Die Gedanken sind frei?!
Von Miriam Lenz
„Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten, sie fliehen vorbei wie nächtliche Schatten. Kein Mensch kann sie wissen, kein Jäger erschießen, es bleibet dabei: die Gedanken sind frei.“ Seit jeher ist diese Aussage, die in einem deutschen Volkslied getroffen wird, wahr. In der menschlichen Geschichte veränderten zwar Kriege die Landkarte und Kulturen und Religionen setzten sich zu Ungunsten anderer durch, doch niemals wurde etwas anderes als äußere Grenzen angegriffen. Die Grenze, nämlich die zu unseren Gedanken, vor der wir dank der Technik heute stehen, ist eine ganz andere als alle, die wir davor verschoben oder zerstört haben. Fällt diese Grenze, verändert sich alles.
Gedankenlesen mittels Gehirn-Computer-Schnittstellen
Mit Gehirn-Computer-Schnittstellen oder brain-computer-interfaces wird Gedankenlesen möglich. Es handelt sich um eine mit technischen Mitteln hergestellte direkte Interaktion zwischen Gehirn und Maschine. Hierbei werden Hirnaktivität und Hirnströme einer Person mittels EEG beobachtet und analysiert. Grob gesagt: Weiß man einmal, wie das Muster für den Befehl, den Arm zu heben, aussieht, erkennt man ihn immer wieder. Für einen reibungslosen Ablauf muss der Computer einerseits lernen, die individuellen Muster der interagierenden Person zu erkennen, und die Person muss andererseits lernen, den Computer zu steuern. Jede Schnittstelle passt somit genau zu einer Person. Bisher werden Gehirn-Computer-Schnittstellen vor allem in der Medizin eingesetzt, sollen bald aber auch in Computerspielen Anwendung finden und auf immer mehr Bereiche unseres Lebens ausgeweitet werden.
Wie genau es Gehirn-Computer-Schnittstellen möglich machen, mit Gedankenkraft etwas nicht Körpereigenes zu bewegen, zeigt das Video der Max-Planck-Gesellschaft auf anschauliche und verständliche Weise:
Das Video verdeutlicht, dass ein Gehirn unglaublich viele Rechenoperationen gleichzeitig ausführt. Deshalb konzentrieren sich die Forscher stets nur auf einen Hirnbereich, wenn sie nach Mustern in den Hirnströmen suchen. Zum Beispiel auf den, der für die Ausführung von Bewegung zuständig ist. Dort wiederum separiert man die Signale, die etwa für die Beinbewegung zuständig sind. So wird es möglich, dass Personen, die einen Schlaganfall hatten, nur durch einen Gedanken eine Beinprothese bewegen. Sind allerdings die Neuronen im motorischen Cortex beschädigt, wie das bei Locked-in-Patienten der Fall ist, sind die Signale für den Computer zu schwach. In solchen Fällen kann man den Computer darauf trainieren, statt Bewegungsimpulsen Emotionen als solche zu deuten. Stellt sich der Patient dann Freude vor, kann das der gespeicherte Befehl für das Heben des Beines sein.
Dem direkten Gedankenlesen kommt das Brain-to-Text-Verfahren noch näher. Hier können aus Gehirnströmen mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit Wörter und Sätze rekonstruiert werden. Hierfür wird ein Elektrodennetz direkt auf die Großhirnrinde einer Person gelegt, während diese spricht. Anhand der gewonnenen Daten und des Wissens, was gesagt wurde, wird ein Spracherkennungs-Algorithmus auf die Signale trainiert. Auch von diesem Prozedere könnten Locked-in-Patienten profitieren und wieder eine Möglichkeit bekommen, zu kommunizieren. Bisher ist die Datenbasis allerdings noch zu gering. Dafür ist ganz anderes bereits möglich. So gelang es Forschern, den Bewegungsimpuls einer Person aufzufangen und mittels Internet auf eine andere Person zu übertragen, die diesen dann ausführte.
Ein schmaler Grat zwischen Nutzen und Gefahr
So faszinierend und hilfreich diese Erkenntnisse auch sind, sie sind auch beängstigend. Wenn das Gedachte über das Internet übertragen wird, kann es theoretisch jedem zugänglich und nur schwer aus dem Netz zu entfernen sein. Auch wird schon darüber nachgedacht, Gehirn-Computer-Schnittstellen in militärischen Einsätzen zu verwenden. So könnte ein nicht fachkundiger Soldat aus dem Hintergrund von einem Fachmann gesteuert werden. Ebenso könnten Gehirn-Computer-Schnittstellen in Verhören eingesetzt werden, wie das schon auf freiwilliger Basis mit Lügendetektoren gemacht wird. Gelangt die Technologie allerdings in falsche Hände, könnte sie auch dafür eingesetzt werden, Gefangenen Geheimnisse zu entreißen. Und auch die Wirtschaft wird ein großes Interesse an den Gedanken und Kaufpräferenzen ihrer Kunden haben. Es wird daher Regelungen brauchen, die wenn die Technik einmal so weit ist, festlegen, was gemacht werden darf und was nicht. Allerdings schützen auch Gesetze nicht vor Missbrauch. Zudem muss man sich bewusst machen, dass es nicht immer ein EEG oder Elektrodennetz auf der Großhirnrinde braucht, um zu erraten, was wir denken. So sagte bereits der Vorstandsvorsitzende von Google, Eric Schmidt: „Wir wissen, wo du bist. Wir wissen, wo du warst. Wir können mehr oder weniger wissen, was du gerade denkst.“ Denn Google hat ein globales Netzmonopol, speichert und analysiert unsere Daten, kann unsere E-Mails mitlesen und weiß anhand unserer Suchanfragen, was uns interessiert. So groß ist da der Unterschied zum direkten Gedankenlesen mittels EEG gar nicht mehr.
Noch gibt es keine universale Gedankenlesmaschine. Die Datenbasis ist zu gering, die Hirnströme und die daraus abgeleiteten Muster von Menschen zu unterschiedlich und sogar die Muster einer einzelnen Person können sich im Laufe ihres Lebens ändern. Auch ist es noch nicht möglich, komplexe Gedankengänge zu erkennen. Die Wissenschaft ist sich daher einig, dass niemandem gegen seinen Willen Gedanken entrissen werden können. Allerdings glaubte man auch noch bis vor Kurzem, die Gedanken seien frei.
Fotos: flickr.com/Ars Electronica (CC BY-NC-ND 2.0), flickr.com/Derek Bruff (CC BY-NC 2.0)