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Die ethischen Grenzen des Journalismus

Eine Gratwanderung zwischen kommerziellem Journalismus und moralischen Wertvorstellungen

Von Nadja Lämmle

Anfang September 2015 verbreitete sich auf Twitter rasend schnell ein Foto, welches später für Europa zum Symbolbild der Fluchtbewegung 2015/2016 wurde. Darauf zu sehen ist der leblose Körper eines Jungen, der an der türkischen Küste vor Bodrum angespült wurde. Bilder wie diese werfen die Frage auf, inwieweit es ethisch vertretbar ist, sie in den Medien für die Politik und den Journalismus zu instrumentalisieren. Wie schmal ist der Grat zwischen dem kommerziellen Journalismus sowie der damit verbundenen Medienethik einerseits und den moralischen Wertvorstellungen andererseits tatsächlich? 

Die Grenzen der Medienfreiheit 

Damit Medien ihrer Informations-, Meinungsbildungs- und Kontrollfunktion in der Gesellschaft nachkommen können, ist die publizistische Vielfalt unentbehrlich. Eine Voraussetzung für die öffentliche Meinungsbildung ist das Abbilden verschiedener Ansichten und Positionen in der Gesellschaft durch die Medien. Diese sind grundsätzlich autonom vom Staat organisiert. Ob in den Printmedien, im Rundfunk, im Internet oder im TV, es muss möglich sein, Kritik zu äußern und auf Missstände aufmerksam zu machen.  

Das kollidiert allerdings oftmals mit dem Schutz des Einzelnen. „Die Achtung vor der Wahrheit, die Wahrung der Menschenwürde und die wahrhaftige Unterrichtung der Öffentlichkeit“ ist aus diesem Grund in dem Pressekodex des deutschen Presserates als wichtige Richtlinie für den deutschen Journalismus festgelegt. Was genau die Achtung der Menschenwürde gefährdet oder sie verletzt, steht dort allerdings nicht geschrieben und ist somit der Empfindung des Einzelnen überlassen. Zudem gilt das Recht am eigenen Bild, das es verbietet, Fotos ohne die Erlaubnis des Abgebildeten zu veröffentlichen. Eine Ausnahme stellen dabei nur Personen der Öffentlichkeit dar, die für die Gesellschaft und die allgemeine Meinungsbildung von Interesse sind. Ein Blick in einige Boulevardmagazine oder Internetforen zeigt allerdings, dass die eben genannten Maßnahmen zum Schutz des Persönlichkeitsrechts oft außer Acht gelassen werden. An dieser Stelle kommt mitunter die Medienethik ins Spiel, deren Aufgabe es ist, einen Maßstab in und für die Medien in Bezug auf verantwortliches Handeln und moralische Grenzen zu schaffen. 

Medienethik – Verantwortliches Handeln in der Medienwelt

Das Ziel der Disziplin „Medienethik“ ist es, auf Defizite im Bereich der Medieninhalte, Medienangebote und Mediennutzung aufmerksam zu machen. Zudem wird sie zur Verantwortungszuschreibung herangezogen. Bild: pixabay

Die Medienethik setzt sich mit der medialen Kommunikation und deren Auswirkungen auf die Gesellschaft und Einzelne auseinander. Sie dient somit als eine Art Leitfaden, wenn es um die Produktion, Rezeption und Distribution von Medien geht. So wird beispielsweise der gesellschaftliche Stellenwert von medialen Inhalten im Hinblick auf die Moral und Ethik analysiert oder die Begründungen für Werte hinterfragt, die die Basis des menschlichen und politischen Handelns im Mediendiskurs bilden. 

Auch im eingangs genannten Fall des toten Aylan Kurdi aus dem Jahr 2015 wurde die ethische Vertretbarkeit und die Verantwortung der Medien viel diskutiert. Obwohl die Fotografie die menschliche Katastrophe abbildet, wie wohl keine andere zu diesem Zeitpunkt und auf diese Weise vielen Menschen die problematische Lage der „Flüchtlingskrise“ verdeutlichte, ist fraglich, ob es ethisch korrekt ist, das Bild des Toten abzudrucken und zu verbreiten.

Medienethik im Fall des toten Aylan Kurdi 

Um zu entscheiden, inwieweit die Veröffentlichung des Fotos des kleinen Geflüchteten vertretbar ist, müssen mehrere Faktoren und Argumente abgewogen werden.  

Da ist zum einen die Würde des Verstorbenen. Laut dem Bundesverfassungsgericht „endet die in Art. 1 Abs. 1 GG aller staatlichen Gewalt auferlegte Verpflichtung, dem Einzelnen Schutz gegen Angriffe auf seine Menschenwürde zu gewähren, nicht mit dem Tode“. Das kann für den Journalismus eine Gratwanderung bedeuten. Denn eine angemessene und nicht-sensationelle (Bild-)Berichterstattung generiert nicht nur deutlich weniger Aufmerksamkeit als reißerische Bilder und Texte, sondern löst auch kaum schockierte oder aufgerüttelte Reaktionen bei dem Publikum aus. Es muss also abgewogen werden, wie die Dinglichkeit und der Umfang der Situation dargestellt werden können, ohne die Würde des Toten zu verletzen. Zudem existieren keine Vorgaben und keine Regelwerke dazu, was beispielsweise auf einem Bild nicht zu sehen sein darf, um die Würde des Abgebildeten zu wahren. Einige rechtfertigen das Publizieren von Bildern wie diesen mit dem Argument, dass die Würde des Individuums nicht angegriffen wird, da das Gesicht des Betroffenen nicht sichtbar und derjenige somit nicht identifizierbar sei. Jedoch ist diese Begründung fraglich, wie der Medienethiker und Theologe Dr. Alexander Filipovic in einem Kommentar im Meedia Online-Magazin betont.

Auch Kinder und Jugendliche werden im Internet ungeschützt mit Schock-Fotos konfrontiert. Das kann bleibende Schäden verursachen. Bild: Unsplash

Denn es gilt abzuwägen, ob nicht schon alleine das Abbilden der Person in solch einer Lage die Menschenwürde des Individuums verletzt. Im Endeffekt gilt, dass die Entscheidung über die Veröffentlichung eines Fotos wie dem von Aylan Kurdi und damit die ethisch moralische Verantwortung bei den Verfassern des dazugehörigen Berichts beziehungsweise der Redaktion liegt. 

Ein weiterer wichtiger Punkt, den es zu berücksichtigen gilt, ist der Schutz der Rezipierenden und die Zumutbarkeit eines solchen Bildes. Erwachsene und Kinder werden ungeschützt mit dem emotional belastenden Foto konfrontiert, merkt Dr. Alexander Filipovic im „Netzwerk Medienethik“ an. Gerade Kinder und Jugendliche haben heutzutage oftmals freien Zugriff auf das Internet und bekommen somit ungefiltert Beiträge angezeigt, deren Inhalte gegebenenfalls nicht für deren Altersklasse geeignet sind. Aber auch schon das Herumreichen der Tages- oder Boulevardzeitung innerhalb der Familie am Frühstückstisch kann zur ungewollten Konfrontation mancher Familienmitglieder mit den erschütternden Bildern führen. „Wie viele Erwachsene haben Kinder und Jugendliche begrenzte oder zu wenige Möglichkeiten, das zu verarbeiten und können Schaden nehmen“, so Filipovic.

Die Aufgabe des Journalismus

Zugleich muss der Journalismus seiner Kritik- und Kontrollfunktion in der Gesellschaft nachkommen. Die wahrheitsgemäße Berichterstattung über die Fluchtmigration mitsamt ihrem Ursprung, ihrem Verlauf und ihren Folgen gehört damit zu seinen Aufgaben. Darunter fällt auch das Abbilden des komplexen menschlichen Leidens, das die Notlage mit sich bringt. Bilder wie die von Aylan Kurdi verdeutlichen die karitative Niederlage und unterstreichen die Dringlichkeit der Lage so nachdrücklich, wie es Worte wohl kaum schaffen. Dadurch wird ein Exempel statuiert und Rezipierende werden nicht nur mit der Realität konfrontiert, sondern sie werden auch dazu angehalten, sich je nach Möglichkeit zu engagieren. Manche Journalisten argumentieren zudem, dass durch solch schockierende Beiträge auf die Politik Druck zum Handeln ausgeübt wird. Diese Argumentation kann den vorangegangenen Überlegungen entgegengehalten werden. Fraglich ist jedoch, ob Bilder wie die des toten Jungen wirklich nötig sind, um auf das Problem aufmerksam zu machen und die Gesellschaft beziehungsweise die Politik zur Veränderung zu bewegen. Bedenkenswert ist auch, ob das Publizieren eines solchen Fotos bei Rezipierenden nicht vielmehr eine Schockstarre auslöst, als zum Handeln anzuregen.

Schock oder Würde – Wann ist das Maß voll? 

Die Wahrung der Menschenwürde ist im Pressekodex als eines der wichtigsten Gebote des Journalismus festgehalten. An welchem Punkt die Verletzung der Würde eines Menschen eintritt, steht allerdings nicht geschrieben und ist somit für jeden Einzelfall Auslegungssache. Hier setzt die Medienethik an, deren Aufgabe es ist, einen Maßstab in den und für die Medien in Bezug auf verantwortliches Handeln und moralische Grenzen zu schaffen. Auch wenn der Journalismus dazu verpflichtet ist, die Gesellschaft sorgfältig mit wahrhaftigen Informationen und Neuigkeiten aus der ganzen Welt zu versorgen, ist das Publizieren von Fotos wie dem des toten Aylan Kurdi sehr problematisch. Das liegt zum einen daran, dass die Würde der abgebildeten schutzlosen Person durch das Dokumentieren seiner misslichen Lage verletzt wird. Zum anderen werden Menschen ungeschützt mit Bildern wie diesen konfrontiert und somit erschüttert, obwohl sie dies eventuell gar nicht wollten. Das Meedia Online-Magazin zitiert zu der Ethik-Debatte beispielsweise den SZ-Digitalchefredakteur Stefan Plöchinger: „Ist es tatsächlich so, dass Menschen dem Tod erst ins Auge sehen müssen, um das tödliche Potenzial politischer Entscheidungen zu verstehen? Reichen nicht Worte wie zu Beginn dieses Artikels, um begreifbar zu machen, was vor jenem Strand passiert ist, was an vielen Orten gerade vielen Menschen passiert?“. Hinter der Argumentation, dass man mit derartigen Schock-Fotos die Gesellschaft und Politik aufrütteln und zur Veränderung bewegen könne, steckt in Wirklichkeit wahrscheinlich des Öfteren die Idee, das Sensationsinteresse der Bevölkerung zu befriedigen und Aufmerksamkeit zu generieren. Dr. Alexander Filipovic meint dazu in einem Statement zu einem schockierenden Foto von zusammengepferchten toten Geflüchteten in einem Kühllaster: Das Bild anzusehen, übersteigt unsere Fähigkeiten, mit dem Unmenschlichen umzugehen. Es motiviert nicht zum Handeln, nicht zum Einsatz für die Flüchtlinge. Das Bild bewegt zum Wegschauen, es lähmt durch das Grauen. Vor diesem Hintergrund ist das Veröffentlichen von derartigen Fotografien medienethisch nicht vertretbar. 

Quellen:

Altrogge, Georg (2020): Ethik-Debatte: Warum es richtig ist, das Foto des toten Flüchtlingsjungen am Strand zu zeigen, MEEDIA, [online] https://meedia.de/2015/09/03/ethik-debatte-warum-es-richtig-ist-das-foto-des-toten-fluechtlingsjungen-am-strand-zu-zeigen/ [abgerufen am 10.01.2022]. 

Branahl, Udo Tobias Eberwein (2011): Was Medien dürfen und sollen: Sensation und Gesetze | bpb, bpb.de, [online] https://www.bpb.de/izpb/7497/was-medien-duerfen-und-sollen-sensation-und-gesetze [abgerufen am 18.11.2021]. 

Die postmortale Schutzwirkung der Menschenwürdegarantie (2018): Wissenschaftliche Dienste Deutscher Bundestag, [online] https://www.bundestag.de/resource/blob/590006/06be329f5e98a5f0da17ec858426e7a4/WD-3-384-18-pdf-data.pdf [abgerufen am 16.01.2022]. 

Grimm, Prof. Dr. Petra (2019): Medienethik – Befähigung zu einer reflektierten Haltung, in: Medienethik – Werte für eine digitalisierte Welt, Bd. 1, Nr. 1, S. 9–12, [online] https://bittewas.de/fileadmin/Redaktion/downloads/Medienethik/Medienethik-1-https://meedia.de/2015/08/31/medien-ethiker-kritisieren-schock-foto-aus-fluechtlings-lkw-dreister-verstoss-gegen-grundsaetze-des-journalismus/ 

Filipovic, Alexander (2015): Das Bild des toten Ailan – ein medienethischer Kommentar, Netzwerk Medienethik, [online] https://www.netzwerk-medienethik.de/2015/09/03/das-bild-des-toten-ailan-ein-medienethischer-kommentar/ [abgerufen am 15.01.2022]. 

Heesen, Dr. Jessica/Dr. Marlis Prinzing/Dr. Alexander Filipovic/Dr. Tobias Eberwein (2020): Medien-Ethiker kritisieren Schock-Foto aus Flüchtlings-Lkw: „Dreister Verstoß gegen Grundsätze des Journalismus“, MEEDIA, [online] https://meedia.de/2015/08/31/medien-ethiker-kritisieren-schock-foto-aus-fluechtlings-lkw-dreister-verstoss-gegen-grundsaetze-des-journalismus/ [abgerufen am 10.01.2022]. 

Pressekodex – Presserat (o. D.): Trägerverein des Deutschen Presserats e.V., [online] https://www.presserat.de/pressekodex.html [abgerufen am 16.01.2022].