Zwei Tage Rosa

von Stefanie Molitor

Ja, ich habe es getan! Wenn man die Chance hat, einen der erfolgreichsten und umstrittensten Dokumentarfilmer Deutschlands in einem Workshop zu treffen, sollte man sie nutzen. So erlebte ich das wohl ungewöhnlichste Interview-Training meines Lebens.

Eine E-Mail in meinem Postfach berichtet mir von dem außergewöhnlichen Angebot im Haus des Dokumentarfilms: Der Filmemacher Rosa von Praunheim leitet in Stuttgart eine zweitägige Meisterklasse zum Thema Interviewführung.

Sofort fange ich an, mein Gedächtnis aufzufrischen. Mit seinem Film „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“ wurde der Filmemacher mit dem Faible für verrückte Hüte  1971 zum Pionier der Schwulen- und Lesbenbewegung in Deutschland. Rosa von Praunheim heißt mit bürgerlichem Namen Holger Bernhard Bruno Mischwitzky und ist selbst bekennender Schwuler. In einer RTL- Show outete er 1991 die Prominenten Alfred Biolek und Hape Kerkeling und sorgte so für einen handfesten Medienskandal. Seine Filmographie umfasst über 60 Werke. Zu seinem 70. Geburtstag im November 2012 drehte Rosa von Praunheim für jedes seiner Lebensjahre einen weiteren Film. 700 Minuten davon wurden im RBB ausgestrahlt. Keinem Dokumentarfilmer vor ihm wurde so viel Sendezeit zur Verfügung gestellt.

Ich gehöre definitiv nicht zu den extrovertiertesten Personen der Welt. Bei dem Gedanken, zwei Tage mit dem schrillen und unkonventionellen Rosa von Praunheim zu verbringen, wird mir mulmig. Ich klicke auf „Anmelden“, bevor ich es mir anders überlege.

Verliebt euch!

Der Dokumentarfilmer macht seinem Namen alle Ehre, als ich am Tag des Workshops um die Ecke des Eingangs biege. Hut und Hemd strahlen mir in grellem rosa entgegen, seine 70 Jahre sieht man ihm nicht an.

Der Workshop beginnt, noch bevor wir die Seminarräume betreten haben, denn eine Parkplatz suchende ältere Dame wird zum ersten unfreiwilligen Opfer des Interviewmeisters: „Wo wollen Sie hin? Zum Notar? Was machen Sie da? Haben Sie Geld? Haben Sie was zu vererben?“. Da ist er, der Praunheim‘sche Interviewstil: Direkt, eindringlich, ohne Berührungsängste, ohne Tabus.  Um das zu lernen, sind wir hier.

Rosa von Praunheim hat kurze Gedichte verfasst, die er an uns 22 Workshopteilnehmer verteilt – in fast jedem kommen Wörter wie Sex oder Penis vor. Die „Stoßrichtung“ der folgenden Interviews ist offensichtlich. Ein Eichhörnchen, das mit Nüssen wirft, bildet da keine Ausnahme. Nachdem der erste Workshopteilnehmer das Gedicht vorgetragen hat, steigt Rosa direkt ins Interview ein: „Schmeißt du auch manchmal mit Nüssen?“

Wir werden Zeuge, wie Rosa binnen weniger Minuten Knackpunkte in der Persönlichkeit entdeckt und seinen Gesprächspartner für sich öffnet. Drei Stunden Workshop und zehn Interviews später kenne ich zwar immer noch keinen einzigen Teilnehmer mit Namen, aber ich weiß, wer Angst vor dem Tod hat, welcher Typ Mann hoch im Kurs steht oder wie oft in der Woche Bettsport betrieben wird.

„Ihr müsst die Person, die ihr interviewt, lieben.“ Egal ob es eine unschuldige Oma oder ein kaltblütiger Neonazi ist. „Wenn ihr die Gesichter der Interviewpartner genau beobachtet, jedes kleine Detail wahrnehmt, werdet ihr euch verlieben.“ Und das glaubt man ihm sofort. Im Interview weckt seine ruhige Stimme Vertrauen, sein intensiver Augenkontakt vermittelt ehrliches Interesse.

Aber ist es wirklich notwendig, privateste Details an die Öffentlichkeit zu zerren? Rosas Meinung ist eindeutig: „Was uns interessiert, ist das Böse und Schmerz. Wenn ihr einen Film macht, seid ihr keine moralische Anstalt. Ihr müsst unmoralisch sein. Je schöner eine Geschichte, desto eher fehlen die Konflikte und damit auch das, was Menschen interessiert.“

Ankunft einer Königin

Nach der Mittagspause ziehen wir in den Garten um. Rosa von Praunheim probt mit uns die Ankunft einer Königin. Was es damit wirklich auf sich hat, verrät er nicht. Die ganze Szenerie wird immer absurder, als plötzlich auch noch das zweiköpfige Filmteam von Rosa von Praunheim auftaucht. Trotzdem jubeln und jammern wir auf Kommando, üben das Huldigen und Anhimmeln einer imaginären Adligen und spekulieren in die Kamera, wer diese Königin sein könnte. Ganz ehrlich? Ich habe selten eine abstrusere Situation erlebt und hoffe insgeheim, dass sich dahinter eine kluge Übungseinheit zum Thema „Wo liegt meine Schmerzgrenze?“ verbirgt. Als dann die Königin – übrigens eine ältere Dame mit Sonnenbrille und knalligem Nagellack –  nach einer gefühlten Ewigkeit tatsächlich doch noch auftaucht, ist die Vorfreude in der Gruppe dezenter Ungeduld gewichen. „Natürlich bin ich keine Königin, sondern die Besitzerin des „Kings Club“ in Stuttgart“. Aha … und dafür das ganze Theater? Ja. Die Inszenierung war ein spontaner Einfall Rosa von Praunheims. Für sein neues Portrait über Laura Halding Hoppenheit, die „Königin“ eines schwul-lesbischen Nachtclubs. Und wir waren seine Statisten.

Rollentausch

Nach diesem Happening beginnt der nächste Tag fast enttäuschend unspektakulär. In einem Sitzkreis sprechen wir über das Filmemachen, über Inszenierungen und Übungsaufgaben: Eine Straßenecke acht Stunden lang mit der Kamera zu beobachten, eine Szene aus neun unterschiedlichen Perspektiven zu drehen oder ein und denselben Film zehn Mal hintereinander anschauen, um immer wieder auf einen andern Aspekt der Gestaltung zu achten. Doch schon wenig später schlägt die Spontaneität Rosa von Praunheims wieder zu. Ich  finde mich im Partyspiel „Psychose“ wieder, bei dem es darum geht, die Einstellungen und Vorlieben der Menschen um mich herum einzuschätzen. Auch in der folgenden Improvisationsrunde, in der wir versuchen einen Spielfilm zu inszenieren, geht es um spontane Interaktion und um die Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinzuversetzen. Was es bedeutet, dabei gnadenlos direkt zu sein, führt uns Rosa von Praunheim in der nächsten Übung vor Augen. Platziert wie auf einem Präsentierteller sehen sich die drei männlichen Teilnehmer plötzlich mit 19 weiblichen Augenpaaren konfrontiert: Fleischbeschau. Frau soll zuordnen: Wer ist der unattraktivste Mann, wer der einfühlsamste Liebhaber und wer am ehesten ein Kinderschänder? Unbehagen macht sich auf beiden Seiten breit. Was soll das? Ist das einfach nur demütigend und verletzend? Oder etwa doch notwendig unmoralisch? Es sei nichts weiter als eine Umkehr der üblichen Rollenmuster. Rosa scheint sich sichtlich über unsere Gewissenskonflikte zu amüsieren. Die Minuten vergehen qualvoll langsam. Am Ende sind nicht nur die Männer erleichtert, dass mit dem Abschluss des Workshops auch diese Übung vorbei ist.

Noch bevor wir uns alle voneinander verabschiedet haben, ist Rosa von Praunheim schon wieder verschwunden – und der Workshop vorbei. Ja, ich habe etwas über die Kunst des Interviews gelernt. Ich habe viele Dinge getan, die ich eigentlich nie tun wollte: Ich habe mit fremden Menschen über private Themen gesprochen, die sie meiner Meinung nach eigentlich nichts angehen. Ich habe eine fiktive Königin angebetet und dafür jede Rationalität abgelegt und ich habe immer wieder meine eigenen Grenzen hinterfragt und getestet.

Ein Selbsterfahrungstrip getarnt als Interviewtraining. Öfter mal was Neues. Vielleicht sollte man sich Rosa von Praunheims Schlussworte also doch einmal zu Herzen nehmen: „Schönen Lebensabend noch! Es kann jederzeit vorbei sein – also macht das Beste draus.“

 

Fotos: Stefanie Monitor
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