Die zwölf Geschworenen

von Felix Niedrich

Ein Mann gilt solange als unschuldig, bis seine Schuld bewiesen wurde. Dieses Grundprinzip der Rechtsprechung räumt einem mutmaßlichen Verbrecher einen Vertrauensvorschuss ein. Die Wahrheit, oder hier: den wahren Ablauf einer Tat, zu rekonstruieren ist nicht einfach. Im Zweifel wird für den Angeklagten entschieden. In manchen Fällen kann das Leben retten.
In Sidney Lumets Klassiker „Die 12 Geschworenen“ von 1957 ist ein junger Mann des Mordes an seinem Vater angeklagt. Darauf steht die Todesstrafe. Im Amerikanischen Gerichtssystem entscheidet nicht der Richter, sondern die Jury. Nun müssen diese Zwölf das Urteil fällen: schuldig oder nicht schuldig? Für elf von ihnen steht die Sache schnell fest. Aber ist die Beweislage wirklich so eindeutig? Nur einer der Geschworenen ist anderer Meinung.

 

Ich weiß, dass ich nichts weiß

Am heißesten Tag des Jahres kochen die Gemüter im Geschworenensaal hoch, als sich einer der Geschworenen, gespielt von Henry Fonda, nicht der Mehrheitsmeinung anschließt. Denn für eine Verurteilung ist eine Übereinstimmung aller Geschworenen notwendig. Fondas Figur verkörpert den Zweifel und die Unklarheit. Bereits im Gerichtssaal, der nur kurz am Ende der Verhandlung gezeigt wird, werden seine Zweifel in Mimik und Gestik ersichtlich. Zu Beginn der anschließenden Beratung sieht er nachdenklich aus dem Fenster und muss sogar extra aufgefordert werden, während sich die anderen Geschworenen bereits gesetzt haben.
Zunächst verhält er sich ruhig und defensiv. Aber als die erste Abstimmung mit elf zu eins Stimmen gegen ihn ausfällt, muss er seine Position erläutern. Der Kern seines Standpunktes ist dabei nicht, zu zeigen, was seiner Meinung nach passiert ist. Er will ihnen klar machen, was alles unklar ist. Er wisse nicht, was die Wahrheit ist und behaupte nicht, dass der Junge unschuldig sei. Er sei sich aber nicht sicher. „Ich weiß genau so viel wie Sie alle“, meint er.
Das eigentliche Ereignis hat er nicht miterlebt, genauso wenig wie der Zuschauer. Anders als in „Rashomon“ macht sich der Film gar nicht die Mühe, die Tat darzustellen. Genau wie die Geschworenen weiß der Zuschauer nicht, was wirklich passiert ist und hört nur aufgrund der Beweislage, was passiert sein könnte. Genau deshalb wird der Tathergang nicht visualisiert.

Als Fonda die Diskussion fordert, wird schnell klar, dass einige der Geschworenen keinerlei Interesse haben ihre Zeit dafür aufzuwenden. Aber schließlich hängt ein Menschenleben davon ab. So fragt Fonda immer wieder: Was, wenn sich die Geschworenen und die Zeugen irren?

 

Wahrheit, Indizien und Spekulationen

Die Wahrheit ist nicht das Ziel des Geschworenen oder des Films. Vielmehr ist die Tatsache, dass niemand die Wahrheit kennt, der entscheidende Punkt, der ihm einen Vorteil bringt. Von diesem Punkt versucht er, die anderen zu überzeugen. Seine Worte wählt er dabei mit Bedacht und wechselt auch oft in den Konjunktiv, wenn er seine Vermutungen äußert.

Schon bei den ersten Erklärungsversuchen der anderen Geschworenen wird klar, dass sie sich ihrer Sache nicht immer sicher sind und ihre Position nicht immer hinreichend begründen können.

Im Verlauf der Diskussion greift Fonda die Argumente der einzelnen Personen immer wieder auf und verwendet sie gegen sie. Wird der Angeklagte beispielsweise als „geborener Lügner aus den Slums“ bezeichnet, dem man nicht trauen kann, dann muss dies auch für die Zeugen gelten, die aus denselben Vierteln stammen und ihn mit ihrer Aussage belasten. Selbst einer der Geschworenen kommt aus derselben Gegend. Es stellt sich heraus, dass bei der Beurteilung Vorurteile und persönliche Einstellungen und Dispositionen herangezogen werden. Auch die schlichte Unlust und Ungeduld, sich stundenlang in dem engen Geschworenensaal mit dem Fall zu beschäftigen und sich mit Fremden auseinanderzusetzen, beeinflussen das Urteilsvermögen.

Doch Fonda besteht darauf, weiterzumachen. Er verlangt eine zweite, geheime Abstimmung, um den sozialen Druck, sich einer Mehrheit gegenüber zu sehen, außer Kraft zu setzen. So gewinnt er einen ersten Verbündeten.

Die Indizien und Zeugenaussagen sprechen anfangs gegen den Angeklagten. Aber Fonda gibt sich nicht zufrieden und stellt ein Fakt nach dem anderen auf die Probe und entkräftet dabei immer wieder zuvor als sicher geglaubte Aussagen. Er nagelt die anderen wiederholt darauf fest, was sie nicht sicher wissen und provoziert immer wieder emotionale Reaktionen, die die anderen zu Fehlern in ihrer Argumentation verleiten. Hin und wieder verdrehen sie dabei den Sinn ihrer eigenen Worte ins Gegenteil. Das sei doch keine exakte Wissenschaft, heißt es bald.  Genau das ist, was Fonda hören will. Nach und nach wechseln die Geschworenen die Seiten und erkennen die Zweifel als berechtigt an, bis nur noch einer an die Schuld des Angeklagten glaubt. Als der Druck der anderen zu groß wird, bricht er ein und gibt ungewollt seine Motive preis. Ein persönlicher Konflikt mit seinem eigenen Sohn hat ihn den angeklagten Jungen verurteilen lassen. „Nicht schuldig“ heißt am Ende die Entscheidung.

Das Wahrheitskonzept greift auch hier wieder nicht. Vielmehr findet eine Annäherung von anderer Seite statt. Diese Annährungen sind geprägt von subjektiven Einstellungen und Erfahrungen und gestützt und abhängig von starker Argumentation und Rhetorik. Wahr ist am Ende nur, dass wir nicht wissen, was die Wahrheit eigentlich ist.

Foto: flickr.com/http://underclassrising.net/ (CC BY-SA 2.0)