Die Geschichte einer Lüge – Authentizität in TV-Dokumentationen

Nachdem wir zuletzt fiktionale Serien auf ihre Authentizität hin untersucht haben, widmen wir uns in den folgenden Beiträgen einem Format, von dem generell eine unumstößliche Authentizität erwartet und gefordert wird. Doch wie verhält es sich bei TV-Dokumentationen wirklich? Dazu nehmen wir zunächst den Begriff ‚Authentizität‘ nochmal unter die Lupe und analysieren im Anschluss, wie Dokumentationen diese in Szene setzen.

The road so far…

In den zurückliegenden Artikeln unserer Authentizitäts-Reihe sind wir vor allem der Frage nachgegangen, wie authentisch historische Serien sein können. An dieser Stelle muss ich nur leider gestehen, dass ich euch angelogen habe: Wir haben nicht wirklich untersucht, wie ausgeprägt die Authentizität in diesen Medienformaten ist. Stattdessen lag der Fokus weit mehr darauf, zu überprüfen, ob Rome und Vikings ‚historisch korrekt‘ sind. Hier hat sich im Deutschen ein Sprachgebrauch eingebürgert, der – entgegen dem sonst genauen Charakter unserer Sprache – etwas schwammig ist. Im Englischen werden diese unterschiedlichen Bereiche genauer mit ‚historical accuracy‘ und ‚authenticity‘ umschrieben, während hierzulande ‚Authentizität‘ ein weitaus facettenreicherer Begriff ist und daher in den unterschiedlichsten Bereichen Anwendung findet.

Was ist aber nun Authentizität? – Eine Lüge!

Ich möchte euch keinesfalls enttäuschen und auch keine Vorlage für Clickbait-Titel liefern. Die Forschung ist sich aber einig, dass Authentizität keine feste Eigenschaft ist, dass sie nicht wirklich gefasst, sondern lediglich die „Effekte des Authentischen“ beschrieben und untersucht werden können.

Ihr mögt euch fragen, ob es dann überhaupt Authentizität in Serien und TV-Dokumentationen geben kann, ob diese Beitragsreihe in ihrer Konzeption schon völlig sinnlos ist. Diese Frage muss mit einem Ja und einem Nein beantwortet werden: Im Falle der Serien ist der Begriff im Sinne der englischen Unterscheidung ‚historical accuracy‘ anzuwenden. Nun wollen wir uns aber den TV-Dokumentationen widmen, die den Anspruch haben, die Realität abzubilden, dabei jedoch kläglich scheitern. Dem Technikoptimismus des 19. und frühen 20. Jahrhunderts und der damit verbundenen Idee, die Realität in Fotos und Film einzufangen, wurde sehr schnell widersprochen. Durch subjektiv gewählte Kamera-, Schnitt- und Erzähltechniken sind Dokumentationen immer ein künstliches Produkt. In der Folge sind Autoren und Regisseure der Dokus darauf bedacht, dem Zuschauer durch bestimmte Stilmittel das Gefühl von Authentizität zu vermitteln – das Gefühl, Zeuge einer (räumlich, zeitlich oder sozial) entfernten Realität zu werden. Denn das ist der Reiz des Dokumentarfilms und nur durch gut konstruierte Authenzitätsfiktionen kann er erfolgreich sein.

Stilmittel der Authentizität

Wie schaffen es die Produzenten aber nun, Authentizitätsfiktionen glaubhaft aufzubauen, anders formuliert – Authentizität zu inszenieren? Hier kommt eine große Werkzeugkiste zum Einsatz, die ich im Folgenden etwas beleuchten möchte: Habt ihr euch je gefragt, warum Experten zu Wort kommen, obwohl bereits der Voice-Over-Text von einem gut ausgebildeten (Synchron-)Sprecher viele Informationen vermittelt und meist den roten Faden durch das abzubildende Thema darstellt? Sollen sie etwa zusätzliches Wissen und Zusammenhänge vermitteln? Tatsächlich ist das eher seltener der Fall. Viel mehr legitimieren die Experten durch ihren Titel (zumeist Professoren oder Doktoren) oder ihre Institution (oft Universitäten oder Forschungsinstitute) das vom Sprecher mitgeteilte Wissen. Auch bieten sie dem Zuschauer die Möglichkeit der Identifikation; die so erreichte Emotionalisierung des Publikums führt zu einer ausgeprägteren affektiven Bindung des Publikums. Ein sympathischer Experte, der den Sprechertext kurz aufgreift und nur bedingt weiter ausführt (was im Zweifel auch durch den Sprecher hätte geschehen können), dient also nicht der Kontextualisierung und Vertiefung des Themas, sondern einzig der Vermittlung einer Authentizitätsfiktion, welche den Zuschauer überzeugen soll, ‚wahres‘ Wissen erhalten zu haben.

Inhaltlich gibt der Experte nur wieder, was der Sprecherkommentar bereits wenige Sekunde vorher geäußert hat – er legitimiert diesen letztlich nur.

Im Gegensatz dazu ordnet der Experte hier nun die zuvor genannten Informationen ein und vertieft sie, sodass durch seine Aussagen ein echter Mehrwert entsteht – die (aus akademischer Perspektive) eigentliche Aufgabe des Wissenschaftlers in TV-Dokumentationen.

Ähnliches gilt für Aufnahmen von Exponaten, Funden, Ruinen, generell Vorort-Aufnahmen und Zeitzeugen: Sie vermitteln dem Zuschauer den Eindruck, dass die Produzenten mit ‚echten‘ historischen Quellen gearbeitet haben, um den Inhalt der Sendung zu erarbeiten. Tatsächlich scheint es eher der Fall zu sein, dass aufgrund einer zuvor getätigten Literaturrecherche die Handlung, die einzelnen Themenaspekte und die zu zeigenden Bilder bereits vorab ausgewählt wurden und sich nicht erst im Zuge von Interviews und weiteren Recherchen ergeben haben.

Bilder von der Arbeit der Wissenschaftler dienen letztlich nur der visuellen Untermalung beziehungsweise sollen den Eindruck erwecken, die TV-Produzenten waren live dabei, als neue wissenschaftliche Erkenntnisse entdeckt wurden. Einen inhaltlichen Mehrwert bieten sie selten.

Erfolgsdruck

Warum überlassen die Produzenten hier aber so wenig dem Zufall und konstruieren vorab aufwendige Authentizitätsfiktionen, in denen Experten, zeitgenössische Objekte und Originalschauplätze nur eine untergeordnete inhaltliche Rolle spielen? Die Antwort fällt einfach: Geld. Keineswegs steht im Fokus eine von schwäbischer Mentalität geprägte Sparpolitik bei der Produktion der Sendungen, aber die Dokumentationen müssen erfolgreich sein, um sich selbst und die öffentlich-rechtlichen Sender – die mehrheitlich für die Produktion und Ausstrahlung von Geschichts- und Naturdokumentationen verantwortlich sind – zu rechtfertigen. Ein solcher Erfolg ist nur möglich, wenn man an die Sehgewohnheiten der Zuschauer anknüpft. Greift man auf diese nicht zurück, empfindet das Publikum die Dokumentation innerhalb weniger Minuten als langsam oder träge und wechselt den Kanal. Ruft in den Mediatheken mal eine ältere Dokumentation auf und vergleicht sie mit der letzten TerraX-Ausgabe – euch wird sofort das unterschiedliche Pacing auffallen.

Opfer der Popkultur

Eben diese Sehgewohnheiten sind der Grund, warum die Produzenten nichts dem Zufall überlassen können. Sehgewohnheiten, die nicht von den historischen Dokumentationen bestimmt werden, sondern von Serien, Spielfilmen und den großen Hollywood-Blockbustern. In den letzten 20 Jahren haben sich die Zuschauer nicht nur an eine schnellere Erzählweise, sondern auch an eine durch CGI gesteigerte Menge von Spezialeffekten gewöhnt. Gleichzeitig prägen fiktionale Produkte, wie die bereits untersuchten Serien Rome und Vikings, maßgeblich das Geschichtsbild unserer Generation. Daraus resultieren schwerwiegende Probleme für jene Doku-Produzenten, die durchaus den Anspruch haben, dass ihre Sendungen historisch akkurat und authentisch gearbeitet sind: Um das Publikum an das produzierte Format zu binden, muss eine Emotionalisierung erreicht werden, die in Teilen – wie zuvor geschildert – über Zeitzeugen und Experten geleistet werden kann. Weitaus verlässlicher sind jedoch Handlungsstränge, die auf eine klassische Klimax zusteuern, sodass historische Themen nicht länger einfach „nur“ filmisch aufgearbeitet werden können. Stattdessen entwickeln die Autoren eine Handlung, der sich alle weiteren Themenerläuterungen und Kontextualisierungen unterzuordnen haben. In der Folge kommen nötige Hintergrundinformationen oder gar Quellenverweise, um einmal die akademische Perspektive auf die TV-Dokumentationen zu projizieren, zu kurz.

Bei derart imposant gestalteten und schnell geschnittenen Actionszenen wird es für TV-Dokumentationen schwierig Schritt zu halten und zudem historisch korrekt zu bleiben. Gleichzeitig prägen Serien wie Vikings das Geschichtsbild der Zuschauer und sie erwarten in der Folge eine ähnliche Darstellung der Vergangenheit in Dokumentationen. Ansonsten empfinden sie die Doku als unauthentisch.

Die Intrige Leder

Hinzu kommt, dass TV-Dokumentationen nicht ohne eine Beeinflussung von außen Geschichte vermitteln können. Mitarbeiter von Museen und Gedenkstätten berichten immer häufiger, dass ihre Besucher mit einem von den Medien vorgefertigten Geschichtsbild in ihre Institutionen kommen und eben dieses bestätigt sehen wollen. Authentizität hängt in einem großen Maße auch von der Bestätigung existierenden Wissens ab: Der Zuschauer empfindet das Gesehene nur als authentisch (besser: historisch korrekt), wenn es sich in sein bestehendes Geschichts- und Weltbild einfügt. Was also tun, wenn das Publikum zunehmend durch Medienproduktionen wie Vikings geprägt ist und lässige Axtschwinger in modischer Lederkluft sehen will? Oder eben durch die Serie The Tudors, die den eigentlich korpulenten Heinrich VIII. von England als muskulösen Rockstar des ausgehenden Mittelalters darstellt – abermals oft in Leder gekleidet?

Eine Wahl zwischen Pest und Cholera

Entweder die TV-Dokumentationen greifen diese fehlerhafte Darstellung direkt auf und lassen sie von einem Experten – autorisiert durch seinen Titel, Beruf oder seine Institution – richtigstellen. Oder sie gehen Kompromisse ein und nehmen diese existierenden Geschichtsbilder stillschweigend in ihr Repertoire auf, um die Vergangenheit abzubilden. Ihr könnt es euch bereits denken: Viele Dokumentationen wählen den leichten, letzteren Weg. So wirklich kann ich es ihnen auch nicht verübeln: Jeden Irrglauben aufzugreifen und zu behandeln, würde den Rahmen der Sendung sprengen – oder eben genug Inhalt für eine eigene Sendung liefern! Bis heute rackern sich die Medien am Bild des dunklen Mittelalters ab und versuchen dieses bereits seit vielen Jahren zu revidieren. Wir sehen an diesem populären Beispiel, wie langlebig einmal etablierte (falsche) Geschichtsbilder sein können.

Die Produzenten der Serie The Tudors gaben in Interviews an, dass sie Henry Tudor als „Rockstar seiner Zeit“ (Takors 2010, 220) darstellen wollten, der als muskulöser Mann eine Frau nach der anderen für sich in Anspruch nimmt. Unterstrichen wird dies von der ab 0:50min eingespielten Poprock-Musik.

In dieser Kurzfassung der Dokumentation Ein Tag im Mittelalter begegnet uns der Protagonist Jakob Althaus mit einem pelzbesetzten Ledermantel – leider unauthentisch. Leder wurde nur von Handwerkern als Schürzen oder ähnlichen Kleidungsstücke getragen. Die Kleidung des Darstellers entspricht heute in etwa einem mit Pelz gezierten Blaumann.

Documentary strikes back?

Eine Antwort der öffentlich-rechtlichen Sender auf die sich stetig wandelnden Sehgewohnheiten sind die sogenannten „Reenactments“. Kaum eine Doku der letzten 15 Jahre kommt ohne nachgestellte Spielszenen aus, die einen authentischen Einblick in die Vergangenheit vermitteln sollen. Dabei sei jedoch darauf hingewiesen, dass hier weit mehr die Handlung und Emotionalisierung im Fokus steht, die durch diese Geschichtsnachstellungen transportiert werden können. Genauer auf die Reenactments kommen wir jedoch im nächsten Beitrag zu sprechen, sodass ich hier nicht allzu weit vorgreifen möchte.

Das Ende der Dokumentationen? Nein!

Abschließend möchte ich euch noch Folgendes mit auf den Weg geben: Schaut weiter TV-Dokumentationen! Sie sind gerade für Laien eine ausgezeichnete Möglichkeit, die Vergangenheit kennenzulernen. In diesem Beitrag habe ich zugegebenermaßen eine recht pessimistische Perspektive auf die TV-Dokumentationen gewählt. Dies war nötig, um auf die Schattenseiten des Genres aufmerksam zu machen. Dokumentationen und andere populärwissenschaftliche Angebote sind jedoch unumgänglich, um ein öffentliches Interesse zu schüren, dem Thema insgesamt Relevanz zu verleihen und damit dafür zu sorgen, dass der Elfenbeinturm nicht über den Köpfen der Wissenschaftler einstürzt. Wenn ihr stets bedenkt, dass Authentizität ausschließlich in eurem Kopf entsteht, und hinterfragt, warum die entsprechenden Stilmittel und Strategien innerhalb einer Dokumentation gewählt wurden, könnt ihr weit mehr aus ihnen ziehen. Aktives Nachdenken ist in der Geschichtswissenschaft ohnehin notwendig. Nur so können Zusammenhänge erkannt werden, die zu einem besseren Verständnis der Vergangenheit führen.

Verweise

Takors, Jonas. Visuelle Authentizität und Faktentreue im Geschichtsfernsehen: Die Histosoap The Tudors. In: Pirker, Eva-Ulrike (Hrsg.). Echte Geschichte: Authentizitätsfiktionen in populären Geschichtskulturen. Bielefeld 2010. S. 218.

Hier geht es zu den weiteren Beiträgen der Serie zur Authentizität von historischen Serien und Dokumentationen: