Der moderne Meursault: “Solitude”

von Selina Juliana Sauskojus 

Leland P. Fitzgerald ersticht den behinderten Bruder seiner Freundin mit 20 Messerstichen. Ein Motiv finden weder Angehörige noch die Medien. In seinem Film Solitude: Die geheimnisvolle Welt des Leland Fitzgerald (2003) versucht Matthew Ryan Hoge, in Anlehnung an Der Fremde von Albert Camus, Erklärungen für das Handeln des Menschen zu finden.

1942 erschien in einem Pariser Verlag der Roman Der Fremde des algerisch-stämmigen Philosophen Albert Camus. Es gilt bis heute als eines der Hauptwerke des Existentialismus. Darin geht es um Meursault, einen Mann, der seine Umwelt zwar wahrnimmt, dieser aber weder Sympathie noch Empathie entgegenbringt. Als er einen Mann erschießt und in der Gefängniszelle auf die Vollstreckung seines Todesurteils wartet, gerät er ins Grübeln über sich und das Leben. Leland, der Protagonist von Matthew Ryan Hoge, grübelt aber schon lange bevor er sein Verbrechen begeht. Camus‘ Grundüberlegungen über den Unsinn des Lebens und die Machtlosigkeit des Individuums bekommen dadurch einen neuen Anstrich. Im modernen Kontext des Films verlieren sie jedoch ihre Relevanz.

„Warum ich es getan habe? Wegen der Traurigkeit.“

Der 16-jährige Leland (Ryan Gosling) ersticht, scheinbar grundlos Ryan, den behinderten Bruder seiner Freundin Becky (Jena Malone). Das Verbrechen schockiert Beteiligte und Unbeteiligte. Im Gefängnis scheint er jedoch einen Freund in seinem Lehrer Pearl (Don Cheadle) zu finden, der, nicht ganz uneigennützig, hinter die Motive des Einzelgängers kommen möchte. In zahlreichen Gesprächen wird das schwierige Verhältnis zum Vater (grandios als rüder Schriftsteller: Kevin Spacey), Gut und Böse und eine allgegenwärtige Traurigkeit gesprochen, die Leland überall zu erkennen glaubt. Indes kämpft Ryan’s Familie mit dem Verlust ihres geliebten Familienmitglieds. Dass Becky nebenbei mit Drogenproblemen und Liebeskummer zu kämpfen hat und ihre Schwester Julie (Michelle Williams) sich immer mehr von ihrem langjährigen Freund Allen (Chris Kline) entfernt, erleichtert die Trauerarbeit nicht gerade. Getrieben von der eigenen Trauer um seine Beziehung und dem Schmerz von Ryan’s Familie, glaubt Allen einen Weg zu finden, der allen Beteiligten Erlösung zu versprechen scheint.

Sinnsuche damals und heute

Camus‘ Romanfigur Meursault zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass er überhaupt nichts fühlt. Noch nicht einmal als er seine Mutter zu Grabe trägt, scheint er von irgendeiner Emotion gerührt zu sein. Er interessiert sich nicht für sein Umfeld, es sei denn es verschafft ihm kurzweilige Zerstreuung. Leland hingegen ist ein genauer Beobachter seiner Welt. Er sieht den geistig behinderten Ryan mit einer Empathie, die ihm andere Menschen nicht entgegenbringen. Er beobachtet eine große Traurigkeit in dem Jungen, die daher rührt, dass er wie ein Aussätziger behandelt wird und niemals die Chance auf ein normales Leben haben wird. Um diese Traurigkeit zu beenden bringt er ihn schließlich um. Diese Handlung steht konträr zur Grundaussage von Camus. In dessen Theorie des Existentialismus geht es darum, dass der Mensch erkennen müsse, dass er überhaupt nicht nach einem Sinn des Lebens zu suchen hätte, da es ihn sowieso nicht gebe. Je eher man fähig sei, dies zu akzeptieren, desto leichter lasse es sich leben. In Solitude wird diese Aussage umgekehrt. Leland vermisst einen positiven Sinn des Lebens, das Suchen nach Erfüllung und Glück,  und wird deswegen zum Mörder. Im historischen Kontext betrachtet sind die Veränderungen, die Hoge in sein Skript eingearbeitet hat, aber durchaus nachvollziehbar. Der Fremde entstand während des Zweiten Weltkrieges. Geprägt von dessen Eindrücken und seinen Erfahrungen als algerisch-stämmiger Franzose war eine existentialistische Weltsicht vermutlich tatsächlich befreiend. Nach unseren heutigen Maßstäben ist der Existentialismus ein eher deprimierendes philosophisches Konstrukt. Vor allem weil es viel einfacher zu sein scheint einen Sinn im Leben zu finden, sei es Reichtum, Liebe oder Gesundheit, als noch vor siebzig Jahren.

Der ewige Kampf zwischen Gut und Böse

Worin sich aber Vorlage und Film einig sind, ist die Auseinandersetzung mit Gut und Böse. Leland macht, wie der Protagonist des Romans, eine derartige Schwarz-Weiß-Unterscheidung nicht. Seiner Meinung ist sie ein von Menschen gemachtes Konstrukt, um das Leben und den Umgang damit leichter zu machen. Als Pearl Leland erzählt, dass er seine Freundin mit einer Arbeitskollegin betrogen hat, begründet er dies mit den Worten: „Ich habe einen Fehler gemacht, aber ich bin auch nur ein Mensch.“ Pearl impliziert damit eine Handlungsunfähigkeit, die dem Menschen innewohnt. Für Leland existiert eine solche Unfähigkeit nicht. Für ihn entscheiden sich Menschen bewusst für ihre Taten und benutzen Aussagen wie „Ich bin doch auch nur ein Mensch“ um negative Handlungen als natürliche Fehlleitungen zu rechtfertigen. Er räumt ein, dass auch er bewusst entschieden hat, Ryan umzubringen. Zu Beginn des Films ist der Zuschauer geneigt, Lelands Tat zu verurteilen (das ändert sich im Verlauf des Filmes auch nicht), aber schlussendlich sind die Motive, die zu einem Mord geführt haben nachvollziehbarer, als die Gründe, die Pearl dazu gebracht haben, seine Lebensgefährtin zu betrügen.

Fazit

Viele Kritiker erwarteten von dem Film eine Erklärung für Jugendgewalt in den USA. Am Ende waren sie enttäuscht, dass der Film darauf keine Antworten lieferte. Diesen Anspruch hat der Film auch überhaupt nicht. Genauso wenig will er das Werk Camus‘ eins zu eins in unsere Zeit übertragen. Durch den Protagonisten Leland wird der Zuschauer aufgefordert hinter die Fassade der Gesellschaft zu blicken, eine Gesellschaft voller Erwartungen, die nicht erfüllt werden können, seien es Erwartungen an die Zukunft, an die Mitmenschen oder an sich selbst. Dass diese erfüllten und unerfüllten Erwartungen intentionale Handlungen nach sich ziehen ist die Quintessenz, die Hoge dem Zuschauer am Ende mit auf den Weg gibt.

 

Fotos: 3L Vertrieb

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