Sinnsuche auf See – Ang Lees Life of Pi

von Selina Emhardt

Ang Lees Life of Pi – Schiffbruch mit Tiger (2012) ist eine atemberaubend-bildgewaltige spirituelle Erzählung in 3D, die dem Zuschauer nichts weniger verspricht, als ihm den Glauben an Gott zurückzugeben – ein gewagtes Versprechen!

In einem kleinen Rettungsboot über den größten Ozean der Welt treiben. Über dir der ewige Sternenhimmel, das Tor zum Universum, unter dir der unerforschte Mariannengraben, die tiefste Stelle der Erde. Und neben dir – ein wilder Tiger als ständiger Begleiter! Von dieser surrealen Situation erzählt die Verfilmung des kanadischen Erfolgsromans Life of Pi von Yann Martel.

Life of Pi, das ist die fantastische Geschichte des siebzehnjährigen Piscine Molitor Patel, genannt Pi (Suraj Sharma), Sohn eines Zoodirektors. Eines Tages sieht sich die Familie aus finanziellen Gründen gezwungen, von Indien nach Kanada umzusiedeln. Doch das Schiff, das die Familie zusammen mit den Tieren in ein neues Leben bringen soll, sinkt und nur Pi, ein Affe, ein Zebra, eine Hyäne und ein bengalischer Tiger namens Richard Parker können sich in ein Rettungsboot flüchten. Hierbei entwickelt sich auch die Abhängigkeitsbeziehung der beiden denkbar unterschiedlichsten Protagonisten weiter: Der Tiger wird zur allgegenwärtigen Existenzbedrohung einerseits und zum lebensrettenden Hoffnungsträger andererseits. „Meine Angst vor ihm hält mich am Leben“, meint Pi in einem seiner zahlreichen Monologe und daraufhin: „Meine Sorge um ihn gibt meinem Leben einen Sinn.“ Nach einer abenteuerlichen Odysee stranden die beiden halbtot an der Küste von Mexiko. Richard Parker verschwindet im Urwald und Pi wird ins Krankenhaus gebracht. Dort erzählt er zwei Angestellten des japanischen Verkehrsministeriums seine Geschichte. Da sich die ungläubigen Inspektoren nicht mit der Wahrheit zufrieden geben erzählt er noch eine andere Geschichte: Zu Beginn seien demnach mehrere Menschen im Rettungsboot gewesen, die sich nach und nach töteten, bis nur noch Pi übrig blieb.

Gefangen zwischen Wirklichkeit und Fiktion

Dies ist nicht nur eine Abenteuergeschichte, sondern  auch eine religiös- philosophischen Parabel: Sie erzählt von einem modernen Wunder über Lebensrettung. Und genau wie die Wunder- und Heilsgeschichten der großen religiösen Schriften, lässt sie sich nicht direkt beweisen. Kann man aber an etwas glauben, dass man nicht beweisen kann? Das empfindliche Verhältnis von Wirklichkeit und Fiktion wird in der Frage gestellt, der Beweis als Wahrheitsgarant relativiert. Da ist Pis Vater, als Anhänger der modernen naturwissenschaftlichen Tradition, der seinen Sohn lehrt, dem Tiger als instinktgetriebenem, morallosen und natürlichen Feind zu misstrauen. Er verweist auf Naturgesetze und Verstand. Und der Vater hat recht: Der Tiger bleibt was er ist, auch wenn der Zuschauer oftmals versucht ist, das zu vergessen: Eine gefährliche, lebensbedrohliche Bestie. Wer das vergisst stirbt!

Dem gegenüber steht Pis Vertrauen auf eine höhere, gütige Macht. Ohne sie hätte Pi, gottverlassen auf hoher See, auch nicht überlebt. Und es ist genau dieser Glaube als menschliches Grundbedürfnis, der dem modernen Sinnsuchenden wie dem Schriftsteller einen Lebenssinn geben kann. Vielleicht ist also beides zum Überleben nötig – die wissenschaftlichen Erkenntnisse und der Glaube.

Das atemberaubende Spiel mit Gegensätzen

Somit predigt Life of Pi, ohne missionarisch sein zu wollen, von gegenseitiger Toleranz und schafft es, scheinbare Gegensätze zu vereinen.

Der Film lässt Grenzen verschwimmen und oft fragt man sich: Was ist die Wirklichkeit? Der Himmel, den man zu sehen glaubt entpuppt sich beispielsweise im nächsten Moment als perfektes Abbild auf der spiegelglatten Wasseroberfläche. Und gibt es so etwas wie die fluoreszierenden Quallenschwärme bei Nacht, den sich majestätisch über das Boot schwingenden kolossalen Wal wirklich oder sind sie alle nur Fieberträume und Halluzinationen eines halbtoten Jugendlichen auf hoher See? Durch Szenen wie diese wird bildgewaltige Kunst geschaffen, die uns nicht nur wegen der 3D-Technik gefangen nimmt. Mit visueller Brillanz glänzt dieser Film, der nicht umsonst unter anderem für den Oskar in der Kategorie „bestes Szenenbild“ nominiert ist. Er zeigt uns, was wir viel zu oft nicht mehr wahrnehmen: die atemberaubende Schönheit und Wandelbarkeit der Natur – und das, obwohl die Drehorte kaum variieren.

Eine filmische Herausforderung

Gerade deswegen galt „Life of Pi“ lange Zeit als nicht realisierbar. Aber in einer Zeit, in der man in der Lage ist, ganze Fantasiewelten digital zu erschaffen, was darf sich da noch unverfilmbar nennen? Das taiwanische Multitalent Ang Lee (u.a. Hulk, Brokeback Mountain) stellte sich der Herausforderung – und das sogar mit einem Laienschauspieler in der Hauptrolle. Lee ist bekannt dafür, das Neue zu suchen und sich nicht auf ein Genre festzulegen. Und tatsächlich! Es gelang ihm, den grundverschiedenen Reisebegleiter des mageren Jungen, den wilden und prächtigen Tiger, vollständig zu animieren. So musste die Filmcrew nach den Dreharbeiten erst einmal beweisen, dass der Tiger tatsächlich nicht real war. Die Natur wurde ironischerweise durch Computertechnologie plastisch und täuschend echt imitiert und wieder einmal stellt sich die Frage: Kann man dem, was man zu sehen meint vertrauen?

Life of Pi, das ist ein höchst poetisches Werk, mit vielen Botschaften: Es geht um den Wert einer Geschichte, Erzählkunst, den Sinn des Lebens, das wahre Wesen der menschlichen Natur und natürlich seiner Beziehung zu Gott. Sehenswert ist der Film dank der beeindruckenden Bilder, der exotisch-indischen Musik und der ausgefallenen Handlung allemal. Ob die vermittelten Botschaften dem modernen Sinnsuchenden allerdings den Glauben an Gott tatsächlich zurückgeben können, muss jeder für sich selbst entscheiden!

 

LIFE OF PI – SCHIFFBRUCH MIT TIGER, Vereinigte Staaten 2012 – Regie: Ang Lee. Buch: Yann Martel. Drehbuch: David Magee. Kamera: Claudio Miranda. Mit: Suraj Sharma. 127 Min.

 

Bilder: 20th Century Fox

 

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