KLARTEXT: Film als Kunstform? Béla Balázs und die frühe Theorie des Films

ein Gastbeitrag von Daniele Martella 

Dass der Film heutzutage als Kunstform etabliert ist, steht außer Frage. Die Pioniere früher Filmtheorien aber mussten um den Status Kunst mit aller Härte kämpfen. Dabei stellen sich noch heute aktuelle Fragen: Was ist das eigentlich Kunsthafte am Film und wie unterscheidet er sich von anderen Disziplinen? Auf den Spuren des frühen Filmtheoretikers Béla Balázs finden sich Antworten…

Cinephilie: Die Liebe zum Kino

Samstagabend, man betritt mit Freunden die altbekannte Eingangshalle und bewegt sich instinktiv an den Ticketschalter, wo eine leger gekleidete Person bereits routiniert auf nur zwei Informationen wartet: „Welcher Film und wie viele Personen?“ Die Tickets in der Hand, geht es dann der Nase nach zum Popcorn-Schalter.  Einen Blick auf die Platzkarte und nur wenige Minuten später sitzt man in einem gemütlichen Sessel inmitten eines abgedunkelten Saales. Die einzige Lichtquelle ist eine angestrahlte Leinwand, der sich nun alle Blicke erwartungsvoll zuwenden. Es sind nämlich die Lichtspiele auf genau diesem Flecken, die die Zuschauer für die nächsten zwei, drei Stunden in ihren Bann ziehen werden. Es geht um das Erzählen einer Geschichte. Zwar wäre diese in Worten meist sehr schnell erzählt, aber es geht hier um etwas anderes:

Das  Wie?

Nämlich genau um das, was den Film und das Kino, so Béla Balázs, letztlich zur eigenständigen Kunstform mache: Es ginge um das Wie?. Genauer: Wie werden der eigentliche Inhalt und das Anliegen der Erzählung rübergebracht? Die Frage zum Verhältnis zwischen Form und Inhalt spielt also auch hier, wie in jeder anderen Kunst auch, eine bedeutende Rolle. Was das  Wie? des Filmes betrifft, so sind es u.a. das fast mystische Zusammenspiel von Licht und Schatten, die charakteristischen Zusammensetzungen und die Bezüge von Gegenständen und Erscheinungsformen innerhalb eines filmischen Raumes, die eine einzigartige Atmosphäre schafften. Mehr aber noch sei es die Physiognomie der Schauspieler, deren Gesichter zu autonomen und variablen Ausdrucksflächen würden, die oft nonverbal Auskunft gäben über mehrere, sich prozesshaft überlappende, innere Zustände. Balázs nennt dies Gefühlakkorde. Das Gesicht in der Großaufnahme wird im Film somit das Haupterzählinstrument; es ist der eigentliche Semaphor, der Zeichengeber, der eine Antwort auf das wie wird der Inhalt erzählt? gibt. Wir können diese Zeichen nicht nur lesen und deuten, sondern, wie die moderne Forschung zeigt, durch sogenannte Spiegelneuronen nachfühlen.

Es werde Ton!

Bezieht sich Balázs in den 20er Jahren noch auf den Stummfilm, so kommen heute noch weitere Faktoren, wie gesprochene Dialoge, genauestens komponierte und inszenierte Filmmusik und atmosphärische Klanggebäude hinzu. Das Kino wird somit zum multimodalen, innerlichen Ereignis und fasziniert uns deshalb immer wieder aufs Neue.

Dass die Kunstartigkeit des Films in Frage stehen könnte, ist für unsere Gesellschaft, in der Film heute Alltag ist und in der wir jährlich unzählige Filmpreise vergeben und fördern, undenkbar. Dass es in der Kunstform Film allerdings auch nach wie vor viel Trash gibt, wiederspricht dem grundsätzlichen Charakter nicht.

Ein ideologischer Kampf

Der 1884 in Ungarn geborene Filmgelehrte Béla Balázs führte 1924 mit dem Erscheinen seines Werkes „Der sichtbare Mensch“ noch einen regelrecht ideologischen Kampf gegen die damals rückwärtsgewandten Hüter der klassischen Kunstformen, wie zum Beispiel Literatur, Theater, Bildhauerei und Malerei. Er wollte den Film als gleichwertige, aber andersartige Kunst neben den Bestehenden definieren. Es verwundert daher nicht, dass Balázs in seinem Werk eine der ersten umfassenden Filmtheorien entwickelt. Der Film galt zu jener Zeit zwar als ein Sozialphänomen, jedoch ordnete man ihn in qualitativer Hinsicht eher den flachen  Unterhaltungsformen zu; er war noch nicht etabliert. Film als Zeitvertreib: ja; aber ein wortgewaltiger Goethe, Schiller oder Hesse war zum Film konkurrenzlos. Dabei, so Balázs, erzählten auch die Klassiker der Literatur für sich genommen ebenso relativ einfache Geschichten. Was diese so einzigartig mache, sei ebenfalls nur die Frage nach dem Wie?. Die  Zusammenführung der Worte und ihren Sinnkonstruktionen in Versen und Reimformen ergäben, wie die Komposition eines Filmes, einen emotional-erzählerischen Gesamteindruck. Prinzipiell hätten Literatur und Kino also ein ähnliches Anliegen: eine Art Poetisierung der Wirklichkeit nur mit jeweils anderen Mitteln. Dies eben mache sie beide zu wertreichen Kunstformen.

Body Talk

Die Literatur versage im Gegensatz zum Film aber an einem entscheidenden Punkt: Sie sei köperfeindlich. Die Reduktion der relevanten Seelenteile auf das Geistige nehme ihren Anfang bei Platon und setze sich sodann mit dem Buchdruck bis in die moderne Welt fort. Das Wort, so zugespitzt, vergewaltigte den Körper, wodurch wir die Sprache des Körpers in der zivilisierten Welt schon längst verlernt hätten, argumentiert Balázs. Der Film gäbe uns im Erlernen dieser Sprache Nachhilfe. Einer Sprache, die wir heute, wenn wir mal wieder einen Kinoabend mit Freunden erleben, wieder kennen dürften.

 

Rahmendaten:

Béla Balázs

1884 (Szegedin) – 1949 (Budapest)

Balázs, Béla (2001): Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films, Suhrkamp Verlag: FFM.

 

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Bilder: upload.wikimedia/Sipos_András (CC-BY-SA-3.0); flickr/kjano (CC BY-NC-ND 2.0)

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