so offensichtlich ist. Man muss sich nur an das Titelbild der Süddeutschen Zeitung nach der Silvesternacht in Köln 2015 zurückerinnern.
Trotzdem kann ein Boulevardblatt auch im Gegensatz zu richtigem Journalismus stehen. Nämlich sobald Quellen nicht kritisch hinterfragt werden und die Redaktion Fakten wissentlich so hindreht, dass es zu der “Geschichte” passt. Das ist nicht bei allen BILD-Artikeln der Fall. Aber bei zu vielen. Die höheren Verkaufszahlen laufen dabei auf den Kosten anderer, meistens Minderheiten. Mahnungen vom Presserat, die keine Konsequenzen festlegen, helfen dann auch nicht weiter. „Viele Prominente und Spitzenpolitiker lassen sich auch weiterhin auf die BILD-Zeitung ein und versuchen so, sie in gewisser Weise im Griff zu haben“ meint Tanjev Schultz. Das bedeutet aber auch, dass die BILD öffentlich Bestätigung erhält und als auflagenstärkste Tageszeitung weiterhin die Themen setzt. Niemand sollte sich unwohl fühlen, wenn er oder sie ein Boulevardblatt in der Bahn liest. Aber inwieweit sollte man eine Zeitung unterstützen, die sich einfach nicht an die Regeln halten kann?
Der Bus ist da und du lässt dich ganz hinten auf einen freien Sitz fallen. Die Einkaufstasche schwingt bei der ersten Kurve gefährlich zur Seite. Draußen fängt es an zu regnen. Halt. Die Türen gehen auf und ein Rentner steigt ein, schaut sich um und wackelt den Gang entlang. „Kann man Ihnen helfen?“ fragt eine Frau. Ein Schwall warmer Luft klatscht dir ins Gesicht und du stehst plötzlich wieder vor dem Rewe. “Vielleicht hätte ich doch nicht so reagieren sollen. Ich kenne die Person doch gar nicht.” Halt. Diesmal schwingt die Tasche zu weit nach vorn. Das Gewicht verschiebt sich. Du greifst nach der Tasche. Die ja! Schlagsahne rutscht dir aus der Hand und landet auf der klebrigen Stufe vor der Tür.