„Faust“ – die Geschichte lebt wieder auf

von Andrea Kroner

Schon vor Goethes bekanntem Werk war der „Fauststoff“ eine der größten Mythen der deutschen Geschichte und ein ebenso beliebtes Thema in Literatur, Musik und Kunst. Und auch heute ist die Geschichte des Wissenschaftlers Dr. Faustus noch aktuell und wird vielfach rezipiert und adaptiert – so auch vom russischen Regisseur Alexander Sokurow im Jahr 2011.

 

„Dass ich erkenne, was die Welt im Innersten zusammenhält“

Obwohl sich Sokurow an Goethes Drama orientiert, lässt er die Handlung seines „Faust“ im 19. Jahrhundert spielen. Der Film steigt dabei sofort mitten in die Geschichte ein: Der Wissenschaftler Heinrich Faust seziert gerade eine Leiche. Er hofft, dadurch die Seele des Menschen zu finden. Doch durch seine kostspieligen Versuche und Experimente ist er in große finanzielle Schwierigkeiten geraten. Aus diesem Grund wendet er sich an den Pfandleiher Mauritius Müller. Dieser entpuppt sich jedoch als eine Art „personifizierter Teufel“ mit übernatürlichen Fähigkeiten und führt Faust zu allerlei skurrilen Orten der Stadt. Auf dem Weg verliebt sich der Gelehrte Faust in die junge Margarethe und glaubt, durch sie endlich die Antworten auf die zahlreichen Fragen des Lebens zu bekommen. Deshalb unterschreibt er auch einen Teufelspakt: Er verkauft seine Seele für eine Nacht mit der jungen Frau. Mauritius kann ihm diesen Wunsch zwar erfüllen, doch auch das Verlangen nach der jungen Frau kann Faust nicht wirklich erfüllen. Und so begibt er sich mit Mauritius auf eine weitere Reise, diesmal in die Weiten der Berge. Doch Faust wird so sehr von Zweifeln und Ängsten heimgesucht, dass er auch die leeren Versprechungen des Pfandleihers nicht mehr ertragen kann, weshalb er diesen steinigt. So endet der Film anders als Goethes Tragödie. Denn diese schließt mit Gretchens Erlösung: Obwohl sie ihr Kind umgebracht hat, vergibt ihr Gott diese Sünde und nimmt sie im Himmel auf. In Sokurows Film ist davon nichts zu spüren. Faust bleibt rast- und ratlos und schlägt sich weiter durch die Wildnis. In der letzten Szene ertönt Gretchens Stimme aus der Ferne und fragt ihn „Wohin gehst du?“. Darauf schreit Faust „Dahin! Weiter! Immer weiter!“. Dadurch wird deutlich, dass es für Faust kein Ende gibt, bis er die Antworten auf seine vielen wissenschaftlichen Fragen gefunden hat.

 

Ein Meister bei der Arbeit

Sokurow gilt als einer der letzten Autorenfilmer der Gegenwart und hat trotz fehlender Sprachkenntnisse den Film komplett auf Deutsch und mit deutschsprachigen Schauspielern gedreht. Der wahre Mittelpunkt seiner Filme sind jedoch nicht die Figuren. „Die wahre Hauptfigur der Filme Alexander Sokurows ist unsichtbar; es ist die Macht“, schreibt Peter Kümmel von der ZEIT. Um diese dem Zuschauer näher zu bringen, zeigt er in seinen Filmen Menschen, die von Macht besessen sind, wie sie mit ihr umgehen und an ihr scheitern. So hat sich Sokurov über zwölf Jahre hinweg mit dieser Thematik beschäftigt und eine „Macht-Tetralogie“ geschaffen. Die ersten drei Filme daraus handeln vom Untergang der machthungrigen Diktatoren Hitler, Lenin und Hirohito. Auf den ersten Blick scheint „Faust“, der Abschluss dieser Reihe, thematisch nicht in diese Reihe zu passen, doch auch sein Scheitern geht darauf zurück, dass er durch seine unersättliche Wissensgier um jeden Preis immer weiter geht, ohne dadurch jedoch etwas zu erreichen.

 

Zeitsprung in die Vergangenheit

Sprache ist die wichtigste Instanz und Macht bei „Faust“ – sowohl im ganzen Film, als auch bei der Figur selbst. Das Thema Sprache wird dabei jedoch sowohl auf technischer, als auch auf inhaltlicher Ebene problematisiert. Denn die Stimmen wurden nachsynchronisiert und an manchen Stellen gedoppelt, um den Unterschied zwischen gedanklicher und gesprochener Rede deutlich zu machen. Auch die Wortwahl ist oftmals schwierig, da viele altertümliche Begriffe, Fachausdrücke und verschachtelte Sätze verwendet werden. Darüber hinaus wird ständig zwischen dem gesprochenen Wort und den Gedanken Fausts gewechselt, was es noch weiter erschwert, der Handlung zu folgen. Andererseits eröffnet diese Sicht in das Innerste des Protagonisten dem Zuschauer eine seltene Möglichkeit, die Gefühle und Beweggründe der Figur besser verstehen und nachvollziehen zu können, was gerade bei dem komplexen Faust ein großer Vorteil ist.

Die Bilder sind dabei drückend und schwer, alles wirkt langsam, oft verschwommen, äußerst dunkel und trüb. Dadurch scheinen die Schauplätze bedrohlich und düster und man fühlt sich ins 19. Jahrhundert zurückversetzt. Diese Effekte erzeugt Sokurow durch verzerrende, bewusst verunreinigte Linsen.

Ein besonderes Filmerlebnis

Sokurow hat es in „Faust“ auf eine außergewöhnliche und auch etwas eigenwillige Weise geschafft, einen komplett neuen Zugang zu dem altbekannten „Fauststoff“ zu finden und ihn in eine neue Richtung zu interpretieren. Im Gegensatz zur derzeitigen Tendenz verleiht er seinen Filmen eher etwas urtümliches, als auf viele Spezialeffekte zu setzten. Und verleiht dadurch auch der Sprache eine größere Macht – sowohl in gesprochener Form, als auch in Fausts Gedanken.

Dadurch erzeugt er ein besonderes Filmerlebnis mit ungewöhnlichen Effekten, das zu Recht mit dem „Goldenen Löwen“ in Venedig ausgezeichnet wurde.

 

Foto: www.flickr.com/Matthias Schüssler (CC BY-NC-ND 2.0)

Weitere Artikel aus dieser Reihe:

Teil Eins: Vergessene Filme – verborgene Schätze

Teil Zwei: Der Meister der Stille

Teil Drei: „Faust“ – die Geschichte lebt wieder auf

Teil Vier: „Erleuchtung garantiert“ – wirklich?

Teil Fünf: „5×2“ – Wieso ging es schief?

Teil Sechs: „Moolaadé“ – Bann der Hoffnung