KLARTEXT: Was nun? Die Publikumsforschung am Scheideweg

von Pascal Thiel

Die Publikumsforschung ist am Scheideweg – zumindest, wenn man Sonia Livingstone Glauben schenkt. 1998 erschien ihr wissenschaftlicher Artikel „Audience research at the crossroads – The implied audience in media and cultural theory“, im European Journal of Cultural Studies. Dort warnt die international renommierte Kommunikationswissenschaftlerin vor einer negativen Entwicklung der Publikumsforschung.

Zur Autorin

Sonia Livingstone ist Professorin für Sozialpsychologie am Departement of Media and Communications der London School of Economics and Political Science. Zudem hat sie Gastlehrstühle in Kopenhagen, Stockholm, Bergen, Illinois, Mailand und an der Universität Panthéon-Assas in Paris. 17 Bücher und weit über 100 wissenschaftliche Artikel hat Livingstone in ihrer Karriere bereits publiziert. 2007 bis 2008 war sie Präsidentin der International Communication Association (ICA).

Sonia Livingstone hat sich mit einer weiten Palette kommunikationswissenschaftlicher Forschungsgebiete befasst. Zentral sind etwa ihre Untersuchungen der Beziehungen von Kindern und Jugendlichen zum Internet, Forschungen zu Internetnutzung und -politik und schließlich mediale Publika.

Mediale Publika

Sonia Livingstone schreibt medialen Publika eine zentrale gesellschaftliche Bedeutung zu. Jedoch muss im Voraus auf eine wichtige Voraussetzung der Bildung medialer Publika hingewiesen werden: die Massenkommunikation. Sie ermöglicht zum Ersten, so Livingstone, entgegen dem Begriff der Massenkommunikation durch Maletzke, Interaktion und Teilhabe, zum Zweiten schafft sie gesellschaftliche Bedeutungen. Zum Dritten erzeugt sie, daraus resultierend,  mediale Publika.

Die zentrale gesellschaftliche Bedeutung medialer Publika resultiert nun aus der Tatsache, dass die Positionierung, also der Status der Personen in medialen Publika, ihre Teilhabe und  Teilnahme and der Gesellschaft bestimmt. Konkret bedeutet das: Je mehr eine Person medial interagiert, desto besser ist sie in mediale Publika und somit in die Gesellschaft eingebunden.

Sonia Livingstone spricht häufig von dem „implied audience“. Darunter ist kein reales Publikum, sondern eher eine theoretische Konzeption eines Publikums zu verstehen, die als Rezipient medialer Texte und Codes vorausgesetzt wird.

Die Publikumsforschung

Die Publikumsforschung interessiert sich nach Glogner-Pilz (2012) für ein weites Spektrum publikumsrelevanter Fragen. Etwa für die soziodemografische und -ökonomische Zusammensetzung von Publika, für einstellungs-, motiv- und wirkungsbezogene Fragestellungen oder (statistische) verhaltensbezogene Daten.

In den letzten 50 Jahren erlebte sie einen wahren Hype. Als neue kommunikationswissenschaftliche Ideen um 1960 das einseitige Stimulus-Response-Modell der Massenkommunikation allmählich verdrängten, ahnte wohl noch keiner der beteiligten Forscher, welch beispiellose Entwicklung dieses noch so kleine, unbedeutende Forschungsgebiet machen würde.

Insbesondere in den letzten 20 Jahren hat sich die Publikumsforschung in ein breit gefächertes Forschungsfeld verwandelt. Bezogen auf die theoretische Vielfalt hat sie eine gewaltige theoretische Ausdifferenzierung hinter sich. Zugleich etablierte sie sich als anerkannte wissenschaftliche Disziplin.

Die Probleme

Doch gerade letzteres – so Livingstone – habe in den letzten Jahren zu einer weiteren, jedoch verhängnisvollen, Entwicklung geführt. Die wissenschaftliche Etablierung der Publikumsforschung habe der theoretischen Ausdifferenzierung entgegengewirkt. Die Folge: eine kanonische Publikumsforschung.

Zu der schwindenden theoretischen Vielfalt komme ein weiteres Problem hinzu: In vielen Forschungsgebieten außerhalb der Kommunikationswissenschaft sei nach wie vor ein reges wissenschaftliches Interesse am Publikum zu erkennen. Jedoch seien hier keine Publikumsforscher, sondern andere disziplinexterne Forscher am Werk. Die Gefahr ist eindeutig: Kann die Publikumsforschung diese externe Forschung an Publika nicht in sich integrieren, ist eine Fragmentierung der Publikumsforschung unausweichlich.

Hier kommt der Begriff des „Scheidewegs“ ins Spiel: Über die Grenzen wissenschaftlicher Disziplinen hinweg, scheint man sich verstärkt mit dem Thema „Publika“ zu befassen, die eigentliche Publikumsforschung jedoch sieht sich mit ihrem drohenden Untergang konfrontiert.

Ein Beispiel: Die Cultural Studies

Wie oben erwähnt, greifen viele Forschungsdisziplinen das Thema „Publika“ mit ihren eigenen Forschungsinteressen auf. So auch die Cultural Studies.

Ende der 1980er Jahre entdeckte man in der Kultur die Gewöhnlichkeit. Von da an interessierten sich die Cultural Studies für das alltägliche (gewöhnliche) Leben der Menschen – die Alltagskultur ward geboren. Man fand heraus, dass dominante Kulturen existieren, die andere Kulturen marginalisieren. Man kann sie als Prozesse verstehen, die bestimmte – dominante – Ansichtsweisen anderen vorziehen.

Nun nahm man die Zutat „Publika“ hinzu – zwei Fragen ergaben sich: Wie reagieren gewöhnliche Nutzer auf gewöhnliche Medientexte? Und: Wie äußert sich dieses gewöhnliche Antwortverhalten in Bezug auf bestimmte Prozesse der gesellschaftlichen Bedeutungskonstitution?

Und wieder war eine neue „externe“ Publikumsforschung entstanden.

Doch bald stieß sie an ihre Grenzen: So interessant die Fragen auch sein mochten, so schwer fiel ihre Beantwortung. Zur Schwierigkeit der schwach eingegrenzten, sehr offenen Fragestellung gesellte sich das Problem des Fehlens eines kohärenten Theorierahmens zur angemessenen Interpretation der Antworten.

Was nun?

Auch um solch Fehlentwicklungen zu vermeiden, fordert Sonia Livingstone eine Verstärkung der Beziehungen und des Austauschs zwischen Publikumsforschung  und Cultural Studies sowie Medienwissenschaft. Gleichzeitig – dies wird im Folgenden dargestellt – dürfe man aber unter keinen Umständen Ansätze von Politischer, Technologie-, Wirtschafts- und Sozialer Theorie vernachlässigen.

Das aktive Publikum

Scheidewege sind oft negativ konnotiert. Sie sind verbunden mit Sätzen wie „Wie konnte es nur so weit kommen?“ oder „Wie sind wir nur hier gelandet?“. Doch Scheidewege stellen auch eine letzte Chance dar, einen neuen Weg zu beschreiten.

Dies, so Sonia Livingstone, habe die Publikumsforschung bereits getan. Die Publikumsforscher haben sich vom alten Stimulus-Response-Paradigma ab- und neuen Ideen zugewandt. Theorien medialer Inhalte mit starren Bedeutungen, die linear auf ein passiv-rezipierendes, einheitliches Massenpublikum treffen und absehbare Wirkungen erzeugen, sind Geschichte.

Ein Publikum bestehe nun aus pluralen, kulturabhängig dekodierenden, aktiven Rezipienten. Unter Berufung auf Silverstone (1990) beschreibt Livingstone dieses neue Publikum als „Dreh- und Angelpunkt“ für das Verständnis sozialer und kultureller Prozesse öffentlicher Kommunikation.

Annäherung an Soziale und Politische Theorie

Wissenschaftstheoretisch stellt sich weiterhin die Frage, wie die Publikumsforschung auf die gegenwärtigen negativen Entwicklungen reagieren kann.

Alexander & Jacobs (1998) fordern, die Publikumsforschung näher mit Sozialer und Politischer Theorie zusammenzubringen. Dazu müssten sich aber auch Sozial- und Politische Theorie neuen Ideen öffnen. Konkret sprechen sie von einer Loslösung der Fixierung auf Macht und Entscheidungsfindung als primäre regulative Prozesse hin zu einer Öffnung gegenüber des Aspekts der öffentlichen Debatte, sprich Publika.

Alexander & Jacobs unterstreichen ihre Haltung mit dem Argument, dass die Gesellschaft nicht nur durch ihre Beziehungen zu Staat und Wirtschaft, sondern auch durch die „erfinderische Konstruktion kollektiver Identitäten und Solidaritäten“ konstituiert werde.

Sie sprechen sich gegen die Vorstellung von Medien als bloßem Informationskanal für ein einheitlich rezipierendes Publikum aus. Alexander & Jacobs sprechen von polysemantischen Texten, die unter heterogenen, interessierten Öffentlichkeiten verbreitet werden. Der Einfluss der Menschen, ihre Identitäten und Solidaritäten werden, wie eingangs schon einmal dargestellt, von den Medien, der Teilnahme an der Massenkommunikation bestimmt.

Nur durch diesen Schritt könne eine engere Verbindung und wissenschaftliche Kooperation zwischen Publikumsforschung und Sozialer bzw. Politischer Theorie gelingen.

Das Mikro-Makro-Problem

Zu guter Letzt sei zur Genese der Publikumsforschung ein weiterer Schritt essentiell: Das Überdenken der Beziehungen zwischen Ansätzen der Mikro- und der Makro-Ebene.

Das Publikum als „social and cultural object within the complex reality of everydays life“ spiele auf beiden Analyseebenen eine wichtige Rolle, denn es sei „embedded both in the macro-environment of political economy and in the micro-world of domestic and daily existence“ (Silverstone 1990: 174). Auch bei dieser neuen Reflexion sei die Annäherung der Publikumsforschung, Sozial- und Kulturtheorie ein wichtiges Ziel.

Fazit der Autorin

„There are several things one can do at a crossroads. One is to look back. […] Another possibility is to look forward, even it seems that the problems […] seem insurmountable. But it is also possible to sit and rest awhile, for a little reflection […], the problems may prove manageable after all. If audience researcher want anyone else to notice their journey […] then a pause for reflection may be the best option for the moment“ (Livingstone, 1998, p. 211).

 

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Bilder: flickr/go.goflo (CC BY-NC-ND 2.0); flickr/11335395@N06 (CC BY-ND 2.0)

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