Eine Frage der Macht
Von Miriam Lenz
Sagt Ihnen „Cold Turkey“ etwas? Damit ist allgemein ein Entzug gemeint, richtig. Aber es ist auch ein Computerprogramm, das für eine vom Nutzer bestimmte Zeit ausgewählte Internetseiten auf dem eigenen Rechner blockt, sozusagen den Entzug einleitet. Das Programm wird von Menschen benutzt, die es nicht mehr aus eigener Kraft schaffen, nicht im Internet zu surfen. Dieses Gefühl kennen immer mehr Menschen, denn erhöhter Medienkonsum kann suchtartige Symptome erzeugen. Doch lässt das bereits den Schluss zu, dass viele von uns von Medien abhängig sind und uns diese dominieren?
Vollkommene Selbstbestimmtheit ist unmöglich. Das sagt der amerikanische Medientheoretiker Harold A. Innis. Er glaubt, dass die aktuell dominanten Medien stets die Gesellschaft prägen. So haben wir beispielsweise einen Großteil unseres Lebens, wie etwa unser Kommunikationsverhalten oder unsere Jobs, an die Arbeit mit dem Computer angepasst. Ebenso ist es für uns normal geworden, immer weniger Wissen im Kopf zu behalten, weil wir uns daran gewöhnt haben, dieses mit einem Mausklick online abrufen zu können. Aktuell fühlen sich aber viele schon so sehr verändert und fremdbestimmt, dass sie wie etwa mithilfe von „Cold Turkey“ versuchen, sich aktiv der Macht eines Mediums zu entziehen.
Dass wir jetzt überhaupt gegensteuern müssen, liegt laut dem Medienwissenschaftler Neil Postman daran, dass wir nur zu Beginn der Nutzung eines Mediums dieses kontrollieren können. Ist es erst einmal Teil unseres Alltags, wird es immer schwieriger, das Medium unabhängig zu betrachten. Mit den Worten von McLuhan stehen wir dann unter einem unsichtbaren, aber dominanten Regime der Medien. Ein gewisse Skepsis sollte daher allen Medien gegenüber bestehen bleiben, denn Medien, das wussten schon der französische Soziologe Michel Foucault und sein Landsmann Jean-Louis Baudry, wirken vor allem unterbewusst, wodurch es leicht passieren kann, dass der Nutzer unter ein Diktat gestellt wird. Unsere Unmündigkeit wird aktuell vor allem dann sichtbar, wenn es um den Verkauf unserer im Internet erzeugten Daten an die Wirtschaft geht. „So eine Unverschämtheit!“, sagen wir empört, aber unsere Accounts bei den betreffenden Unternehmen löschen, das wäre dann doch auch zu schade.
Mit Prothesen zur Göttlichkeit
Mit all seinen technischen Hilfsmitteln und Prothesen will der Mensch seine eigene Begrenztheit, wie etwa nicht an verschiedenen Orten gleichzeitig sein zu können, überschreiten, da sind sich Ernst Kapp, Marshall McLuhan, Arnold Gehlen und Sigmund Freud einig. Dagegen ist grundsätzlich auch nichts einzuwenden, doch hat der Mensch sich schon allzu sehr an seine Prothesen und die Nutzung der Medien gewöhnt. Auflehnungsversuche wie „Cold Turkey“, „Managerurlaub im Funkloch“ oder „Handy-Fasten“ fallen hierbei nicht wirklich ins Gewicht. Es ist so gut wie nicht möglich, aus unserer Medienkultur auszusteigen, da sonst die aktive Teilnahme am gesellschaftlichen Diskurs gefährdet ist, so Hans Magnus Enzensberger.
Muss man Horkheimer und Adorno also recht geben, die den Menschen als Glied in einer Produktionskette sahen, der durch immer neue technische Möglichkeiten darüber hinweggetäuscht wird, dass nie wirklich Neues angeboten wird? Wird der Mensch tatsächlich von Medien produziert, von der Technik beherrscht, und legen technische Standards fest, was Menschsein bedeutet, wie Friedrich A. Kittler glaubte?
Ohne den Menschen geht es nicht
Medien können abhängig machen, manipulieren und beeinflussen. Deshalb muss man den Menschen aber noch lange nicht als wehrlosen Rezipienten sehen, der den Anschluss an die Außenwelt verliert, wenn er sich nicht durch die Medien up to date hält.
Es liegt bei uns, wie viel Macht wir den Medien zugestehen und wie abhängig wir uns von ihnen machen. So können wir uns beispielsweise bemühen, bewusst wahrzunehmen. Dadurch haben wir Zeit, alles zu verarbeiten, einzuordnen und zu hinterfragen, und werden nicht an die von Walter Benjamin beschriebene Reizflut gewöhnt. Wir sollten uns zudem, wie der tschechoslowakische Medienphilosoph Vilém Flusser rät, informieren und mündig werden. So verhindern wir, dass wir im Chaos untergehen, das droht, wenn wir ständig von Wissen umgeben sind. Und wir können darüber hinaus unsere Kultur aktiv mitproduzieren, indem wir uns nicht immer konform, und so wie die Medienproduzenten es intendieren, verhalten, erklären Michel de Certeau und die Vertreter der Cultural Studies.
Nehmen wir uns doch die Begrüßungsworte „Cold Turkeys“ zu Herzen, die bei Programmstart erscheinen: „Admitting it is the first step.“ Sind wir uns also der Gefahr einer Abhängigkeit von den Medien bewusst und beobachten uns selbst und unseren Medienkonsum kontinuierlich, sinkt die Gefahr, unter einem medialen Diktat zu stehen, erheblich. Wir müssen uns bewusst machen, dass es nicht DIE Medien sind, die an allem schuld sind, sondern dass es auch wir sind, die unseren Teil dazu beitragen, wie sehr die Medien uns beeinflussen können.
Foto: flickr.com/Gongashan (CC BY-NC-ND 2.0)