So bunt wie unsere Welt ist, sind auch unsere Gehirne verschieden. Jede Lebensrealität trägt ihren eigenen Zauber. Bild: Adobe Stock

Zwischen Hype und Realität: Die Darstellung von ADHS und Neurodiversität in sozialen Medien

Von Michelle Ullrich

In einer Ära, in der soziale Medien unser Leben dominieren, sind Informationen im Überfluss verfügbar. In der Welt der sozialen Medien nehmen Trends und Diskussionen schnell Fahrt auf. Ein solcher Trend, der in den letzten Jahren auf Plattformen wie TikTok, Instagram und Reddit besonders auffällig ist, betrifft die Darstellung von ADHS, eine neuro-atypische Erkrankung, die zunehmend auf sozialen Plattformen thematisiert wird.

Junge Menschen stellen sich vermehrt im virtuellen Raum als ADHS-Betroffene vor und greifen dabei auf einseitige Symptome zurück, die angeblich ihre Erkrankung ausmachen. Dabei werden vielfach Stereotypen und Vorurteile aufgegriffen und zur eigenen Persönlichkeit umgeformt. Diese Repräsentation verzerrt nicht nur die Realität von ADHS, sondern stigmatisiert auch tatsächlich Betroffene Personen. Zwischen dem Hype in den sozialen Medien und der tatsächlichen Realität von ADHS liegt eine Kluft, die aufgezeigt werden muss und in den folgenden Zeilen verbalisiert wird.

Die Verlockung der Übertreibung: Wie ADHS in sozialen Medien dargestellt wird.

Besonders soziale Netzwerke sind anfällig für falsche Darstellungen. Bild: Adobe Stock

 

Sensationslust und das Streben nach Aufmerksamkeit haben zu einer aufgeblähten Darstellung von ADHS auf Plattformen geführt. Dabei wird sich einseitiger Symptome bedient, die allzu oft völlig normale Verhaltensweisen darstellen. Stereotype und Vorurteile werden verstärkt, während verschiedene Symptome der Erkrankung als unterhaltsame Macken dargestellt werden. Unpünktlichkeit, Momente der Unaufmerksamkeit, die Neigung zur Ablenkung oder eine emotionale Reaktion auf Trennungen und Unfairness werden dabei als Merkmale von ADHS dargestellt. Der Eindruck entsteht, dass ADHS eine modische Identität ist, die Verantwortungslosigkeit und mangelnde Selbstkontrolle entschuldigen soll. Interessanterweise verweisen die vorgebrachten Symptome oft auf allgemeine menschliche Erfahrungen und lassen außer Acht, dass der tatsächliche Leidensdruck bei Menschen mit ADHS weitaus tiefer geht. Die vereinfachte Darstellung, die sich auf sozialen Medien verbreitet, trägt dazu bei, den reellen Grad der Beeinträchtigung zu vernachlässigen. Diese Fehlinterpretation verzerrt nicht nur die Realität von ADHS, sondern führt auch zu einer Fehlinformation über Ursachen, Symptome und Behandlungsmöglichkeiten.

Schnelle Klicks, falsche Infos: Eine sensationsheischende Darstellung ohne wissenschaftliche Grundlage

Die Online-Welt floriert durch Sensation und Einfachheit. Die Symptome von ADHS, die auf sozialen Medien oft humoristisch oder „quirky“ präsentiert werden, lassen die Erkrankung wie eine Modeerscheinung wirken. Angeblich Betroffene verstecken sich hinter Aussagen, wie: „Ups, ich habe dir gar nicht zugehört– das liegt aber an meinem ADHS, dafür kann ich nichts. Oh, schau mal ein Eichhörnchen!“ Solch eine Einstellung führt zu einer gefährlichen Normalisierung von Verhaltensweisen, die eigentlich das Resultat einer ernsthaften neurologischen Erkrankung sind.

Die Wahrheit ist, dass diese Darstellungen auf sozialen Medien oft weit entfernt von wissenschaftlicher Grundlage sind. Sie vermitteln ein verzerrtes Bild von ADHS, das den eigentlichen Herausforderungen, denen Betroffene gegenüberstehen, nicht gerecht wird. ADHS ist keine leichte Erkrankung, sondern beeinflusst das tägliche Leben der Betroffenen auf komplexe Weise. Eine verantwortungsvolle Darstellung in den sozialen Medien sollte darauf abzielen, die Realität zu zeigen, anstatt falsche Vorstellungen zu perpetuieren und rücksichtslose Verhaltensweisen zu maskieren.

Über Mythen und Misserfolge: Wenn Fehlinformationen über ADHS das Leben beeinflussen. Die Schattenseiten der falschen Darstellung von ADHS in sozialen Medien

Aktuellen Schätzungen zufolge erfüllen lediglich 20 Prozent der auf TikTok veröffentlichten Videos über ADHS die Kriterien einer psychiatrischen Prüfung, was auf eine alarmierende Verbreitung von irreführenden Informationen hindeutet.

Die Auswirkungen dieser verfälschten Darstellung sind vielfältig und tiefgreifend. Einerseits können Menschen, die tatsächlich unter ADHS leiden, durch die Verbreitung falscher Informationen weiter stigmatisiert werde und ihre eigentlichen Herausforderungen und Leiden werden weiter missachtet. Andererseits verbreiten sich Mythen über ADHS, die wissenschaftlich nicht fundiert sind. Die realen Herausforderungen, die mit dieser neurologischen Störung einhergehen, werden dadurch heruntergespielt. Die Aussage, dass „jeder ein bisschen ADHS habe“, wie sie in manchen Beiträgen zu finden ist, führt zu einer gefährlichen Bagatellisierung der Erkrankung.

Dies führt nicht nur zu einer mangelhaften Aufklärung, sondern kann unter anderem zu einer gefährlichen Selbstdiagnosekultur führen, bei der Jugendliche ohne adäquate Fachkenntnisse sich selbst unzureichend diagnostizieren. Die selbstgestellten Diagnosen können zu verheerenden Störungen des Selbstbildes führen und zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung werden, bei der sie Symptome entwickeln, die sie zuvor nicht hatten. Doch mit diesem Thema könnte ein weiterer Blogbeitrag gefüllt werden und soll hier nur kurz erwähnt werden.

Wenn ihr mehr darüber erfahren wollt, welchen Einfluss soziale Medien auf die Identitätsfindung Jugendlicher haben, könnt ihr hier weiterstöbern.

Falsch gestellte Selbstdiagnosen können jedoch auch dazu beitragen, dass tatsächlich Betroffene noch weniger ernst genommen werden und Schwierigkeiten haben, die Unterstützung und Behandlung zu erhalten, die sie dringend benötigen. Zudem kann die falsche Darstellung von ADHS in sozialen Medien zu einer Art Modeerscheinung werden, bei der das reale Leiden der Betroffenen in den Hintergrund rücken wird und die Erkrankung zu einer oberflächlichen Sensation verkommt.

 „Hinter die Kulissen geschaut: Mehr als „quirky“ und hyperaktiv. Die vielen Facetten von ADHS.“

Im Kopf eines ADHSlers herrscht oft Chaos, dass den Alltag erheblich beeinflusst. Bild: Adobe Stock

 

Es ist essenziell, sich von den verbreiteten Mythen über ADHS zu lösen und die wissenschaftlich fundierte Realität zu betrachten. ADHS ist eine komplexe Erkrankung, die sowohl in der Jugend als auch im Erwachsenenalter anhält. Die Ursachen von ADHS liegen an einem Ungleichgewicht der Botenstoffe Dopamin und Noradrenalin im Gehirn sowie anderer beeinträchtigter Hirnregionen. Die Symptome reichen von Hyperaktivität und Impulsivität bis hin zu Schwierigkeiten mit Aufmerksamkeit, Konzentration, Motivation und Selbstwertproblemen. Hinzu kommen Begleiterkrankungen wie Depression oder Angststörungen. Es ist jedoch wichtig zu betonen, dass ADHS ein Spektrum ist und individuell ausgeprägt sein kann. Die individuelle Ausprägung von ADHS zeigt sich in verschiedenen Typen: vorwiegend hyperaktiv-impulsiv, vorwiegend unaufmerksam oder in anderen Mischtypen.

Diese Vielfalt resultiert aus physischen Prozessen im Gehirn, wie einem unterschiedlich ausgeprägt niedrigeren Dopamin-Spiegel. Menschen mit ADHS benötigen oft anspruchsvollere und abwechslungsreiche Aufgaben, um ihre Konzentration aufrecht zu halten. Diese Eigenheiten führen jedoch in einer standardisierten Welt zu einem hohen Leidensdruck. Schulpflicht und Arbeitsanforderungen berücksichtigen oft nicht die Bedürfnisse von neurodiversen Menschen, was zu Unterrepräsentation und Fehleinschätzungen führt.

Jenseits der Norm: Ein Exkurs in die Welt der Neurodiversität. Ein Plädoyer für die Wertschätzung der neurodiversen Vielfalt.

Auch sogenannte Erkrankungen und neuronale Störungen, wie ADHS und Autismus sind normale Abweichungen des menschlichen Gehirns. Bild: Adobe Stock

 

Die Grundlage für ein umfassendes Verständnis von neuro-atypischen Lebenswelten ist das Konzept der Neurodiversität. Der Neologismus „Neurotypisch“ umfasst alle Menschen deren neurologische Gehirnentwicklung den medizinisch „normalen“ Standards entsprechen. Menschen, die außerhalb dieser Norm liegen bezeichnen sich selbst als Neuro- atypisch, damit sind zum Beispiel hochbegabte, autistische oder hochsensible Menschen gemeint und auch ADHSler.

Die Vielfalt menschlicher Erfahrung und Wahrnehmung anzuerkennen ist die Grundlage, um ein individuelles Wachstum zu fördern und Stigmata entgegenzuwirken.

Fakten statt Fiktion: Die Rolle von Experten bei der Entmystifizierung von ADHS. Wir müssen den Dialog öffnen, um gemeinsam Missverständnisse über neuro-atypische Erkrankungen abzubauen.

Um das Verständnis von ADHS zu öffnen, ist eine breitere Aufklärung nötig. Verlässliche Informationsquellen und Expertenmeinungen sollten mehr Reichweite haben als fragwürdige Selbstdiagnosen.

Wie ihr Online-Quellen einem Fakten Check unterzieht, könnt ihr hier erfahren.

 Fachleute können mit wissenschaftlich fundiertem Wissen Missverständnisse über ADHS abbauen und zu einem sachlichen Diskurs beitragen. Denn ADHS ist weit mehr als die stereotype Darstellung in den sozialen Medien. Die Herausforderungen, die Menschen mit ADHS täglich bewältigen, sind komplex und vielschichtig. Dieses Verständnis ist entscheidend, um Vorurteile abzubauen und Betroffenen die nötige Unterstützung zukommen zu lassen.

Von Vorurteilen zu Verständnis: Ein Appell für eine aufgeklärte Darstellung von Neurodiversität im Netz.

Insgesamt verdeutlicht die Fehldarstellung von ADHS in sozialen Medien die Notwendigkeit einer besseren Aufklärung über psychische Gesundheit. Es bedarf eines verstärkten Engagements von Fachleuten, um korrekte Informationen zu verbreiten und Mythen zu entlarven. Gleichzeitig sollten soziale Medienplattformen ihre Verantwortung wahrnehmen, solide und sachliche Informationen zu fördern und irreführende Inhalte zu reduzieren. Dies ist von entscheidender Bedeutung, um sicherzustellen, dass Menschen, die tatsächlich von ADHS betroffen sind, die Unterstützung erhalten, die sie verdienen, und dass die öffentliche Wahrnehmung dieser Störung realistisch und respektvoll bleibt.

Die Darstellung von ADHS in sozialen Medien ist ein Spiegelbild unserer Gesellschaft, das einer kritischen Prüfung bedarf. Eine Verantwortungsbewusste Darstellung von neurodiversen Themen ist essenziell, um Vorurteile abzubauen und eine inklusivere Sichtweise zu fördern. Meine persönliche Hoffnung liegt in einer informierten Gesellschaft, die Vielfalt schätzt und Menschen mit neuro-atypischen Erfahrungen nicht als amüsant oder störend, sondern wertvoll anerkennt.

Indem wir die Realität von ADHS aufzeigen und die Stimmen von Fachleuten und Betroffenen gemeinsam hervorheben, können wir aktiv zu einer inklusiveren Zukunft beitragen.

Habt ihr Interesse mehr über ADHS zu erfahren? Dann folgt unserem Instagram Kanal, denn dort findet ihr  einen Beitrag über die Lebenswelt von ADHSlern.