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Authentisch über andere schreiben

Mit #ownvoices?

Von Sanni Marttinen

Wer darf über wen schreiben? Welche Geschichte darf von wem publiziert werden? Mit der Frage beschäftigt sich die Gesellschaft in den letzten Jahren in verschiedenen Bereichen, nicht zuletzt in der Literatur und den Medien. Eine Antwort auf die Frage ist der Hashtag #ownvoices, der die Kennzeichnung von Büchern anhand der Position ihrer Autor*innen unterstreicht. Welche Folgen hat das?

Wer gerne Romane liest, hat sich bestimmt schonmal über die fehlerhafte Darstellung von Personen geärgert. Werke mit dem schwulen besten Freund, der hilflosen Jungfrau in Nöten oder mit sexualisierten BIPOC-Personen gibt es zuhauf. Sie verstärken Stereotype über marginalisierte Gruppen im Kopf der Leser*innen. Um so etwas zu vermeiden, wurde der Hashtag #ownvoices ins Leben gerufen. 

Was ist #ownvoices?

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Im Jahr 2015 schlug die niederländische Kinderbuchautorin Corinne Duyvis auf Twitter den Hashtag #ownvoices vor, um Aufmerksamkeit für diverse Autor*innen zu schaffen. Mit dem Hashtag können Bücher in den sozialen Medien gekennzeichnet werden, deren Autor*innen einer marginalisierten Gruppe angehören. Bis dato lag der inhaltliche Fokus schon auf Diversität, die Bücher wurden aber meistens von Autor*innen in einer privilegierten Position geschrieben. Aus dem Hashtag entstand schnell eine weltweite Bewegung, die zur Anerkennung von authentischen Perspektiven in der Literatur aufruft [1] und [2]. Sie betont die Forderung von feministischen Bewegungen, Stimmen marginalisierter Gruppen Aufmerksamkeit zu geben anstatt Gespräche über sie aus einer dritten Perspektive heraus zu führen. 

Die Verbreitung der #ownvoices-Bewegung innerhalb und außerhalb der Literatur hat sich immer weiter fortgeführt. Zum Beispiel werden immer diversere Filmcasts für Filmrollen gefordert, um marginalisierte Schauspieler*innen ihre eigene Geschichte erzählen zu lassen. Trotz guter Absichten hat #ownvoices dabei auch negative Reaktionen erhalten.

Von Empowerment und Authentizität…

Bei #ownvoices geht es in erster Linie darum, Aufmerksamkeit für Bücher von marginalisierten Autor*innen zu schaffen. Damit wird die eigene Erfahrung der jeweiligen Person geschildert. Eine Person im Rollstuhl kennt zum Beispiel aus eigener Erfahrung die Herausforderungen, aber auch die Möglichkeiten eines Lebens mit Behinderung am besten. Außenstehende sehen und interpretieren das Ganze lediglich aus ihrer Perspektive. Aus diesem Grund können die Werke von Autor*innen, die nicht den gleichen Hintergrund wie ihre Figuren haben, an Erkenntnissen mangeln, die die Betroffenen miteinbringen hätten können. In manchen Fällen verstärken sie Stereotype (z.B. die der Untreue bei Bisexualität), beinhalten fehlerhafte Informationen (z.B über die Situation von Menschen mit Schwerhörigkeit) [3] oder vertuschen die Probleme, mit denen die jeweilige Community zu kämpfen hat.

In der Wissenschaft, vor allem in den Geisteswissenschaften, wird bereits seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert immer mehr Wert auf subjektive Wahrnehmung und Wissensproduktion gelegt. Kulturwissenschaftler*innen streben danach, ihre subjektive Position und Perspektive zu reflektieren und zunehmend auch zusammen mit ihrem „Forschungsobjekt“ zu kommunizieren anstatt nur über sie. Dazu hat auch eine erwachende Erkenntnis über strukturell ungleiche Machtverhältnisse und Ausbeutung aufgrund von Kolonialismus und dem Patriarchat beigetragen. Diese strukturellen Ungleichheiten sorgen immer noch dafür, dass u.a. weißen, heterosexuellen, reichen und männlichen Stimmen stärker zugehört wird als denen anderer Personen. Wenn also schwarze und weiße Personen über Rassismus schreiben, nehmen nach wie vor viele weiße Leser*innen eher das Buch von dem*r weißen Autor*in in die Hand.

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Dazu kommt die Tatsache, dass marginalisierte Autor*innen bei ihrer Karriere oft finanziell nicht unterstützt werden. Autor*innen mit einem privilegierten Hintergrund verdienen Geld mit den Geschichten marginalisierter Gruppen, ohne zu deren Empowerment beizutragen. Die New York Times veröffentlichte, dass 89% der 2018 veröffentlichten Büchern in den USA von weiß gelesenen Autor*innen geschrieben worden seien. Dabei ist nur 40% der Bevölkerung der USA weiß. Außerdem werden viele BIPOC-Autor*innen schlechter bezahlt als weiße Autor*innen [4]. Die Bevorzugung von privilegierten Autor*innen gehört also zu einer indirekten Ausbeutung, da diese von den Erfahrungen anderer finanziell profitieren.

… zum Canceln und Identity Policing

Das Kennzeichnen von Büchern aus der Own-voices-Perspektive hat allerdings auch zu einer gewissen Überinterpretation beigetragen. In den letzten Jahren wurden mehrere Autor*innen darauf hingewiesen, dass ihre Romane nicht authentisch genug seien. Teilweise kam es in den sozialen Medien zu einflussreichen Call-Outs, die für ein sogenanntes Canceln der Autor*innen gesorgt haben. Der Autor Kosoko Jackson beispielsweise entschied sich 2019 gegen die Veröffentlichung seines Romans A Place for Wolves, als er einer unangemessenen Darstellung von Albanien und dem Kosovo-Krieg bezichtigt wurde. Sonst teilte Jackson den gleichen Hintergrund mit seinen Hauptfiguren. Ironischerweise hatte Jackson davor selbst verschiedene Autor*innen wegen unauthentischer Perspektiven kritisiert und als “Sensitivity Reader” gearbeitet, der Rückmeldungen für Texte in Hinblick auf die Repräsentation marginalisierter Gruppen gibt [5].

Dabei kann die Frage gestellt werden, wo die Grenze einer authentischen Perspektive liegt. Darf eine homosexuelle Person über Bisexualität oder Transgeschlechtlichkeit schreiben? Dürfen asiatische Autor*innen über afrikanische oder europäische Menschen schreiben? Können Cis-Männer überhaupt über Cis-Frauen schreiben? Können Cis-Frauen über die Probleme von Cis-Männern schreiben? Wenn jeder nur über sich selbst schreiben darf, werden viele Perspektiven womöglich überhaupt nicht oder zu wenig thematisiert. Wie können die privilegierten Autor*innen sonst die marginalisierten Gruppen unterstützen, wenn nicht durch die Thematisierung ihrer Probleme?

Dabei wird außerdem vergessen, dass verschiedene Menschen aus einer Gruppe nicht zwingend die gleiche Meinung haben oder die gleichen Erfahrungen teilen und dass jede Perspektive einzigartig ist. Eine Own-voices-Perspektive bedeutet auch nicht, dass die Darstellung automatisch perfekt ist. Zum Beispiel beinhaltet der Musical-Film The Prom unrealistische und stereotypische LGBT-Darstellungen trotz eines diversen Filmcasts und dem selbst homosexuellen Regisseur Ryan Murphy [6] und [7]. 

Eine Kategorisierung anhand der Hintergründe der Autor*innen nimmt zudem an, dass jede Identität öffentlich bekannt ist. Aber was ist, wenn die Person sich nicht geoutet hat? Die Veröffentlichung der Identität sollte immer die eigene Entscheidung sein. Corinne Duyvis hat auch selbst kritisiert, wie Identity Policing mit #ownvoices fast zum Trend geworden ist [8].

Die Überinterpretation von #ownvoices führt leicht zur Regulierung von Themen von außen und zur (Selbst-)Zensur. #Ownvoices wird in manchen Fällen mithilfe der Cancel Culture durchgesetzt, was letztendlich zum Boykott von Autor*innen führen kann. So beispielsweise von Becky Albertalli, drt Autorin des LGBT-Jugendromans Simon vs. the Homo Sapiens Agenda (auf Deutsch: Nur drei Worte). Sie outete sich im August 2020 als bisexuell – allerdings nicht freiwillig, sondern nach zahlreichen Anschuldigungen der Profilierung an der LGBT-Gemeinschaft. Ihre sexuelle Orientierung wurde in Internetforen diskutiert und der Film Love, Simon, der auf ihrem Roman basiert, wurde auf Grundlage ihrer angenommenen Heterosexualität boykottiert. Nach ihrem Coming-out spürte Albertalli nach eigener Aussage kein Empowerment, sondern Wut und Demütigung, weil ohne Erlaubnis in ihre Privatsphäre eingedrungen wurde [9].

Wer darf also über wen schreiben?

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Der Hashtag #ownvoices hat zur Popularität von diversen Autor*innen und ihren Geschichten beigetragen. Allerdings bezweifeln Autor*innen dadurch auch immer öfter, worüber sie eigentlich schreiben dürfen. Wie so oft, befindet sich die Lösung irgendwo zwischen den zwei Extremen. Die Fähigkeit zur Selbstreflexion wird oft unterschätzt. Intensive Recherche und Interviews mit betroffenen Menschen bilden eine gute Grundlagen für das Hineinversetzen in eine andere Person. Anstatt sich die Meinungen und Erfahrungen von anderen Menschen anzueignen, sollte den Betroffenen zugehört werden, um ihre Ansichten verstehen zu können. Aus diesem Grund werden auch “Sensitivity Readers” eingesetzt: Sie korrigieren Fehler und sorgen dafür, dass Werke der Literatur marginalisierte Gruppen und ihre Probleme auf eine realistische Art und Weise darstellen. Werke mit der Kennzeichnung #ownvoices sollten weiterhin gefördert werden, aber nicht die einzige Option darstellen. Mit den Worten von Corinne Duyvis: „Own voices should be a tool, not a blunt weapon“ [10].