Family-Blogging auf Social Media – Welche kritischen Ausmaße kann es annehmen?
Von Katharina Braun
Die Rolle von Family-Blogging auf Social Media hat in den letzten Jahren stark zugenommen. Familien teilen intime Einblicke in ihren Alltag, Erziehungsmethoden und familiäre Momente. Die stetig wachsende Präsenz von solchen Familien-Blogger*innen auf Plattformen wie Instagram und YouTube wirft zunehmend Fragen bezüglich der Authentizität und ethischen Grenzen ihrer Selbstinszenierung auf. Insbesondere der aktuelle Vorfall um den Familienblog „8 Passengers“ auf YouTube, bei dem die Mutter sogar verhaftet wurde, bildet Ausgangspunkt für kritische Auseinandersetzung.
Innerhalb der Studie „Kinderbilder im Social Web” aus dem Jahr 2017 kam heraus, dass 62 Prozent der Eltern von Kindern im Alter bis zu zwei Jahren Bilder ihres Nachwuchses auf Online-Plattformen teilen. Laut Rechtsanwalt Christian Solmecke können Eltern bis zum Alter ihrer Kinder von 14 Jahren bestimmen, was mit deren Fotos passiert. Also auch, ob sie diese Bilder online stellen oder nicht. Dennoch haben Kinder natürlich Persönlichkeitsrechte und nur weil Eltern die Erziehungsgewalt haben, heißt dies nicht, dass sie einfach frei über ihre Kinder entscheiden dürfen.
Mangel an Privatsphäre und Grenzen
Kinder haben Anspruch auf eine ungestörte Persönlichkeitsentwicklung und somit ein Recht am eigenen Bild. Laut Daniel Hajok, Kommunikationswissenschaftler und Experte im Bereich Kinder- und Jugendmedienschutz, vertreten Eltern diese Rechte, bis das Kind in der Lage ist, sie selbst wahrzunehmen. Persönlichkeitsrechtsverletzungen können laut Marlen Korn von Jugendschutz.net zum Beispiel daran festgestellt werden, ob Kinder in intimen Situationen gefilmt oder zu unangemessenen Handlungen gedrängt werden. Kritisch ist zudem, wenn das Kind durch Veröffentlichung tiefster alltäglicher Einblicke Spott ausgesetzt wird oder diese Inhalte ihnen später einmal unangenehm sind. Beim Family- Blogging werden junge Kinder zu öffentlichen Personen und das, ohne sich bewusst dafür zu entscheiden. Denn das ist in diesem Alter noch gar nicht möglich. Hier fällt die Verantwortung also ganz klar auf die Eltern.
Zusätzlich problematisch ist die Verletzung der Privat- und Intimsphäre von Kindern in YouTube-Videos durch das Eindringen der Öffentlichkeit in die eigenen vier Wände. Eigentlich dürfen auf YouTube Aufnahmen mit Minderjährigen in privater Umgebung wie Schlaf- oder Badezimmer nicht veröffentlicht werden. Und auch laut Auflagen vom Jugend- und Gewerbeamt ist das Filmen in Kinderzimmern, der Schule, beim Arzt und Schwimmen eigentlich unzulässig. Oft werden solche Videos aber dennoch nicht gesperrt und können sogar den Weg ebnen für potenzielle Sexualstraftäter*innen im Netz. Selbst „unschuldige“ Bilder oder Videos von Kindern können so recht einfach in Datenbanken pädophiler Kreise gelangen. Die Cyber-Sicherheitsexpertin Susan McLean erklärt, dass Eltern oft zu wenig über Online-Sicherheit informiert seien und keine Vorstellung davon hätten, wohin die Bilder gelangen. Trotz Maßnahmen gegen die Ausbeutung von Kindern hat YouTube das Ausschalten des Empfehlungssystems für Kinder-Videos nicht umgesetzt, was von Forscher*innen als effektive Präventionsmaßnahme angesehen wird.
Noch Hobby oder schon Arbeit? Wenn minderjährige Kinder für den Familienunterhalt sorgen
Kinderarbeit ist in Deutschland gesetzlich geregelt. So brauchen Kinder, die vor der Kamera stehen, eigentlich eine Arbeitserlaubnis, die festlegt, dass sie zwischen drei und 15 Jahren 30 ganze oder 60 halbe Tage pro Jahr arbeiten dürfen. Ein Arbeitstag umfasst dabei maximal fünf Stunden, drei Stunden vor einer Kamera. Zudem braucht es ärztliche Bescheinigungen, Absprache mit dem Jugendamt und den Austausch mit der Schule. Es gibt Kanäle, welche Dreharbeiten mit Kindern in Zusammenarbeit dieser Institutionen durchführen und sich an die vielen Regeln halten. Doch tatsächlich holen die wenigsten Eltern auch wirklich eine Erlaubnis vom Jugendamt ein.
Luise Meergans vom Deutschen Kinderhilfswerk warnt vor Videos mit Kindern als Influencern, da YouTube eine Plattform ist, die normalerweise wenige Kontrollmechanismen hat. Außerdem machen Kinder-Influencer oftmals Werbung, was bedeutet, dass sie einer wirtschaftlichen Tätigkeit nachgehen. Das ist wiederum Arbeit. In diesem Fall Kinderarbeit. Und dieses Arbeitspensum der Kinder ist oft schwierig abzuschätzen, weshalb für Werbeeinnahmen und Klicks teils die Grenzen der Kinderarbeit überschritten werden. Problematisch wird es laut Meergans auch, wenn der eigene Rückzugsort, das Kinderzimmer oder Zuhause, eigentlich der Dreh- und Arbeitsort sind und die Eltern, die Halt geben und Ansprechpartner*in sein sollen, gleichzeitig auch Arbeitgeber*in sind. Für sie stehen aber nicht nur die Eltern, sondern auch die zuständigen Gewerbeaufsichtsämter in der Verantwortung. Doch die lehnen diese Verantwortung oft ab. Deshalb benötigt es schnellstmöglicher Aufklärung und paralleler Umsetzung der bestehenden Gesetze.
Auswirkungen auf die Eltern-Kind-Beziehung
Medienpädagoge Roland Rodenstock warnt davor, Kinder auf YouTube aktiv werden zu lassen, da er die Erstellung von Videos über Kinder und deren private Einblicke als eine Form emotionalen Missbrauchs ansieht. Trotz der Behauptungen der Eltern, dass die Kinder dies freiwillig tun, besteht laut Rodenstock eine Familienmoral, die von kommerziellem Interesse der Eltern-Kind-Beziehung geprägt ist. Im Gegensatz zu Kinderschauspieler*innen agieren Eltern bei YouTube zudem nicht nur als Sorgeberechtigte, sondern auch als Arbeitgeber, was zu Interessenkonflikten führen kann. Schwierig wird es auch, wenn die Arbeit in die Freizeit der Kinder eingreift oder sie für Werbung eingesetzt werden. Die Situation auf einem familieneigenen YouTube-Kanal kann laut Jugendschutz.net zudem für die Kinder einschüchternd wirken und unbewussten Druck ausüben, da sie spüren, dass ihre Eltern es bevorzugen, wenn sie an Videos teilnehmen, anstatt sich mit Freunden zu treffen oder zu spielen.
Der Fall „8 Passengers“
Wer waren „8 Passengers“?
„8 Passengers“ war ein YouTube-Kanal, der seit 2015 das Leben der Eltern Ruby und Kevin Franke sowie ihrer sechs Kinder Shari, Chad, Abby, Julie, Russell und Eve dokumentierte. Zu seinen Hochzeiten galt der Kanal mit fast 2,3 Mio. Abonnenten als einer der bekanntesten Familien-Vlog-Kanäle. Obwohl der Content der Familie jahrelang Kontroversen auslöste, kam es die letzten drei Jahre zu besonders viel Kritik für ihren Erziehungsstil, sodass Zuschauer*innen sogar Petitionen starteten und die Familie wegen Kindesmisshandlung bei örtlichen Behörden meldeten. „8 Passengers“ wurde von Aktivist*innen als nur eines von vielen Beispielen für Family-Blogging-Kanälen zitiert, die Kinder ungeschützt und leicht ausbeutbar zurücklassen. Als Reaktion darauf erließ Illinois kürzlich ein Gesetz, das speziell darauf abzielt, Schutzmaßnahmen für Minderjährige einzuführen, die in den monetarisierten sozialen Medien ihrer Eltern auftreten.
Misshandlungen und Vorwürfe Ruby Frankes Videos schienen zunächst positiv zu sein und lediglich einen Einblick in das Leben ihrer achtköpfigen Familie zu gewähren. Diese wurden mit der Zeit aber immer mehr wegen besorgniserregender Ereignisse kritisiert und die strengen Erziehungsmethoden führten dazu, dass einige Zuschauer*innen sie bei der Polizei meldeten. Gerüchte über Kindesmisshandlung kursierten schon im Sommer 2020, als ihr Sohn Chad in einem Vlog offenbarte, dass ihm sein Schlafzimmer genommen wurde und er monatelang auf einem Sitzsack im Wohnzimmer schlafen musste, nachdem er seinem kleinen Bruder einen Streich gespielt hatte. Ebenso gestand Franke ganz offen in einem Video, dass sie ihrer damals erst 6- jährigen Tochter Eve kein Essen zur Schule bringen würde, da diese sich ja selber darum hätte kümmern müssen.
Während die Familie zunächst die Vorwürfe zurückwies, gründete Ruby im Juni 2022 einen neuen Kanal namens ConneXions mit Jodie Hildebrandt, einer Therapeutin, deren Lizenz aufgrund Weitergabe privater Patienten-Informationen zwischenzeitlich für 18 Monate auf Bewährung gesetzt wurde. ConneXions wurde von vielen als Sekte bezeichnet, der Kanal beschrieb sich selbst jedoch als Elternberatung. Diese hatte aber durchaus kontroverse Ansichten und laut Ruby hätten Kinder kein Recht auf Privatsphäre, was sie an Aussagen wie „In this home you don’t get personal space. Because this is my space.” und “In my house there is no such thing as privacy. ” verdeutlichte.
Verhaftung und Anklage
Die Polizei besuchte in den letzten vier Jahren mindestens 15 mal Ruby Frankes Haus. Vor einigen Wochen wurde sie nun mit ihrer Geschäftspartnerin Hildebrandt verhaftet, beide wurden mit sechs Anklagepunkten wegen schwerer Kindesmisshandlung angeklagt. Die Verhaftung erfolgte, nachdem Frankes 12-jähriger Sohn an die Tür eines Nachbarn geklopft hatte, um um Hilfe zu bitten. Das unterernährte Kind hatte um Essen und Wasser gebeten und wies offene Wunden und Klebeband an den Gliedmaßen auf. Gemäß der Pressemitteilung entdeckte die Polizei außerdem später Frankes 10- jährige Tochter in unterernährtem Zustand in Hildebrandts Haus.
Ruby bekannte sich schuldig wegen schwerer Kindesmisshandlung an ihrem Sohn Russell. Die Anklage umfasste unter anderem physische Folter, bei der der Junge stunden- und tagelang zu physischen Aufgaben gezwungen wurde und wobei ihm ausreichend Wasser und Nahrung verweigert wurden. Er wurde isoliert und nach einem Fluchtversuch wurden regelmäßig seine Hände und Füße zusammengebunden. Zusätzlich bekannte sich Ruby schuldig wegen des Missbrauchs ihrer damals neunjährigen Tochter Eve. Dieser Fall beinhaltete emotionale Schäden, bei denen Eve denselben Misshandlungen wie ihr Bruder ausgesetzt war. Die Verurteilung ist für Februar angesetzt und jede Anklage trägt eine Gefängnisstrafe von 1 bis 15 Jahren, die aufeinander folgen werden.
Fokus auf Schutz und Sensibilisierung
Viele Menschen betrachten das Filmen eines minderjährigen Kindes, selbst wenn es das eigene ist, als unethisch. Bei der Betrachtung des Inhalts von „8 Passengers“ wird jedoch deutlich, dass für Klicks und Views teils nichts tabu ist. Expert*innen wie Therapeutin Kati Morton betonen die Bedeutung der Achtung der Privatsphäre von Kindern für deren gesunde emotionale und psychologische Entwicklung. Der Fokus auf ein perfektes Leben könnte nämlich selbst unbeabsichtigt das emotionale Wohlbefinden der Familienmitglieder vernachlässigen. Was also tun? Da laut Daniel Hajok in diesem Bereich Verbote nichts bringen, ist es wichtig, vorbeugend zu arbeiten. Aufgabe des Kinder- und Jugendmedienschutzes ist es, sowohl Eltern und Kinder im Umgang mit sozialen Medien zu sensibilisieren. Medienkompetenz als Schulfach, Social-Media-Guides für Eltern und möglichst anonyme Darstellung der Kinder im Netz sind wohl zumindest einmal Anfänge.
Quellen:
https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/9783845279503/kinderbilder-im-social-web?page=1
https://www.edit-magazin.de/wenn-social-media-zum-familienalbum-wird.html
https://www.deseret.com/utah/2023/9/6/23861834/ruby-franke-8-passengers-arrest-utah-police-dcfs-investigation
https://www.bzkj.de/resource/blob/187302/d4d36492d4fd527cbafd76e13ae3ea05/20214-sharenting-mama-%20blogger-kinderinfluencer-data.pdf
https://www.welt.de/kmpkt/article241652273/Falsche-Vorbilder-So-beuten-Influencer-Eltern-ihre-Kinder-aus.html
https://eu.usatoday.com/story/news/nation/2023/08/31/ruby-franke-8-passengers-vlogger-arrested-child-abuse-%20charges-daughter-shari-speaks/70730970007/
https://www.nbcnews.com/news/us-news/ruby-franke-vlogger-8-passengers-youtube-channel-arrested-child-abuse-%20rcna102731
https://www.smh.com.au/national/millions-of-social-media-photos-found-on-child-exploitation-sharing-sites-%2020150929-gjxe55.html
https://www.nytimes.com/2019/06/03/world/americas/youtube-pedophiles.html