Die Inszenierung von Wahrheit – wie wir Jean Rouch entdeckten
Es ist Sommer in Paris. Eine Gruppe scheinbar völlig unterschiedlicher Menschen trifft hier aufeinander. Jean Rouchs Film Chronique d’un eté erzählt ihre jeweiligen Geschichten – Liebe, Glück und Einsamkeit. Das Übliche also? Nein, denn in der nächsten Sequenz setzten sich eben diese Personen an einen Tisch, um über die Authentizität ihrer eigenen Darstellung zu diskutieren. Bei Jean Rouch wird das Spiel mit der Kamera zum Spiel mit der Wahrheit selbst.
Ein Gastbeitrag von Elisabeth Mahle
Die Anfänge
Vor circa zwei Jahren fand am Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft eine Gruppe von filmversessenen Bachelor-Studierenden zusammen, die sich schnell in zwei Dingen einig war: Zum einen fanden wir das Angebot studentisch initiierter Veranstaltungen zu spärlich und zweitens kam uns, in der Auseinandersetzung mit der EKW (Empirischen Kulturwissenschaft) das Thema (ethnografischer) Film zu kurz. Schnell stand die Idee eines regelmäßigen Filmabends im Raum. Seit dem Sommersemester 2011 findet nun das Lichtspiel im LUI regelmäßig statt.
Unterhaltung meets Wissenschaft
Verstand sich das Projekt Lichtspiel im LUI bisher also vordergründig als Plattform für filminteressierte Studierende mit EKW-Brille, so brachte uns in diesem Semester die Frage nach dem Film als ethnografische Methode auf die Spuren des Filmemachers Jean Rouch. Seit Oktober zeigt das Lichtspiel im LUI in einem Jean Rouch-Spezial Filme des Franzosen. Das Oeuvre des Filmemachers ist gewaltig: Der 1917 in Paris geborene Regisseur und Anthropologe drehte über 120 Filme, vor allem in Afrika. Speziell die Kultur der Zarma und der Songhai übten Faszination auf ihn aus.
Wie seine Kollegen begann auch Rouch zunächst damit, Riten und Bräuche zu dokumentieren, wandelte sich jedoch im Verlauf seines Schaffens immer stärker zum Gegenspieler und Kritiker dieser filmischen Verfahrensweisen. Die zeitgenössischen ethnohrafischen Filme standen teilweise noch tief in der Tradition derjenigen Filme, welche im Zuge der Kolonialisierung auf Forschungs- und Endeckungsreisen entstanden. Das Interesse richtete sich hierbei darauf, biologisch-anthropologische Kenntnisse über die „fremden Stämme und Völker“ zu erlangen. Unter der Annahme, dass diese schriftlosen Kulturen bald ausgestorben sein würden, wurden vor allem deren kultische und technische Tätigkeiten abgefilmt.
„Kino-Wahrheit“
Rouch gehört zu einem Kreis von ethnografischen Filmemachern, die diese Art des reinen Abfilmens von Kultur(-en) modifizierten. In Rouchs Verständnis verändert sich das abgefilmte Phänomen durch die Anwesenheit des Filmemachers beziehungsweise der Kamera.
Aus diesem Verständnis erwächst, dass Rouch sich nie der Illusion hingab (absolute) Realität oder Wahrheit zu filmen. Für ihn existiert etwas, das er Kino-Wahrheit nennt.
Das Abschiednehmen von der Illusion, mit der Kamera eine vorgesetzte Realität objektiv abbilden zu können, hat weitreichende filmische Konsequenzen. Exemplarisch sichtbar werden diese in Rouchs Methodik: Die Kamera, vormals neutraler, distanzierter Beobachter, wird hineingeholt in das Geschehen. Sie – und somit zugleich der Filmmacher – nimmt buchstäblich an der Handlung teil. Die Beeinflussung der vorfilmischen Realität durch die Kamera ist in Rouchs Verständnis nicht mehr ausschließlich ein verzerrender Faktor, der reflektiert werden muss. Vielmehr wird die teilnehmende Kamera bewusst als Methode eingesetzt. Sie dient dazu, die Darsteller im Film dazu zu bringen, mit ihr zu interagieren, um zuletzt eine „Wahrheit“ zu provozieren, die ohne sie nicht in Erscheinung treten könnte. Aus diesem Verständnis heraus wuchs eine Dokumentarfilmbewegung, die später den Namen Cinéma vérité tragen und seine Geburtsstunde im Film Chronique d’un eté feiern sollte.
Schaut vorbei – Jean Rouch und sein spezieller Blick
Das Lichtspiel im LUI zeigte bisher: Les maîtres fous (1954), La chasse au lion à l’arc (1967) und Chronique d’un eté (1960). Am 12. Dezember um 20.00 Uhr lohnt es sich, den Weg zum Schloss auf sich zu nehmen. Dann wird der letzte Film in diesem Jahr vom Lichtspiel im LUI gezeigt. Es handelt sich um Mosso Mosso. In diesem Film wird der Filmemacher höchstpersönlich portraitiert. Jean-André Fieschi zeichnet mit seinem Film das Bild eines Menschen, der durch den Geist von Kino und Film geprägt ist. Rouchs Motto „So tun als ob das, was man zeigt wahr ist, bringt einen der Wirklichkeit am nächsten“ wird in dieser Hommage an den Cinéma vérité Begründer anschaulich dargestellt.
Wessen Interesse an Jean Rouch jetzt geweckt ist, der lasse sich Mosso Mosso nicht entgehen.
Außerdem kann schon der nächste Termin vorgemerkt werden: Im neuen Jahr befasst sich das Lichtspiel mit Regisseuren, die in Rouchs Fußstapfen treten. Am 9.1.2013 zeigen wir Sans Soleil (1983) von Cris Marker. Zu Gast sein wird Dr. Ulrich Hägele vom Institut für Medienwissenschaft. Er wird eine kleine Einführung in das ethnografische Sehen geben.
Foto: flickr/mcatarifa (CC BY-SA 2.0)
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