Von Unterdrückung und Gedankenkontrolle – Das Genre Dystopie
Von Antje Günther
Ob Winston gegen Big Brother oder Katniss gegen Panem, die Grundidee der Dystopie erscheint simpel: der Einzelne gegen das Regime. Doch was genau die Dystopie eigentlich ausmacht und was sie von ihren Schwestern Utopie und Anti-Utopie unterscheidet, das wissen die wenigsten. Alle Publikationen, in denen ein Einzelner sich auflehnt und Überwachungs- und Unterdrückungsmechanismen dazu kommen, erhalten den Stempel Dystopie.
Kein Dystopia ohne Utopia
Doch damit es Dystopien geben kann, braucht es zunächst Utopien. Wie kaum zwei andere Genres sind diese beiden eng miteinander verbunden. Die Utopie stellt dabei eine „perfekte“ Gesellschaft dar, in der es keine Kriege oder Unstimmigkeiten gibt, in der jeder sich einbringen kann, in der Wohlstand herrscht. Die berühmtesten Utopien stammen von Platon (ca. 5. Jh. v. Chr.) und von Thomas Moore (1516) und entwerfen eine jeweils eigene Vorstellung des „idealen Staates“. Genau gegen diese Ideen stemmt sich die Dystopie. Sie erkennt die Gefahr in den utopischen Bestrebungen und führt sie ins Extrem. Um von einer Dystopie sprechen zu können, muss die dargestellte Gesellschaft zu einem gewissen Zeitpunkt utopische Ziele verfolgt haben. Sie zeigt, was passiert, wenn man die utopischen Ziele ohne Rücksicht verfolgt und dabei vom Weg abkommt; dass gut gemeint noch lange nicht gut gemacht bedeutet. Somit kann es kein Dystopia ohne Utopia geben.
Das Gegenteil von Utopia – oder doch nicht?
Deswegen wird die Dystopie auch häufig einfach als Gegenteil der Utopie betrachtet: hier der ideale Staat, dort das genaue Gegenteil, der Alptraum-Staat. Schnell ist dann auch der Begriff der Anti-Utopie zur Hand und wird mit Dystopie irgendwie gleichgesetzt. Aber auch hier wird zu einfach gedacht, denn mit der Anti-Utopie tritt gewissermaßen ein drittes Genre hinzu. Zu diesem gehören Erzählungen, die sich gegen bestimmte Utopien oder auch die gesamte Idee der Utopie stellen. Sie lehnen die Grundidee des Utopischen ab. Die Dystopie hingegen teilt in gewisser Weise den utopischen Traum; sie zeigt lediglich die Risiken einer gedankenlosen Verfolgung der Ideale auf. Ihre Funktion ist die Warnung, damit es nicht soweit kommt. So arbeiten dystopische Erzählungen letztendlich auch auf eine bessere Welt hin. Die Dystopie ist somit ein hybrides Genre, im Spannungsfeld zwischen den Extremen der Utopie und Anti-Utopie; zwischen dem perfekten und dem hoffnungslosen, bis in die letzten Winkel verdorbenen Staat.
Das Grundprinzip der Dystopie
In diesem Spannungsfeld verteidigt die Dystopie ihren Platz. Sie greift meist utopische Ideen auf und zeichnet eine Gesellschaft, die übers Ziel hinausgeschossen ist. Dabei tauchen gewisse Motive immer wieder auf und bilden eine Art Kanon der Dystopie. Dazu gehört in allererster Linie der scheinbar allmächtige und omnipräsente Staatsapparat. Kameras, Wanzen und Spione sind Teil der „Standardausrüstung“ des dystopischen Regimes. Aber auch die Gesellschaft selbst sorgt in vielen Fällen für eine Form von Selbstüberwachung; es entsteht eine Kultur der Verdächtigung und Spionage, berühmt zu sehen an O’Briens Verrat in 1984. Jede Kleinigkeit des Lebens scheint vorgegeben: Beruf, im Staatsapparat, Wohnung, staatlich vergeben, persönliche Kontakte, diktiert durch Schicht- oder Parteizugehörigkeit. Es geht um Kontrolle bis ins kleinste Detail, die Gedanken. So sieht ein Großteil der Gesellschaft die Missstände gar nicht, aufgrund von Konditionierung mit Propaganda oder weil sie, wie bei Huxley, bereits rein biologisch nicht dazu in der Lage sind. Die restlose Kontrolle des Einzelnen führt damit zur Kontrolle der Masse, das Individuum ist abgeschafft und wird Teil des Apparats; ein namenloses Rädchen im Getriebe.
Dasselbe gilt zu Beginn für den Helden der Dystopie: er oder sie ist kein automatischer Rebell, der von Kindesbeinen an gegen die Herrschaft des Staats ist, sondern meist ein mehr oder weniger bedeutender Teil des Ganzen. Winston sitzt im „Ministerium für Wahrheit“ und ist Teil der „Äußeren Partei“, Lenina Crowne arbeitet in der „Zentrale für Brut- und Normaufzucht“, Guy Montag verbrennt an vorderster Front die für den Staat so gefährlichen Bücher*. Meist ist es eine Begegnung mit einer unkontrollierten Person wie Clarisse oder John, den unangepassten Figuren aus Fahrenheit 451 und Brave New World, die einen Sinneswandel auslöst und dem Protagonisten die Augen öffnet. Von diesem Punkt an stellt er oder sie sich, mehr oder weniger offen, gegen den Staat und entzieht sich der Kontrolle. Das Vorgehen und der Ausgang dieser Bemühungen haben sich im Laufe der Zeit jedoch stark gewandelt, ebenso wie die Motive, die neben der Grundhandlung verhandelt werden. Einen Überblick über diese Entwicklungen des Genres geben die nächsten Artikel dieser Reihe.
*Hauptfiguren aus Aldous Huxleys „Brave New World“ (1932) und Ray Bradburys „Fahrenheit 451” (1953)
Fotos: Flickr.com/Jonathan McIntosh (CC BY-NC-SA 2.0), Flickr.com/Jonathan McIntosh (CC BY-NC-SA 2.0)