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Tübinale 2014: Darth Vader hatte die Nase vorn

                                                                                                                                                    von Maya Morlock

Am vergangenen Freitag, den 6. Juni 2014, war es endlich wieder soweit: die Studenten der Medienwissenschaft luden zur „Tübinale“ in die Aula des Keplergymnasiums ein. Die von Prof. Klaus Sachs-Hombach initiierte Veranstaltung stand wie auch in den Vorjahren unter dem Motto „transmediale Welten“. Angehende Jungregisseure bekamen hier die Chance ihre eigenen Filme zu diesem Thema zu präsentieren.

 

Transmediale Welten, wie setzten die Gruppen das um?

Gezeigt wurden 12 Filme à höchstens 6 Minuten, anschließend beantworteten die jeweiligen Verantwortlichen Fragen zu ihrem Werk. Nachdem alle Filme gezeigt vorgeführt wurden, erfolgte die Siegerehrung: Der Publikumspreis wurde an die Gruppe mit dem größten Applaus vergeben, über die Plätze drei bis eins entschied eine externe Jury, bestehend aus Experten der Medienbranche, wie zum Beispiel Manfred Handtke (Tagblatt-Redakteur)  und Studenten der Medienwissenschaft. Thematisch wurde in allen gezeigten Filmen besonders der Umgang mit den Medien und deren Auswirkungen auf die Gesellschaft fokussiert.
Oftmals wurden die negativen Aspekte aufgezeigt, wie beispielsweise in dem Film „Frei“, in dem ein Mann durch das Ausfallen der medialen Apparate gezwungen wird, wieder in das echte Leben zurückzukehren und dabei bemerkt, dass die Realität mehr bereithält als die mediale Welt. Die Abgrenzung zwischen medialer digitaler und realer Welt und wie sich unter deren Einfluss zwischenmenschliche Beziehungen entwickeln, wurde häufig thematisiert.

Der einzige Film, der die Medien dabei eher positiv darstellte war „treasure“, der die Neuerungen als unendlich großen und namensgebenden Schatz darstellte. Wertungsfreie Filme waren ebenfalls vorhandenwurden, so beispielsweise der Dokumentarfilm „natives vs. immigrants“, in dem Passanten in der Tübinger Altstadt ihre Meinung zu „neuen“ und „alten“ Medien  preisgaben. Einen alten Walkman lehnte eine ältere Dame ab, ein Buch galt als habtisches Gut, das nicht durch ein E-Book verdrängt werden könne und eine Polaroidkamera befand der Großteil trotz der veralteten Technik als zeitlos und hip.

Bei solch einer Bandbreite von Filmen und kreativen Ideen war es sichtlich schwer einen klaren Gewinner zu ermitteln. Einige glänzten mit einem überragenden filmischen Know-How, andere denen man anmerkte, dass es wohl ihre erste Filmproduktion ist, überzeugten dagegen mit einer kreativen Umsetzung.
Bemerkenswert ist, dass alle Siegerfilme ohne gesprochene Sprache auskamen und sich, wenn überhaupt, nur Worteinblendungen bedienten. Die Atmosphäre wurde jedoch durchweg über eine passende Musik- und Soundauswahl übermittelt.

 

Die Wandlung der Medien – War früher alles besser?

Auf dem dritten Platz landete der Film „All the ways“, der die alten Medien mit den Neuen verglich: Wo viele nach dem Aufstehen eine „Wetter-App“ öffnen, streckt der Protagonist den Finger aus dem Fenster, um die Außentemperatur zu ermitteln. Zeitung gegen MP3 Player, Stadtkarte vs. Navi. Fazit ist, man kommt mit den alten Medien genauso gut ans Ziel, wie mit den Neuen.

„21st Century Love“, der den zweiten Platz belegte, erzählt dagegen die Geschichte einer Internetbeziehung: Die Protagonisten entschließen sich dazu, sich das erste Mal zu treffen. Im Zug wird die Protagonistin von ihrer Gedankenwelt übermannt. Sie stellt sich vor, wie der Liebste sie wegen einer anderen Frau versetzen oder sie mit offenen Armen empfangen könnte. Das reale Geschehen bleibt unerzählt –, da der Film endet, als sie aus dem Zug steigt. Ein Film der zum Nachdenken anregt, wie gut wir die Menschen eigentlich kennen, die wir beispielsweise als Facebook– Freunde haben. Dieser ergreifende Film räumte gleichzeitig den Publikumspreis ab und das Entwickler-Team „Purple Produktions“ freute sich über insgesamt 6,5l Wein, den sie zur Feier des Tages teilen würden.

 

Star Wars – Die Brücke zwischen den Medienangeboten

Beim Siegerfilm “Transmedialove“, von Mareike Stohp, Nina Linsenmayer und Johanna Dreyer, blieb im Saal kein Auge trocken. Stellenweise war nur schallendes Lachen zu vernehmen. Somit ging der erste Platz hochverdient an einen urkomischen Film, der trotzdem einen kritischen Aspekt behandelt: Es wird ein junger Mann über drei Monate hinweg begleitet seine Entwicklung verfolgt. Er ist ein großer Star Wars– Fan und verliert sich zunehmend in der galaktischen Welt. Die prominenten Sounds aus dem Film wurden ebenso aufgegriffen wie  prägnante Zitate, beispielsweise „May the force be with you“. Seine Star Wars– Obsession gipfelt schließlich darin, dass er sich ein Darth Vader Kostüm zulegt, dieses in seinem Alltag trägt und gänzlich dessen Rolle einnimmt. Es hielt kaum noch einen Zuschauer auf seinem Stuhl, als Darth Vader eine Bank betritt und die automatisch öffnenden Türen mithilfe seiner „Macht“ öffnet. Als Vader eine Gleichgesinnte findet, die stark an Prinzessin Leah erinnert, ist die „transmedialove“ perfekt. Ein Film mit wahrer Liebe zum Detail. Überall sind Star Wars Utensilien zu finden. Raffinierte Schnitte, eine gelungene Musikauswahl und eine überzogene Darstellung, wie man sich in einer medialen Welt verlieren kann, machen diesen Film einzigartig. Durch den komischen Aspekt behält er sich zudem vor, eine klare Wertung abzugeben. Vader hat sein Gegenstück, seine Leah gefunden und dort endet auch ihre Geschichte. Es wird nicht gezeigt, ob er den Weg zurück gefunden hat oder mit seiner Leah glücklich in der Phantasiewelt lebt. Sichtlich überrascht über ihren Erfolg betraten die Gewinner die Bühne. Laut eigener Aussage, wählten sie Star Wars bewusst, da es sich hierbei um ein wahrhaft transmediales Format handelt: Die unendlichen Weiten finden sich in Filmen, Comicbüchern, Fernsehserien und auch als Videospiel. Mit Anekdoten vom Dreh entzückte das Siegerteam „Digital Natives“ die Zuschauer: So habe Darth Vader in der Tübinger Innenstadt viel Aufsehen erregt, –Ein Mann habe beim Eintreten in die Bank sogar einen Überfall befürchtet!

Zusammenfassen lässt sich die diesjährige Tübinale wohl als ein Abend voller gelungener Filme, die ein überraschend hohes Niveau zeigten. Zu hoffen ist, dass dieser Event auch 2015 stattfindet, bei dem die Studenten der Medienwissenschaft ihr Können und ihre Kreativität vor Publikum unter Beweis stellen können.

Fotos: ©Presse Tübinale

Souverän der Information – Professor Pörksen auf der re:publica 2014

von Sanja Döttling

Die re:publica ist eine deutsche Internetkonferenz rund um Social Media, Blogging und Digitale Gesellschaft. Dort hielt Professor Bernhard Pörksen, Leiter des Tübinger Instituts für Medienwissenschaften, einen Vortrag, über das Problem der Informationsüberflutung. Werden wir täglich mit zu vielen (digitalen) Informationen bombadiert? Pörksen stellte als Lösungsansatz seine Drei-Welten-Theorie vor. Im folgenden Video kann der Vortrag in ganzer Länge nachgehört werden.

 

 

 

Video: Creative Commons Attribution-ShareAlike 3.0 Germany (CC BY-SA 3.0 DE)

 

Knut Hickethier zu Gast in Tübingen

 von Nicolai Busch

Der prominente Medienwissenschaftler über die Geschichte und Traditionen unseres Fachs. Ein Vortrag im Rahmen der „Einführungsveranstaltung für Medienwissenschaft I“ unter der Leitung von Prof. Dr. Pörksen.

Es ist einer dieser Montagabende für etwa 250 neue Bachelor- und Masterstudenten der Tübinger Medienwissenschaft. Montagabend das bedeutetet „Einführungsveranstaltung in die Medienwissenschaft I“, das bedeutet Basiswissen zur Medienforschung, zur Medienpraxis, zu Mediensystemen und Medienwirkungen, sowie zur Medienethik und vielem mehr. Zum dritten Mal ist die Vorlesung unter der Leitung von Prof. Dr. Pörksen bis auf den letzten Platz besetzt. Doch auch Studenten älterer Semester, Professoren und Dozenten der Medienwissenschaft, sowie Fachfremde sind unter den heutigen Besuchern auszumachen. Anlässlich des prominenten Gastredners aus Hamburg sollte dies aber nicht allzu sehr verwundern.

Wie aus einem Kunsterzieher ein Medienwissenschaftler wurde

Die Rede ist von Knut Hickethier, eben jenem herausragenden Medienwissenschaftler älterer, prägender, ja wegweisender Generation. Geboren 1945, studierte Prof. Dr. Hickethier zunächst Kunsterziehung an der Hochschüle der Künste in Berlin von 1965-1970. Im Interview mit media-bubble.de erklärt uns der spätere Fernseh-, Film- und Radiokritiker (dann auch), wie er schließlich „zu den Medien kam“: Durch eine Öffnung der kunsterzieherischen Didaktik für mediale Dikurse und den verstärkten Konsum medialer Inhalte durch Kinder und Jugendliche Ende der 60er Jahre. Schon bald empfand Knut Hickethier großes Interesse für ein Angebot fernsehanalytischer Seminare an der Technischen Universität Berlin. Grund genug für den damaligen Kunsterzieher, das interdisziplinäre Angebot der Berliner Germanistik und Erziehungswissenschaften ab 1970 wahrzunehmen, um hier bereits den Grundstein der später folgenden medienwissenschaftlichen Karriere zu setzen.

Wer, wenn nicht er?

Der Abend mit Knut Hickethier im Kupferbau beginnt mit einer liebenswürdigen und respektzollenden Laudatio von Prof. Dr. Pörksen. Man kennt sich gut aus Hamburger-Zeiten und zeigt sich dankbar für viele Jahre des „Forderns und Förderns“. Der Respekt vor der wissenschaftlichen Leistung Knut Hickethiers lässt sich als dann auch in Zahlen ausdrücken: Unglaubliche 450 Publikationen seien es, die der Herausgeber zahlreicher Buch- und Filmreihen bisher zu verzeichnen hat, so Prof. Dr. Pörksen zu den Ergebnissen seiner Recherche. Eine lange Liste präzisierter, veröffentlichter Gedanken, die zeitlich weit zurück reicht zu den Anfängen unseres Fachs und die verstehen machen sollte, weshalb eben dieser Mann an diesem Abend geladen ist, das Thema „Fachgeschichte und Fachtraditionen“ vorzutragen.

Über die Entstehungsgeschichten der Kommunikations- und Medienwissenschaft über Debatten, Kontroversen und das Verhältnis beider Fächer zueinander, über aktuelle Trends der Fachentwicklungen, bis hin zu den Paradigmen der Medienwissenschaft, widmet sich der Gastredner Knut Hickethier eben jenen zentralen und elementaren Stichworten, die in keiner Einführungsveranstaltung der Medienwissenschaft fehlen sollten. Ein unterhaltsamer Vortrag, gespickt mit zahlreichen Anekdoten und persönlichen Erlebnisberichten, wie zum Beispiel jenen Erinnerungen an die technisch zwar absurd-aufwändigen, aber erfolgreichen Fernsehanalysen als Student an der TU Berlin unter Friedrich Knilli. Fast nostalgisch klingt Knut Hickethier, als er darauf verweist, dass das deutsche Fernsehen diese Analysen damals noch ernst genommen und auf die akademische Kritik direkt reagiert habe! Was trotz der so vergänglich anmutenden Vortragsthematik bleibt, sind große Zukunftsvisionen Prof. Dr. Hickethiers für das Fach der Medienwissenschaft, auch in Tübingen: Eine zunehmende Annäherung von Kommunikations- und Medienwissenschaft, verbunden mit methodischen, wie inhaltlichen Veränderungen für beide Fachrichtungen, ein gerechter und maßvoller Umgang mit externen Förderungsmaßnahmen, um vor allem einem sich ausbreitenden „Effiziendenken“ der Universitäten Einhalt zu gebieten, besonders aber die nie endende „Suche nach dem Sinn, der in allem steckt und der mediale Kommunikation immer wieder auf’s Neue attraktiv macht.“

 

Probieren geht über Studieren – eine ehemalige Studentin berichtet

Für was studieren wir eigentlich? Finden wir unseren Traumjob oder sind wir froh, dass da draußen überhaupt eine Stelle für uns frei ist – für uns als Teil einer wachsenden Masse von Studienabgängern? Bei Geisteswissenschaftlern stellt sich meist die Frage „Was macht man denn damit?“ Auch für einen Medienwissenschaftler ist es nicht immer leicht, die eigene Richtung zu finden. Vielleicht verlässt manch einen auch ab und an der Mut, wenn er düstere Geschichten über den Arbeitsmarkt in der Medienbranche hört. Media-bubble.de hat deshalb einmal nachgehakt, was denn aus den ehemaligen Tübinger MeWis heute so geworden ist.

von Sandra Schröder-Kalemba

Ich heiße Sandra Schröder-Kalemba, bin 30 Jahre alt und habe von 2007 bis 2009 Medienwissenschaft mit dem Abschluss Master in Tübingen studiert:

Die Berufswelt bietet einem Medienwissenschaftler heute viele Möglichkeiten. Wir können danach sowohl als Journalisten, als auch in der PR arbeiten und verfügen über breitgefächerte Kompetenzen im medialen Geschehen. Das Studium bietet eine gute Orientierung und schneidet alle Bereiche von Print, über Hörfunk, bis Fernsehen, Online und PR an. Diese Vielfalt macht uns als Allrounder für viele Arbeitgeber interessant, die crossmedial arbeiten. Aber: man sollte sich im Klaren sein, dass man nach dem Abschluss nur an der Oberfläche gekratzt hat.

Für Arbeitgeber zählen Arbeitsproben

Wer in den Medien Fuß fassen will, der sollte bereit sein, viele Praktika – auch unbezahlt – zu absolvieren, um möglichst viele verschiedene und aussagekräftige Arbeitsproben vorweisen zu können. Es ist ein langer Ausbildungsweg, der einem in vielen Bereichen ein Volontariat zum Redakteur trotzdem nicht erspart. Viele Verlage betrachten Projekte aus der Uni eher als Übungsstoff und bestehen auf „echten“ Beiträgen, die auch veröffentlicht wurden. Diese sollte man unbedingt sorgfältig aufheben, aufbereiten, zugänglich machen und für Bewerbungen sofort parat haben. Besonders gern gesehen sind Projekte, bei denen der Medienwissenschaftler eigenverantwortlich Beiträge umgesetzt hat.

Schon vor meinem Studium habe ich für die Lokalpresse NWZ geschrieben. Während des Studiums war ich drei Monate in einer lokalen Werbeagentur und habe dort Webseiten gestaltet. Nach meinem Studium war ich drei Monate beim Göppinger Stadtmarketingverein und habe dort das Bühnenprogramm für das Event Waldweihnacht organisiert und vom Flyer bis zur Pressemitteilung aufbereitet. Danach war ich ein halbes Jahr bei der Wochenzeitung Staatsanzeiger im Onlinebereich. Erst danach wurde ich aufgrund der aktuellen Arbeitsproben für ein Volontariat bei der Ludwigsburger Kreiszeitung genommen und habe dort noch mal von Grund auf das journalistische Handwerk der Tageszeitung und das Blattmachen gelernt.

Jobs der Zukunft liegen im Netz 

Jetzt bin ich Onlineredakteurin bei der Südwest Presse in Ulm für die Region Göppingen/Geislingen. Dort betreue ich die Webseiten der NWZ und Geislinger Zeitung, erstelle Bildergalerien, habe schon erste Videos gedreht und schreibe auch selber Beiträge. Meine Wünsche haben sich komplett erfüllt: Ich kann als Journalistin online arbeiten und habe großen Freiraum bei der Themengestaltung in allen Medienformen in Text, Bild, Audio und Video. Ich bin froh, dass wir im Studium selbst Videos gedreht und geschnitten haben. Auch der Onlinekurs hat mir sehr viel mit auf den Weg gegeben. Noch heute schaue ich in meinen Aufzeichnungen nach zu Photoshop, Montagetechnik, Interviewtechnik und Reportage.

Das alles habe ich in der Praxis vertieft und darauf aufgebaut. Mein Motto lautet am Ende aber: Probieren geht über Studieren – nur wer das Gelernte anwendet und entwickelt, kann mit den ständig wechselnden Anforderungen der Medien mithalten.  Man ist nie fertig und muss ständig bereit sein, sich auf neue Programme, Gestaltungsregeln etc. einzulassen. Vor allem im Onlinebereich sehe ich die größten Zukunftschancen. Egal ob Zeitungshaus, Stadtverwaltung, Ministerium, Verband oder Verein: alle wollen online machen und suchen Leute, die sich mit Web, Facebook und Co auskennen, schreiben, fotografieren und filmen können. Viel Erfolg!

 

Fotos: Copyright Christine Böhm

KLARTEXT: Was nun? Die Publikumsforschung am Scheideweg

von Pascal Thiel

Die Publikumsforschung ist am Scheideweg – zumindest, wenn man Sonia Livingstone Glauben schenkt. 1998 erschien ihr wissenschaftlicher Artikel „Audience research at the crossroads – The implied audience in media and cultural theory“, im European Journal of Cultural Studies. Dort warnt die international renommierte Kommunikationswissenschaftlerin vor einer negativen Entwicklung der Publikumsforschung.

Zur Autorin

Sonia Livingstone ist Professorin für Sozialpsychologie am Departement of Media and Communications der London School of Economics and Political Science. Zudem hat sie Gastlehrstühle in Kopenhagen, Stockholm, Bergen, Illinois, Mailand und an der Universität Panthéon-Assas in Paris. 17 Bücher und weit über 100 wissenschaftliche Artikel hat Livingstone in ihrer Karriere bereits publiziert. 2007 bis 2008 war sie Präsidentin der International Communication Association (ICA).

Sonia Livingstone hat sich mit einer weiten Palette kommunikationswissenschaftlicher Forschungsgebiete befasst. Zentral sind etwa ihre Untersuchungen der Beziehungen von Kindern und Jugendlichen zum Internet, Forschungen zu Internetnutzung und -politik und schließlich mediale Publika.

Mediale Publika

Sonia Livingstone schreibt medialen Publika eine zentrale gesellschaftliche Bedeutung zu. Jedoch muss im Voraus auf eine wichtige Voraussetzung der Bildung medialer Publika hingewiesen werden: die Massenkommunikation. Sie ermöglicht zum Ersten, so Livingstone, entgegen dem Begriff der Massenkommunikation durch Maletzke, Interaktion und Teilhabe, zum Zweiten schafft sie gesellschaftliche Bedeutungen. Zum Dritten erzeugt sie, daraus resultierend,  mediale Publika.

Die zentrale gesellschaftliche Bedeutung medialer Publika resultiert nun aus der Tatsache, dass die Positionierung, also der Status der Personen in medialen Publika, ihre Teilhabe und  Teilnahme and der Gesellschaft bestimmt. Konkret bedeutet das: Je mehr eine Person medial interagiert, desto besser ist sie in mediale Publika und somit in die Gesellschaft eingebunden.

Sonia Livingstone spricht häufig von dem „implied audience“. Darunter ist kein reales Publikum, sondern eher eine theoretische Konzeption eines Publikums zu verstehen, die als Rezipient medialer Texte und Codes vorausgesetzt wird.

Die Publikumsforschung

Die Publikumsforschung interessiert sich nach Glogner-Pilz (2012) für ein weites Spektrum publikumsrelevanter Fragen. Etwa für die soziodemografische und -ökonomische Zusammensetzung von Publika, für einstellungs-, motiv- und wirkungsbezogene Fragestellungen oder (statistische) verhaltensbezogene Daten.

In den letzten 50 Jahren erlebte sie einen wahren Hype. Als neue kommunikationswissenschaftliche Ideen um 1960 das einseitige Stimulus-Response-Modell der Massenkommunikation allmählich verdrängten, ahnte wohl noch keiner der beteiligten Forscher, welch beispiellose Entwicklung dieses noch so kleine, unbedeutende Forschungsgebiet machen würde.

Insbesondere in den letzten 20 Jahren hat sich die Publikumsforschung in ein breit gefächertes Forschungsfeld verwandelt. Bezogen auf die theoretische Vielfalt hat sie eine gewaltige theoretische Ausdifferenzierung hinter sich. Zugleich etablierte sie sich als anerkannte wissenschaftliche Disziplin.

Die Probleme

Doch gerade letzteres – so Livingstone – habe in den letzten Jahren zu einer weiteren, jedoch verhängnisvollen, Entwicklung geführt. Die wissenschaftliche Etablierung der Publikumsforschung habe der theoretischen Ausdifferenzierung entgegengewirkt. Die Folge: eine kanonische Publikumsforschung.

Zu der schwindenden theoretischen Vielfalt komme ein weiteres Problem hinzu: In vielen Forschungsgebieten außerhalb der Kommunikationswissenschaft sei nach wie vor ein reges wissenschaftliches Interesse am Publikum zu erkennen. Jedoch seien hier keine Publikumsforscher, sondern andere disziplinexterne Forscher am Werk. Die Gefahr ist eindeutig: Kann die Publikumsforschung diese externe Forschung an Publika nicht in sich integrieren, ist eine Fragmentierung der Publikumsforschung unausweichlich.

Hier kommt der Begriff des „Scheidewegs“ ins Spiel: Über die Grenzen wissenschaftlicher Disziplinen hinweg, scheint man sich verstärkt mit dem Thema „Publika“ zu befassen, die eigentliche Publikumsforschung jedoch sieht sich mit ihrem drohenden Untergang konfrontiert.

Ein Beispiel: Die Cultural Studies

Wie oben erwähnt, greifen viele Forschungsdisziplinen das Thema „Publika“ mit ihren eigenen Forschungsinteressen auf. So auch die Cultural Studies.

Ende der 1980er Jahre entdeckte man in der Kultur die Gewöhnlichkeit. Von da an interessierten sich die Cultural Studies für das alltägliche (gewöhnliche) Leben der Menschen – die Alltagskultur ward geboren. Man fand heraus, dass dominante Kulturen existieren, die andere Kulturen marginalisieren. Man kann sie als Prozesse verstehen, die bestimmte – dominante – Ansichtsweisen anderen vorziehen.

Nun nahm man die Zutat „Publika“ hinzu – zwei Fragen ergaben sich: Wie reagieren gewöhnliche Nutzer auf gewöhnliche Medientexte? Und: Wie äußert sich dieses gewöhnliche Antwortverhalten in Bezug auf bestimmte Prozesse der gesellschaftlichen Bedeutungskonstitution?

Und wieder war eine neue „externe“ Publikumsforschung entstanden.

Doch bald stieß sie an ihre Grenzen: So interessant die Fragen auch sein mochten, so schwer fiel ihre Beantwortung. Zur Schwierigkeit der schwach eingegrenzten, sehr offenen Fragestellung gesellte sich das Problem des Fehlens eines kohärenten Theorierahmens zur angemessenen Interpretation der Antworten.

Was nun?

Auch um solch Fehlentwicklungen zu vermeiden, fordert Sonia Livingstone eine Verstärkung der Beziehungen und des Austauschs zwischen Publikumsforschung  und Cultural Studies sowie Medienwissenschaft. Gleichzeitig – dies wird im Folgenden dargestellt – dürfe man aber unter keinen Umständen Ansätze von Politischer, Technologie-, Wirtschafts- und Sozialer Theorie vernachlässigen.

Das aktive Publikum

Scheidewege sind oft negativ konnotiert. Sie sind verbunden mit Sätzen wie „Wie konnte es nur so weit kommen?“ oder „Wie sind wir nur hier gelandet?“. Doch Scheidewege stellen auch eine letzte Chance dar, einen neuen Weg zu beschreiten.

Dies, so Sonia Livingstone, habe die Publikumsforschung bereits getan. Die Publikumsforscher haben sich vom alten Stimulus-Response-Paradigma ab- und neuen Ideen zugewandt. Theorien medialer Inhalte mit starren Bedeutungen, die linear auf ein passiv-rezipierendes, einheitliches Massenpublikum treffen und absehbare Wirkungen erzeugen, sind Geschichte.

Ein Publikum bestehe nun aus pluralen, kulturabhängig dekodierenden, aktiven Rezipienten. Unter Berufung auf Silverstone (1990) beschreibt Livingstone dieses neue Publikum als „Dreh- und Angelpunkt“ für das Verständnis sozialer und kultureller Prozesse öffentlicher Kommunikation.

Annäherung an Soziale und Politische Theorie

Wissenschaftstheoretisch stellt sich weiterhin die Frage, wie die Publikumsforschung auf die gegenwärtigen negativen Entwicklungen reagieren kann.

Alexander & Jacobs (1998) fordern, die Publikumsforschung näher mit Sozialer und Politischer Theorie zusammenzubringen. Dazu müssten sich aber auch Sozial- und Politische Theorie neuen Ideen öffnen. Konkret sprechen sie von einer Loslösung der Fixierung auf Macht und Entscheidungsfindung als primäre regulative Prozesse hin zu einer Öffnung gegenüber des Aspekts der öffentlichen Debatte, sprich Publika.

Alexander & Jacobs unterstreichen ihre Haltung mit dem Argument, dass die Gesellschaft nicht nur durch ihre Beziehungen zu Staat und Wirtschaft, sondern auch durch die „erfinderische Konstruktion kollektiver Identitäten und Solidaritäten“ konstituiert werde.

Sie sprechen sich gegen die Vorstellung von Medien als bloßem Informationskanal für ein einheitlich rezipierendes Publikum aus. Alexander & Jacobs sprechen von polysemantischen Texten, die unter heterogenen, interessierten Öffentlichkeiten verbreitet werden. Der Einfluss der Menschen, ihre Identitäten und Solidaritäten werden, wie eingangs schon einmal dargestellt, von den Medien, der Teilnahme an der Massenkommunikation bestimmt.

Nur durch diesen Schritt könne eine engere Verbindung und wissenschaftliche Kooperation zwischen Publikumsforschung und Sozialer bzw. Politischer Theorie gelingen.

Das Mikro-Makro-Problem

Zu guter Letzt sei zur Genese der Publikumsforschung ein weiterer Schritt essentiell: Das Überdenken der Beziehungen zwischen Ansätzen der Mikro- und der Makro-Ebene.

Das Publikum als „social and cultural object within the complex reality of everydays life“ spiele auf beiden Analyseebenen eine wichtige Rolle, denn es sei „embedded both in the macro-environment of political economy and in the micro-world of domestic and daily existence“ (Silverstone 1990: 174). Auch bei dieser neuen Reflexion sei die Annäherung der Publikumsforschung, Sozial- und Kulturtheorie ein wichtiges Ziel.

Fazit der Autorin

„There are several things one can do at a crossroads. One is to look back. […] Another possibility is to look forward, even it seems that the problems […] seem insurmountable. But it is also possible to sit and rest awhile, for a little reflection […], the problems may prove manageable after all. If audience researcher want anyone else to notice their journey […] then a pause for reflection may be the best option for the moment“ (Livingstone, 1998, p. 211).

 

Klartextlogo: Copyright Pascal Thiel

Bilder: flickr/go.goflo (CC BY-NC-ND 2.0); flickr/11335395@N06 (CC BY-ND 2.0)

Jetzt reden wir Klartext!

von der Redaktion

Medien bestimmen unseren Alltag. Und viele kluge Köpfe machen sich bis heute Gedanken über Wege, diese zu beschreiben. Sie produzieren einen Berg von Büchern, Theorien und Definitionen, der uns angehende Medienwissenschaftler zu begraben droht. Wir wollen versuchen, ein wenig Licht ins Dunkel zu bringen.

Morgen geht sie endlich an den Start – unsere neue Serie „Klartext“. Also unbedingt reinschauen, wenn wir trockene Theorien für euch mundgerecht verarbeiten und in spannender und verständlicher Form wiedergeben. Jeden zweiten Montag posten wir für euch einen Artikel, der sich mit einer Theorie oder einem wissenschaftlichen Werk befasst, über das jeder Medienwissenschaftler früher oder später zwangsläufig stolpern muss.

Warum bekomme ich bei Amazon plötzlich Stechpaddel angeboten? Wie verändern all die technischen Spielzeuge unsere Wahrnehmung und die Beziehung zu unseren Mitmenschen? Was treibt diese rasanten Entwicklungen an, wer profitiert davon und wo soll das alles noch hinführen? Fragen, die nicht nur Medienwissenschaftler umtreiben. Auch für alle anderen ein spannendes Feld, von dem wir uns jeden Tag umgeben sehen.

From Barbie to Mortal Kombat – wer Bücher mit solchen Titeln veröffentlicht, der muss doch einfach ein paar spannende Gedanken zum Thema Medien haben. Nicht um dieses aber ein nicht weniger interessantes Buch von Henry Jenkins geht es morgen in unserem ersten Beitrag. Convergence Culture: Where Old and New Media Collide nimmt unter die Lupe, welche Rolle Fanbeteiligung in der heutigen Kulturindustrie spielt und wie wir vom Rezipienten zum aktiven Nutzer werden. Was steht eigentlich hinter Fanfictions, Onlinespielen und Co.? Seid neugierig und schaut vorbei!

Logo: Copyright Pascal Thiel

Schriftsteller für Zahnpasta

von Nicolai Busch

Scholz&Friends gehört zu den größten und erfolgreichsten Werbeagenturen Europas.  Unser Redakteur Nicolai Busch ist zur Zeit Praktikant im Bereich „Werbetext“ und berichtet über kreatives Ausrasten, die Regeln im Job und Phrasen, die Konsum auslösen.

Die Botschaft muss ins Hirn. Sie muss sich wie ein Ohrwurm in den Köpfen der Menschen einnisten. Sie muss sofort begriffen werden und sprachlich wie inhaltlich vollkommen überzeugen. Natürlich muss sie auch Spaß machen. Doch vor allem muss sie eins: Sie muss neu sein.

Das Texten, wie es sein sollte

So neu, dass die Botschaft über die vermeintliche Innovation des Produkts hinaus einen Neuigkeitswert für den Alltag der Menschen besitzt. So neu, dass sie altbekannte Kontexte und Klischees möglichst laut sprengt und aus den umherfliegenden Trümmern neue, nie gesehene Konsumphantasien erbaut. Werbung, die diese Sprengkraft hat und Slogans, die uns derart überraschen, geben uns ein schönes Gefühl. Sie beweisen uns, dass die Dinge selbst in der Krise nur noch besser werden. Und lassen uns die Zweifel darüber vergessen, ob denn in unserer westlichen Welt heute überhaupt irgendetwas wirklich “neu“ oder “originär“ sein kann.

Jede gute Headline auf einem Plakat, im Fernsehen oder im Netz nimmt uns mit auf eine unterhaltsame Reise.  Sie erzählt uns in drei bis sieben Worten eine kleine Geschichte. Eine Story, die uns so viel eher überzeugt als das gewöhnliche „Jetzt neu und noch besser!“ Ein Ausspruch, der zwar alles sagt, was Werbung sagen möchte,  aber heute längst nicht mehr als Alleinstellungsmerkmal guter Werbung gilt.

Das Texten, wie es wirklich ist

Es ist Neun Uhr morgens in Berlin und mein erster Arbeitstag als Werbetexterpraktikant bei Scholz&Friends beginnt. Die Kollegen sind cool drauf, das Büro ist schick, ich bin gespannt und freue mich auf die nächsten sechs Monate!

Meine erste Aufgabe: Headlines für eine Plakatanzeige schreiben. Der Kunde ist deutschlandweit bekannt und wird seit Jahren von Scholz&Friends betreut. Sofort fallen mir viele, wie ich finde, lustige, knackige, bestimmt nie gesehene Überschriften ein. Ich schreibe ganz ausgelassen vor mich hin und freue mich heimlich über meine ach so grandiosen Geistesblitze, als man mir plötzlich einen dicken Stapel Papiere reicht. Es handelt sich um die Briefings der Aufträge und das Kommunikationsmuster, also die Vorgaben des Kunden. Schnell begreife ich beim Lesen, was viele Kreative manchmal gerne vergessen würden: Werbung bedeutet nur in den seltensten Fällen kreatives Ausrasten.

Die Marke wird zur Marke, weil sie immer wieder gleich auftritt. Durch Kontinuität in Vokabular, Satzstruktur und Wortwitz konstruiert sich die Marke und wird erst dadurch für den Leser unverwechselbar. Werbetexten heißt deshalb zuallererst, die bereits etablierte Corporate Language des Kunden sprechen zu lernen. Die Explosion der Konventionen haben viele große Unternehmen erstens gar nicht nötig und sie entspricht auch häufig nicht dem Lebensgefühl ihrer Verbraucher.

Gut Ding will Weile haben

Nach langem Drücken der Entf-Taste fange ich erneut an zu schreiben. Diesmal eben ganz nach den Vorstellungen des Kunden. Ich schreibe 20 Headlines an meinem Ersten und 30 am nächsten Tag. Von diesen 50 Lines gefallen Sebastian 10. Sebastian ist seit etwa einem Jahr Junior-Texter bei Scholz&Friends und weiß, was dem Kunden gefällt und was nicht. Er weiß, welcher Witz zieht, was bereits geschrieben wurde und auch, was man lieber nicht schreiben sollte. Die zehn ausgewählten Lines zeigt er einem unserer Senior-Texter, der daraus wiederum die besten drei erwählt. Die werden später von Artdirectoren gelayoutet, von Creative Directoren abgesegnet und dem Kunden dann vorgestellt. Von meinen ursprünglich 50 Ideen wird somit im besten Falle eine Idee umgesetzt. Sollten dem Kunden alle drei Headlines nicht zusprechen, geht der Kreislauf von vorne los, und ich fange wieder von vorne an.

Kreativsein auf Knopfdruck

Ich denke also weiter nach. Und jetzt auch etwas schneller. Vielleicht liegt die größte Herausforderung des Werbetexters überhaupt darin, möglichst viele Ideen nicht innerhalb von zwei Tagen, sondern innerhalb von zwei Stunden zu erdenken. Das Geschäft mit Wort und Bild erlaubt es nicht, allzu lange zu sinnieren oder darauf zu warten, dass einem ein Licht aufgeht.

Ich denke an Wortspiele, Redensarten, Floskeln, Alltagsphrasen und Reime. Ich denke an die Sehnsüchte des Verbrauchers, an die Wünsche und Träume der Menschen, an Mythen, kulturelle Vorurteile und Codes,  an das Emotional- Unbewusste in uns, das sagt: “Kauf DAS und NICHT DAS“. Ich versuche, das Produkt, den Verbaucher oder den Prozess des Konsums in meinen Texten zu personifizieren oder zu abstahieren. Fast alles was mir einfällt kritzele ich  verbildlicht auf ein Blatt Papier. Kritzeln ist wichtig. Eine Idee, die nicht gekritzelt werden kann, ist es häufig nicht wert, weitergedacht zu werden. Leute, die Werbung für Zigaretten machen, kritzeln vielleicht Cowboys und Pferde. Jene dagegen, die einen  Deodorant bewerben, sicher gut aussehende Bikini-Mädchen im Sex-Rausch. Es geht eben nicht nur um das Mehr-oder-Weniger. Es geht nicht um Mit-oder-Ohne-Filter und nicht einmal um Neuer-und-Besser. Es geht vor allem um Freiheit, Spaß und Abenteuer, um Begehren und das Gefühl, begehrt zu werden.

Und bestimmt noch um vielmehr – nach gerade mal 4 Wochen Praktikum.

 

Bilder: Scholz&Friends Logo, Copyright Scholz&Friends; Eingangsfassade, Copyright Nicolai Busch; Creativity, von flickr.com/Mediocre2010 (CC BY 2.0)

Kultur im Netz – Ein Spannungsfeld: Wer hat Angst vorm Slender Man?

von Stefan Reuter

Immer mehr Quellen im Netz berichten von einem Furcht einflößenden, gesichtslosen Anzugträger, dessen Opfer spurlos verschwinden – oder auf grausame Weise ums Leben kommen. Der sogenannte „Slender Man“ ist eine urbane Legende, entstanden im Internet. Er ist auf dem besten Weg, eine moderne Mythenfigur zu werden. Teil I – Geburt und Aufstieg des Slender Man.

Die Geburt einer urbanen Legende

1986, photographer: Mary Thomas, missing since June 13th, 1986.

Am 10. Juni 2009 veröffentlichte der User Victor Surge zwei Bilder in einem Thread im Forum von somethingaweful.com. Sie sind schwarz-weiß und zeigen Kinder bei einer Wanderung und auf einem Spielplatz. Erst auf den zweiten Blick entdeckt man die seltsame Gestalt, die sich bei beiden im Hintergrund aufhält. Ein Schemen, dem scheinbar Tentakel aus dem Rücken ragen. Über die Herkunft des nebenstehenden Bildes sagt Victor Surge:

One of two recovered photographs from the Stirling City Library blaze. Notable for being taken the day which fourteen children vanished and for what is referred to as „The Slender Man“. Deformities cited as film defects by officials. Fire at library occurred one week later. Actual photograph confiscated as evidence.

Ob ihm klar war, was diese Bilder auslösen würden? Sicher ist: Der ganze Thread war als Gag gedacht, die User sollten von ihnen selbst bearbeitete Fotos hochladen, auf denen gruselige Erscheinungen zu sehen sind. Dennoch entwickelte der Slender Man schnell ein Eigenleben, vielleicht weil Surge durch Bezug auf ein scheinbar wahres Ereignis ein Stück weit Authentizität suggerieren konnte. Gleichzeitig lieferte er mit dem Brand in der Bücherei – auch wenn dieses Ereignis in der Realität nie stattgefunden hat – ein erstes kanonisches Element des Slender Man-Mythos.

Besonders im Bereich der Fanfiction hat der sogenannte „Canon“ einer fiktiven Welt eine wichtige Funktion:

Canon: Bezeichnung für Figuren, Ereignisse, Umstände etc., die „offiziell“ zur jeweiligen fiktiven Welt gehören. Beispiel: Alles, was jemals in einer Star Trek-Episode etabliert wurde, ist „Canon“ und darf von späteren Episoden nicht umgestoßen werden.

Im Fall des Slender Man gibt es keine Serie, oder andere „originale Quelle“, nach denen sich die Arbeiten der Anhänger richten können. Dennoch haben sich einige der „Sichtungen“ als feste Grundlagen des Mythos etabliert und so einen Canon gebildet.

Weitere Geschichten mit Bezug auf ihn wurden nach und nach auf diversen Plattformen veröffentlicht. Sucht man im Netz nach Bildern des Slender-Mans, stößt man früher oder später auf einen Holzstich namens „Der Ritter“. Das Bild zeigt eine skelettartige Gestalt, die einen Ritter mit einem an eine Lanze erinnernden Arm aufspießt. Angeblich stammt es von dem deutschen Künstler Hans Freckenberg aus dem 16. Jahrhundert. Ein früher Beleg für die Existenz des Slender Man?

Nein. Dieses Bild ist eine digitale Bearbeitung eines anderen Holzschnitts – und es hat vermutlich niemals einen Hans Freckenberg gegeben. Dennoch gehört dieses Bild zum kanonischen Material des Mythos. Je mehr sich seine Anhänger kreativ mit der Thematik auseinandersetzten, desto mehr wurde das Wesen in der Menschheitsgeschichte verankert. Beispielsweise wurde dem Slender Man eine Verbindung zu Hitler zugeschrieben oder angebliche Anspielungen auf ihn im Struwwelpeter entdeckt. Der ursprüngliche Original-Mythos erfuhr so einige Veränderungen.

Die Figur des Slender Man hat jetzt schon kulturellen Wert: Sie ist ein Produkt des Internets, eine urbane Legende. Sie wurde geboren und ausgeformt durch unzählige Beiträge von Fans und Amateuren, (bisher) ohne wirklichen Einfluss großer Medienunternehmen. Dabei wird bewusst die Grenze zwischen Realität und Fiktion aufgebrochen.

Die Videobänder des Alex K.

Bereits acht Tage nachdem Victor Surge die Fotos auf somethingaweful.com veröffentlichte, postet ein gewisser „ce gars“, mit Klarnamen Jay, im selben Thread. Sein Freund Alex, ein Filmstudent, gab vor einigen Jahren den Spielfilm Marble Hornets aus heiterem Himmel auf und ist seitdem verschwunden. Zuvor überließ Alex Jay sein bereits gefilmtes Material:

There were tons of them. He grabbed a couple of plastic shopping bags and piled the tapes in and gave them to me, then shooed me out of the attic. Right as I was walking out the door, he said, in the most serious tone I’ve ever heard from someone, „I’m not kidding, don’t ever bring this up around me again.“ Alex’s comment was so sudden that I didn’t have time to react before he had closed the door on me. He transferred to an out of state school soon after that and I haven’t seen him since. I filed the tapes separately from my others, and was honestly too freaked out to look at them at the time, and eventually forgot about them. But reading about the slender man has peaked my interest again. Maybe it’s what Alex was talking about that day.

Jay beginnt die Aufzeichnungen zu sichten und veröffentlicht sie auf einem YouTube-Kanal namens Marble Hornets. Schnell zeigt sich, dass Alex tatsächlich von einem großen Mann im schwarzen Anzug verfolgt wurde, dessen Gesicht nicht zu sehen ist. Je mehr Jay sich mit dem Material auseinandersetzt, desto mehr schlägt es ihm auf die Psyche. Er leidet unter Paranoia und Gedächtnislücken und dokumentiert das ebenfalls auf YouTube und seinem Twitter-Account. Ab Jays neuntem Video veröffentlicht ein weiterer User namens totheark kryptische Antworten auf seine Beiträge. Diese bestehen aus scheinbaren Tonstörungen, seltsamen Symbolen und einzelnen Nachrichten, ein Sinn dahinter ist nicht zu erkennen. Später wird Jay von einer maskierten Gestalt angegriffen, vermutlich handelt es sich um totheark.

Die Geschichte wirkt real: Sie ist im Internet kommuniziert, wie Millionen von Internetnutzern täglich mit der Welt in Kontakt treten. Allerdings zeigt sich bald, dass sie der Beginn einer fiktiven Erzählung ist – getarnt als wahre Begebenheit.

Marble Hornets ist ein Alternate Reality Game (ARG), ein Spiel mit Realität und Fiktion, ausgetragen im das Internet. Die Macher, Troy und Joseph, zwei Jungs aus den USA, griffen die damals vollkommen neue Figur des Slender Man auf und nutzten sie als Grundlage für ein mutiges Projekt. Es veredeutlicht, wie Amateure im digitalen Zeitalter selber zu Produzenten werden können. Sie machen sich die Möglichkeiten des Internets zu Nutzen, um eine Geschichte zu erzählen, deren Machart bewusst auf Authentizität abzielt. Doch das ist erst der Anfang: Der Slender Man und Marble Hornets sind interessante Beispiele für die Produktion von Kultur im Netz.

Im zweiten Teil von „Wer hat Angst vorm Slender Man?“ geht es um die Vorbilder von Marble Hornets und darum, wie weit der Slender Man seine Tentakel noch ausgestreckt hat.

Fotos: Victor Surge im Foum von somethingaweful.com (Thread: Create Paranormal Images, S. 3), flickr/bearstache (CC BY-SA 2.0)

"Wer rettet Dina Foxx?" im Netz

ZDF erneut auf crossmedialen Pfaden

von Pascal Thiel

Im letzten Moment konnte Dina Foxx im Jahr 2011 gerettet werden. Doch das ZDF bringt seine Heldin erneut in Gefahr. Wieder geht der, im Volksmund als „Rentnerfernsehen“ verspottete, Sender crossmediale Wege: Das erfolgreiche Projekt „Wer rettet Dina Foxx?“ soll fortgeführt werden. Für die Medienwissenschaft in Foxx interessant: Sie ist ein großes Konglomerat aktueller medienwissenschaftlicher Ideen.

Wer..?

Dina Foxx ist Protagonistin eines crossmedialen Projekts vom ZDF namens „Wer rettet Dina Foxx?“– entstanden in einer Kooperation der „ZDF-Zentralredaktion Neue Medien“ mit „Das kleine Fernsehspiel“, Teamworx und dem UFA Lab.

"Wer rettet Dina Foxx?" im Netz

In einem TV-Krimi werden die Zuschauer Zeugen einer Verschwörung gegen Dina, gespielt von Jessica Richter. Als „datagirl“ klärt sie im Auftrag der Organisation freidaten.org die Menschen über die Gefahren staatlicher und wirtschaftlicher Datensammlung auf. Doch ihr Leben gerät völlig aus den Fugen, als sie verdächtigt wird, ihren Ex-Freund umgebracht zu haben. Unter mysteriösen Umständen starb dieser kurz nachdem er sich von Dina getrennt hatte. Sie beginnt selbst zu ermitteln, doch schnell wird sie festgenommen. Bis dato sind 50 Minuten vergangen – völlig unerwartet bricht der Film dann ab. Nun müssen die Zuschauer selber ran: Mit einer Meldung werden die Zuschauer aufgefordert, Dina zu helfen, den wahren Mörder zu finden. So werden aus Zuschauern Ermittler, die, ausgehend vom TV, auf verschiedenen medialen Plattformen interagieren.

Medienwissenschaftliche Relevanz

Aus medienwissenschaftlicher Sicht liegt das Besondere bei „Wer rettet Dina Foxx?“ in der Kombination mehrerer medialer „Elemente“ in einem Projekt.

Neben den Besonderheiten der einzelnen Teilbereiche (Pre-TV-, TV- und Post-TV-Phase) erfolgt die Handlungsdarstellung über mehrere Medien hinweg: Man spricht von „transmedia storytelling“. In seinem Buch „Convergence Culture – Where old and new media collide“ aus dem Jahre 2006 beschreibt der MIT-Professor Henry Jenkins, dass transmediale Erzählungen „unfold across multiple media platforms, with each new text making a distinctive and valuable contribution to the whole.“. Bei „Wer rettet Dina Foxx?“ sind zum Beispiel das Fernsehen, Internetseiten, Blogs, Social Media, Video Channels – sogar unsere Realität.

Betrachtet man die Besonderheiten der Teilbereiche, so ist zum Beispiel das „virale Marketing“ zu nennen – ein Begriff aus der Werbeforschung. Jiesi Cheng, Aaron Sun and Daniel Zeng (2010) beschreiben virales Marketing als „a new interpretation of WOM-advertising in the internet era.“ WOM (word-of-mouth) advertising bezieht sich laut der drei Wissenschaftlern wiederum auf die „informal communication between two or more persons concerning a product or service on a non-commercial basis“. Vereinfacht kann man unter viralem also Marketing das „Weitersagen“ oder „Weiterempfehlen“ von Produkten, Marken etc. verstehen.

Und genau diesem Phänomen bediente sich das ZDF bei „Wer rettet Dina Foxx?“. Im Vorfeld der Ausstrahlung des Films (in der Pre-TV-Phase) wurden alle Charaktere in Social Media und Blogs wie richtige Personen etabliert, diverse Internetseiten bereiteten die Handlung vor. Außerdem führte die fiktive Datenschutzorganisation „freidaten.org“ sogenannte „Guerilla-Marketing-Aktionen“ durch, um über die fiktive Organisation auf das Projekt aufmerksam zu machen.

Guerilla-Marketing – ein weiteres Element aus der Werbeforschung – umfasst laut Katharina Hutter und Stefan Hoffmann (2011) „verschiedene kommunikationspolitische Instrumente, die darauf abzielen, mit vergleichsweise geringen Kosten bei einer möglichst großen Anzahl von Personen einen Überraschungseffekt zu erzielen, um so einen sehr hohen Guerilla-Effekt (Verhältnis von Werbenutzen und -kosten) zu erzielen.“

In der TV-Phase folgte die fünfzigminütige Ausstrahlung des Films. Unmittelbar danach begann in der Post-TV-Phase das bisher wohl umfassendste „Alternate-Reality-Game“, das Deutschland je gesehen hatte. Alternate-Reality-Games (ARG) „leave clues for potential players to follow: a subtle image on a poster, perhaps, or a cryptic message on a website. Fans must piece together the narrative – that’s the “alternate reality” – on their own“, so „The Economist“.

Bei „Wer rettet Dina Foxx?“ konnten sich die ermittelnden User über eine Homepage täglich durch die Videobotschaft eines Freundes von Dina über den „aktuellen Stand der Ermittlungen“ informieren und „live“ in Dinas Zimmer ermitteln. Zudem waren auf freidaten.org jeden Tag neue knifflige Aufgaben zu lösen, um weitere Details an die Oberfläche zu bringen, über Live-Interaktionen konnten die „Ermittler“ aktiv in das Geschehen eingreifen und kamen nach einem Geocaching-Event schließlich ans Ziel: Der Mörder war gefunden.

Fortsetzung folgt…!

Insgesamt wurden für die Internet-Phase 60 Video-Clips, 30 Audio-Clips, 20 fiktive Internetseiten, 30 Social Media-Profile produziert. Gerechtfertigt wurde der gewaltige Aufwand durch den immensen Erfolg: 2 Mio. Seitenabrufe, etwa 200.000 Videosichtungen und 14.000 Kommentare sprechen eine deutliche Sprache.

Auszeichnungen folgten prompt: Beim BANFF World Media Festival gewann das ZDF den Preis für die beste crossmediale Plattform und den „Best Interactive Award“, außerdem den UFA Innovation Award 2011 und Gold beim Annual Multimedia Award 2012 – um nur einige zu nennen.

Da ist es einleuchtend, wenn die Chefredakteurin des „Kleinen Fernsehspiels“ Mitte 2012 eine
Fortsetzung bekannt gibt. Dies bestätigt auch Burkhard Althoff, ihr Stellvertreter, gegenüber media-bubble.de: „Wir befinden uns mitten in der Entwicklung“. Konkrete Details über die Fortsetzung wollte er nicht nennen, jedoch werde ein Aspekt des Projekts sein, die „Zuschauer überraschen [zu] wollen.“ Man darf gespannt sein.

Bilder: Screenshot von dinafoxx.zdf.de (Stand: 31.08.12), Screenshot von freidaten.org (Stand: 31.08.12)

Kaviar statt Fast-Food: Quality-TV

von Alexander Karl

Es war einmal vor langer, langer Zeit, da schaute man Serien einfach mal nebenbei. Beim Bügeln, stummgeschaltet beim Telefonieren, zum Einschlafen. Heute ist das anders: Quality-TV-Serien ziehen den Zuschauer förmlich in ihren Bann und lassen keinen Platz für eine andere Beschäftigung.

Die neue Serienwelt

Die beste und härteste Serie der Welt?“ fragt bild.de und meint damit The Wire. Von 2002 bis 2008 entstand der Epos, der düstere Einblicke in das Leben in Baltimore ermöglicht: So werden etwa zu Beginn der ersten Staffel Drogendelikte abwechselnd aus den Augen der Polizei, dann wieder der Drogendealer erzählt. Klingt nicht sonderlich spannend? Das finden die Kritiker von bild.de bis zum Guardian nicht – sie loben die Serie in den höchsten Tönen. Denn was bild.de mit einem Fragezeichen ziert, wird bei anderen Medien fast schon mit einem Ausrufezeichen versehen. Auf dem TV-und Radio-Blog des Guardian werden neun Gründe genannt, warum The Wire „the greatest ever television drama“ ist und Schauspieler, Autoren, na ja, eigentlich alles, überschwänglich gelobt. Und auch die FAZ ist von The Wire fasziniert: „Kein Roman hat mich so beschäftigt wie „The Wire“ – das ist auch so zu verstehen: „The Wire“ ist ein Roman. Einer der besten.“

Trotz des (deutschen) Kritikerlobs werden hochwertige Serien in der deutschen Free-TV-Fernsehlandschaft stiefmütterlich behandelt. Ja, vereinzelt finden sie ihren Weg ins deutsche TV, vornehmlich bei Privatsendern. Vereinzelt meint aber in diesem Fall: Sehr selten. So fragte die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung im Jahr 2010 – also zwei Jahre, nachdem The Wire abgedreht wurde – bei den deutschen Free-TV-Sendern nach, warum die Serie nicht hierzulande läuft oder lief. Ergebnis: Dem Zuschauer gefällt’s nicht – vermutet man zumindest bei den Sendern. Einzig das ZDF hatte überlegt, die Serie in den Programmkanon aufzunehmen – und ließ es schlussendlich bleiben. Hierzulande setzt man bei den US-Importen dann doch lieber auf Comedy (wie etwa How I met your mother, Two and a half men) oder klassische Polizei-Serien wie der CSI-Reihe.

Ob die Quality-TV-Serien dem deutschen Konsumenten allgemein nicht schmecken, darf aber bezweifelt werden – denn als DVDs werden sie gekauft und sicherlich auch online konsumiert. Die Free-TV-Tauglichkeit ist tatsächlich noch eine andere Frage, denn auch die in Deutschland komplett ausgestrahlte Serie Lost verschwand von ihrem vormaligen 20.15 Uhr-Sendeplatz auf Pro7 zunehmend in den späten Abend – und wurde schlussendlich aufgrund stetig sinkender Quoten an kabel eins weitergereicht.

Serien und Wissenschaft

The Wire, Mad Men, Six feet under, Lost, Breaking Bad – diese Serien werden gerne als Quality TV bezeichnet, also qualitativ hochwertig gestaltete Serien, die eigentlich mehr sind als ihre Genrezugehörigkeit erwarten lässt. Diese Serien erzählen nicht nur fesselnd, sie spielen mit dem Rezipienten, schüren seine Aufmerksamkeit – und sind von Interesse für die Wissenschaft. In ihrem Aufsatz über Quality TV beschreibt Jane Feuer am Beispiel der Serie Six feet under, was solche Serien ausmacht. Sie sieht die neuen TV-Lieblinge in der Tradition des europäischen art cinema und des Theaters, weist auf die hohe Bedeutung von Musik und die Transzendenz zwischen Traum und Realität hin, was gerade auch den Charme von Six feet under ausmacht – und vieles mehr.

Vereinfacht ausgedrückt: Quality-TV-Serien sind mit oftmals filmähnlichem Aufwand gestaltete Serien, die hintergründiger, fesselnder und nachdenklicher sind, als man es sonst von Telenovelas, Soaps und anderen Serien kennt. Eben keine leichte Kost, keine Nebenbei-Berieselung.

Genau deshalb verwundern aber hochwertige Serien wie Six feet under oder The Wire im ersten Moment, verstören vielleicht sogar: In der Fast-Food-Serienwelt ist kein Platz für lange Entwicklungen der Charaktere oder Mehrdimensionalität. Sicher ist: Der Konsument muss sich umgewöhnen. Und: Ihm muss der Kaviar schmackhaft gemacht werden, auch wenn er anstregend zu löffeln sein mag. Kleine Hinweise, Anspielungen, Metaphern und Querverweise, die für die weitere Handlung wichtig sind, sorgen dafür, dass man genau zuhören und aufpassen muss.

Zudem gibt es viel zu interpretieren, egal ob auf medienwissenschaftlicher oder soziologischer Ebene. Dem trägt seit März 2012 auch der diaphanes Verlag Rechnung, der mit seiner booklet-Reihe nach eigenen Aussagen das nachliefert, „was in den DVD-Boxen fehlt: Lektüren zur Serie.“ Die Essays über The Sopranos, The Wire und The West Wing machen deutlich, dass es sich lohnt, über Serien nachzudenken. Dem Filmkritiker Daniel Eschkötter etwa gelingt es, dem The Wire-Fan einen Blick hinter die Kulisse zu ermöglichen, zu zeigen, wie etwa Montagetechniken zwischen Bewegtbild, Überwachungsvideos und Fotos verwendet werden, um The Wire als Epos zu inszenieren. Querverweise zwischen den anderen Serien des The Wire-Autors David Simon werden aufgezeigt und mit Hintergrundwissen in einen Kontext gesetzt, der deutlich macht, dass diese Serie nicht am Reißbrett entstanden ist, sondern vielmehr ein eigener Kanon – oder „Visual novel“, wie Simon es nennt – ist. Denn die booklet-Reihe zeigt auch: Längst ist der Zuschauer einer Serie nicht nur Fan und Konsument, sondern Interpretierer einer Welt, die er nicht geschaffen hat, aber in der er sich auskennt oder auskennen möchte wie in seiner Westentasche.

Serien sind – und das zeigt nicht zuletzt die booklet-Reihe – längst kein kurzlebiges Konsumgut einer Wegwerfgesellschaft mehr, sonden durch die hochwertige Produktion ein qualitativ anspruchsvolles Medium, das Aufmerksamkeit verdient. Und sie auch bekommt.

Fotos: Tita Totaltoll / photocase.com, kaibieler / photocase.com