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False Balance

Welche Meinung bekommt eine Bühne?

Von Emilian Weber

In Talkshows und Zeitungen wird häufig dualistisch gedacht: Pro und Contra, Für und Gegen, Links und Rechts. Aber muss man wirklich immer auch die Meinung abbilden, die ihr Existenzrecht auf der medialen Bühne nur aus der Tatsache zieht, eine Gegensätzliche zu sein? 

Die Aufgaben des Journalismus 

Wenn jemand sagt ‚es regnet‘ und der andere sagt ‚es ist trocken‘, dann ist es die Aufgabe der Journalist*innen aus dem Fenster zu schauen. Bild: Pixabay

Es ist die Aufgabe der Journalist*innen, nicht nur eine Wahrheit darzustellen, sondern verschiedene Meinungen und Aspekte zu zeigen, damit Leser*innen sich selbst eine Meinung bilden können. Richtig? Nun, so einfach ist das nicht. Das Phänomen der false balance, also der falschen Ausgewogenheit oder Gewichtung, veranschaulicht eine mediale Verzerrung. Dabei werden die Minderheitenmeinungen auf eine Stufe mit der Mehrheits- bzw. Konsensmeinung gestellt und mit gleicher Gewichtung verhandelt. Durch diese vermeintlich neutrale Darstellung entsteht öffentlich der Eindruck eines völlig falschen Bildes des wissenschaftlichen Kenntnisstandes. Dieses Denkschema wird dann zur Gefahr, wenn es eine Position legitimiert, welche schlicht falsch ist, sich keine Grundlage zu dieser Annahme finden lassen oder sie über alle Maße unwahrscheinlich ist. Somit wird nicht zuletzt das Verbreiten von Falschinformationen begünstigt und Wissenschaftsfeindlichkeit normalisiert. Der amerikanische Journalist und Dozent Jonathan Foster formuliert deshalb einen anderen Auftrag an Journalist*innen: „Wenn jemand sagt, dass es regnet, und ein anderer, dass es trocken ist, ist es nicht Ihre Aufgabe, beide zu zitieren. Es ist Ihre Aufgabe, aus dem Fenster zu schauen und herauszufinden, was wahr ist.“ 

Wissenschaft ist keine Demokratie 

Viele Journalist*innen unterliegen einem Denkfehler: Meinungen und Haltungen seien empirisch geprüfte Aussagen. Es liegt ein Kategorienfehler zwischen wissenschaftlicher Aussage und gesellschaftspolitischer Meinung vor. Wissenschaft ist keine Demokratie, denn nicht jede Stimme wird gleich gewichtet. Starke Evidenz schlägt schwache Evidenz und deswegen gilt es in einer wissenschaftlich geführten Debatte nicht alle Meinungen gleichermaßen abzudecken, sondern aufgrund wissenschaftlichen Arbeitens und kritischen Denkens Fragen und Probleme zu lösen. Ein Teil des Kritischen Denkens beinhaltet, dass Hypothesen nie vollständig verifiziert werden können. Das heißt im Umkehrschluss, dass Wissen immer nur vorrübergehendes Wissen ist, bis Hypothesen schließlich falsifiziert werden konnten und somit verworfen werden. Trotzdem gibt es gleichzeitig bereits geklärte Fragen, die mit einer starken Evidenz, also dem Standhalten vieler Falsifikationsversuche, erkennbar sind. Genau diese Evidenz entscheidet, ob eine Hypothese eine Revolution des wissenschaftlichen Konsenses darstellt, wie beispielsweise die Relativitätstheorie von Einstein, oder aber eine bloße quergedachte Außenseitertheorie ist. Denn nicht eine Mehrheit beschließt hier, was die stärkste Evidenz sei, sondern die stärkste Evidenz versammelt eine Mehrheit hinter sich. So muss bei wissenschaftlichen Sachverhalten die faktenbasierten Positionen nach ihrer Evidenz geprüft werden und dann entschieden werden, ob diese diskursiv stattfinden sollen oder notwendig sind. 

Das Framing ist wichtig 

Auch in der Wissenschaft ist es wichtig, verschiedene Positionen darzustellen. Aber eben nicht, wenn diese sich nicht an den wissenschaftlichen Prozess halten. Wichtig ist deshalb das Framing zu unterscheiden. Denn im Gegensatz zur Wissenschaft ist es in einer Demokratie fundamental, die Meinungen von Minderheiten zu schützen. In Form der „Dialektik“, also in der Synthese unterschiedlicher Positionen, muss eine freie Debattenkultur möglich sein, die Einstellungen sichtbar macht, welche nicht von der Mehrheit vertreten werden. Hier lässt sich Jürgen Habermas [1] heranziehen mit dem Ideal des Diskurses. Er nennt in der Theorie des kommunikativen Handelns vier Ideale der Sprechaktsituation:  

  1. Gleiche Chancen auf Dialoginitiation und -beteiligung
  2. Gleiche Chancen der Deutungs- und Argumentationsqualität
  3. Herrschaftsfreiheit
  4. Keine Täuschung der Sprechintentionen

Dadurch erzeugt man gezwungener Weise eine false balance, die gewissermaßen gewollt ist, aber auch ihre Grenzen hat, bzw. haben sollte. Diese Grenzen lassen sich des Philosophen Karl Poppers [2] orten: Toleranz zu verteidigen erfordert die Intoleranten nicht zu tolerieren. Positionen, die also demokratiefeindlich oder -zersetzend sind, dürfen oder müssen gar im Geiste der wehrhaften Demokratie aus dem Debattenraum ausgeschlossen werden. Denn eine weitere Aufgabe der Journalist*innen ist es, die Meinungsfreiheit zu schützen. Der Ausschluss findet dann nicht durch die Entscheidungshoheit der Journalist*innen willkürlich statt – Stichwort Gatekeeping – sondern vielmehr nach unserem demokratischen Wertekompass.  

Begrenzte Aufmerksamkeit in den Medien

Aufmerksamkeit ist in der heutigen Medienlandschaft sehr wichtig, aber auch begrenzt. Es findet ein regelrechter Kampf der Akteure um die wertvolle, begrenzt zur Verfügung stehende Ressource der Aufmerksamkeit statt. Aufmerksamkeit bekommt man durch Aufregung, Zuspitzung und Empörung. Es geht darum, Klicks zu häufen, denn dann wird auch verdient. Empörung klickt sich nun mal häufiger als sachliche Informationen. Diesen differenzierten Dialog brauchen wir aber in der Gesellschaft zur freien Meinungsbildung. Bei einer medialen Debatte, die nach Meinungen und Haltungen organisiert wird, ist die Gästeauswahl dann eben auch subjektiver und unjournalistischer.  

Satiriker Jan Böhmermann und Moderator Markus Lanz diskutieren bei der Jubiläumsveranstaltung der Wochenzeitung die ZEIT darüber, wen man in eine Talkshow einladen soll und wen nicht. Bild: zeit.de

Genau das warf beispielsweise Satiriker und Moderator Jan Böhmermann dem Talkmaster Markus Lanz bei der Podiumsdebatte der Wochenzeitung die ZEIT vor. Dabei ging es um das Einladen und die mediale Bühnenvergabe an Menschen, die zu gewissen Sachverhalten fachlich ungeeignet seien. Böhmermann sagte, er finde „[…] schwierig, wenn man Leuten eine Bühne gibt, die eine Meinung vertreten, die man nur deswegen veröffentlicht, weil man sagt man muss auch die andere Seite sehen“. Markus Lanz erwiderte und verteidigte sich mit der Frage: „Wer entscheidet, was ein guter Gast ist?“  

Die Antwort, wie bereits erwähnt, liegt in der Art der Debatte, im Framing. Bei wissenschaftlichen Aussagen müssen diese einer Qualitätskontrolle des journalistischen Arbeitens unterzogen werden, die dann auch zu einem Ausschluss führen kann. Bei kontroversen Meinungen muss derweil mithilfe der Dialektik im Gespräch und der Auseinandersetzung eine Prüfung der Sinnhaftigkeit stattfinden.

Kaputte Debattenkultur 

Im Zuge von Diskursen und Auseinandersetzungen fällt häufig die Aussage, die Debattenkultur sei kaputt. Dabei gibt es konstruktive Debatten, man muss nur die Augen öffnen. Bild: Pixabay

„Aber was ist mit der Meinungsfreiheit? Darf man jetzt den gar keine unbequemen Meinungen mehr haben?“ Und dann wird darüber geschimpft, die Debattenkultur sei kaputt, und früher sei alles besser gewesen.  

Erstens: Doch, man darf alles sagen, nur muss der Rest das ja nicht für gut erklären. Das Recht sich frei zu äußern, trifft auf das Recht, sich auf Geäußertes frei zu äußern. Dabei dürfen Aussagen als schlecht, demokratie-, menschenfeindlich oder schlicht als falsch empfunden werden. Und das gehört genauso zu einer freien Demokratie, die, wir erinnern uns, auch wehrhaft ist.  

Und Zweitens: Die Debattenkultur ist das was sie ist, aber bestimmt nicht schlimmer als früher. Vielleicht ist es sinnvoll zuerst zu unterscheiden, was denn als Beitrag einer „Kultur“ oder „Debatte“ gelten sollte und was als solcher verkannt wird. Denn oftmals geht es dabei um Internetkommentare, die erstmal als Teil der Debatte anerkannt werden müssen, um im nächsten Schritt dann eine kaputte Debattenkultur ausrufen zu können. Wenn jemand im Netz Hasskommentare, Hetze und digitale Gewalt verbreitet, so ist das wohl genauso wenig ein gewinnbringender Beitrag zur Debatte, als zur Kultur, oder eben beidem. Hass und Gewalt sollte man als das benennen, was sie sind. Und dann stellt sich die Frage nach der Wahl des Formats. Klar kann man zugespitzte und polarisierende Talkshows anschauen, die im dualistischen Sinne einer Position die Gegenseitige gegenüberstellen und sich dann darüber aufregen. Man kann seinen Blick aber auch weiten und vielfältige Beiträge finden, die den Fokus mehr auf „Talk“ setzen als auf „Show“. Wenn man ausgehend von schlechtem Fernsehprogramm und miserablen Social-Media-Posts zum Schluss kommt, sie würden die Wirklichkeit der Debattenkultur abbilden und diese Debattenkultur in einem zweiten Schritt als kaputt diagnostiziert, unterliegt man selbst der Dynamik einer false balance.

Quellen:

[1] Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt am Main 1981.

[2] Karl Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Band 1. Francke, Bern 1957.