Das war nicht mein Drehbuch! – Wenn die Geschichte nicht zum Skript passt

Von Lina Rößler und Lea Tautz

Die deutsch-französische Regisseurin und Drehbuchautorin Catherine Veaux-Logeat wollte die Vergangenheit ihrer deutschen Familie erkunden. Mit ihrem Dokumentarfilm „Entre mer et mur“ deckte sie jedoch mehr auf, als sie erwartet hatte. Im Interview mit Lina Rößler und Lea Tautz erzählt sie, wie die Berliner Mauer auch knapp 30 Jahre nach dem Fall immer noch zwischen den Familienmitgliedern steht.

Ihr Film „Entre mer et mur“ spiegelt einen Teil Ihrer Familiengeschichte wider. Wieso haben Sie sich für dieses doch sehr persönliche Thema entschieden?

Am Anfang wollte ich nur vom Cousin meiner Mutter erzählen: Frank, ein Seemann aus Hamburg, der durch den Bau der Berliner Mauer von seiner ersten großen Liebe getrennt wurde. Sein Leben war so interessant für mich, als ich klein war, und daher wollte ich wirklich immer nur über ihn berichten. Aber als ich ihn in Hamburg traf, sah ich, dass es so viele dunkle Seiten gibt, über die er nicht mit mir sprechen wollte – und von denen mir auch meine Mutter nichts gesagt hatte. Ich dachte: „Okay, es gibt hier etwas in meiner Familie, das ich nicht weiß – und das ich aber wissen muss und möchte.“ Dann bin ich zurück nach Montreal gereist, habe mit meiner Mutter geredet und gesehen, dass ich ein Problem habe: Ich habe mir Deutschland immer nur vorgestellt – und in Wahrheit ist es ganz anders. Damals war es die Entscheidung meiner Eltern, nach Kanada zu gehen und ich habe Deutschland immer vermisst. Beim Filmdreh habe ich dann gemerkt, dass meine Geschichte mit der Geschichte der anderen Familienmitglieder zusammenhängt – und ich deshalb auch meine Geschichte erzählen muss.

Franks Bruder Bernd, vermutlich ein ehemaliger Mitarbeiter der DDR-Geheimpolizei, spielt ebenfalls eine wichtige Rolle in „Entre mer et mur“. Wie ist er plötzlich mit in den Film gelangt?

Ich kannte Bernd zwar, aber nicht so gut. Ich habe immer nur gehört, dass er schlimm war und so weiter. Dann habe ich Frank gefragt, ob wir zu Bernd gehen können, aber Frank hat gesagt, er wolle nicht zu Bernd. Da habe ich gemerkt: Okay, es gibt auch hier ein Problem. Und so wurde Bernd eine weitere wichtige Person im Film. Ich hatte vorher nie über diesen Teil der Geschichte nachgedacht. Er war einfach da.

Bei der ersten Begegnung der beiden Brüder im Film sagt Frank zu Bernd: „Ich soll dich jetzt freundlich begrüßen…“ Wieso haben Sie sich entschieden, diese Szene genau so in den Film zu übernehmen und nicht neu zu drehen?

Als ich das Drehbuch für den Dokumentarfilm geschrieben habe, wusste ich nicht, dass es ein großes Problem zwischen den beiden Brüdern gibt. Das war nicht mein Drehbuch. Ich war da mit meiner Kamera und wir wollten den Film drehen – und plötzlich hat er das gesagt. Ich wusste gar nicht, was ich machen sollte. Aber die Kamerafrau Catherine, eine sehr, sehr gute Freundin, war da. Sie konnte nichts verstehen, weil sie nur Französisch spricht, aber sie war mit der Kamera da (atmet erleichtert aus und lacht). Dann haben wir das Interview mit Bernd geführt und als er für einen Moment in einen anderen Raum gegangen ist, habe ich Catherine gesagt: „Oh, là, là, ich habe hier einen Film, ich weiß nur noch nicht genau, was es für einer ist.“ Ich hatte verschiedene Fragen an Bernd und als ich ihn fragte, ob es noch eine Mauer zwischen ihm und Frank gibt, hat er gesagt: „Ja, es gibt noch eine Mauer.“

Im Film spielt die Mauer also nicht nur auf politischer, sondern auch auf emotionaler Ebene eine große Rolle. Inwiefern besteht die Mauer jetzt noch zwischen den anderen Familienmitgliedern?

Die Zeit während des Kalten Krieges und des Mauerbaus hat meine Mutter sehr geprägt und in große Angst versetzt. Als ich noch jünger war, haben wir oft über dieses Thema gesprochen. Heute sprechen wir jedoch nicht mehr viel darüber. Doch durch den Film wurde sie erneut mit ihrer Vergangenheit konfrontiert und wir waren sogar zusammen bei der Mauer und bei Bernd. Ich denke, dadurch konnte sie für sich mit diesem Thema endgültig abschließen – auch wenn immer noch eine gewisse Distanz zwischen den Familienmitgliedern zu spüren ist. Für meine Mutter war es ein großer Schritt, Deutschland und ihre damit verbundenen negativen Erinnerungen hinter sich zu lassen. Trotz allem hat sie innerlich ein Stück Mauer nach Kanada mitgebracht, denn sie hat mir ihren Teil dieser Geschichte oft erzählt. Und nun musste ich mich selbst auf die Suche begeben, um den anderen Teil der Geschichte herauszufinden.

Dafür haben Sie das Genre des Dokumentarfilms gewählt. Bis 2003 drehten Sie jedoch nur fiktionale Filme. Was fasziniert Sie nun an dokumentarischen Formaten?

Mein erster Beruf im Film war Script Superviser. Das bedeutet, dass ich mit einem Filmregisseur am Set war und alle Details für den Schnitt sehen musste. Das habe ich für Featurefilme, fiktionale Formate und Fernsehserien gemacht. Dabei konnte ich sehen: Für fiktionale Filme musst du dir immer alles selbst ausdenken, alle Charaktere sind erfunden. Aber im Dokumentarfilm sind sie schon da. Es gibt echte Menschen, die leben und einen Traum haben. Ich muss sie mir nicht ausdenken. Sie sind da und ich kann einen Film machen, der in der Realität spielt. Das ist es, was ich mag. Daher sind Dokumentarfilme sehr wichtig für mich. Hinzu kommt: Es gibt ein kleines Filmteam und ich bin freier als bei fiktionalen Filmen.

Man sagt, dass es in Kanada schwierig ist, finanzielle Unterstützung für Dokumentarfilme zu bekommen. Haben Sie das selbst auch so erlebt?

Ja, es ist in der Tat schwierig, Geld zu bekommen. Es braucht viel Zeit ab dem Moment, in dem du eine Idee hast und ein Drehbuch für einen Dokumentarfilm schreibst. Und dann dauert es vielleicht zwei, drei Jahre, bis du ein bisschen Geld dafür hast. Und dann musst du sofort anfangen und schon ist es plötzlich nicht mehr da. In der Realität musst du den Moment nutzen, weil du so viele Jahre warten musst, bis du Geld und Unterstützung bekommst. Das kann sehr schwierig sein – vor allem in Kanada, weil es dort wenig Geld und so viele Leute gibt, die einen Dokumentarfilm drehen wollen. Ich glaube, es ist sehr wichtig, dass wir in Kanada mit Europa – zum Beispiel Deutschland oder Frankreich – Kooperationen eingehen. Das wäre besser, um mehr finanzielle Möglichkeiten zu haben.

Sie haben deutsche und französische Wurzeln. Wie gehen Sie damit – zum Beispiel beim Fußballschauen – um?

Das ist immer sehr lustig! Wenn Deutschland gegen Frankreich spielt, ist es völlig egal, wer gewinnt, da gibt es am Ende immer etwas zu feiern (lacht). Aber grundsätzlich ist es sehr schwierig, beide Kulturen zu vereinen. Mein Vater ist Franzose, meine Mutter Deutsche. Ich bin in Frankreich geboren, später sind wir nach Kanada gezogen. Somit besitze ich quasi drei verschiedene Kulturen, aber gleichzeitig auch keine. Meine Identität stellte schon immer ein Problem für mich dar. Noch heute frage ich mich oft: „Zu welcher Nationalität gehöre ich wohl? Bin ich eine Kanadierin? Bin ich eine Europäerin?“ Ich weiß es nicht. Wenn du deine Heimat verlässt und in ein anderes Land gehst, dann geht auch etwas von deiner Identität verloren.

Wie geht Ihr Sohn damit um?

Der sagt ganz klar zu mir: „Ich bin Kanadier!“ Und ich akzeptiere das natürlich. Ich würde ihm nie sagen, dass ich nicht weiß, wozu ich gehöre – aber ich glaube, er merkt, dass seine Mutter ein Problem mit ihrer Identität hat. Mein Problem soll aber nicht auf ihn übertragen werden. Das ist vielleicht ein Grund, warum ich diesen Film gedreht habe. Mein Sohn war sieben Jahre alt, als der Film fertig war; ich war sieben Jahre alt, als wir nach Montreal gezogen sind. Es gibt viele symbolische Verbindungen mit der Entstehung dieses Films.

Haben Sie deutsche Rituale oder Traditionen, denen Sie auch in Kanada nachgehen?

Ja! Bei uns gibt es jedes Jahr einen Adventskalender. An Weihnachten sitzen wir abends mit meiner Mutter zusammen und essen Kekse, Streuselkuchen und Stollen. Dieses Ritual ist meiner Familie und mir sehr wichtig. Wir feiern Weihnachten und Ostern genau wie in Deutschland. Außerdem hat mein Sohn eine Schultüte zur Einschulung in Montreal bekommen. Die Leute dort kannten das nicht und fragten: „Was ist das denn?“ Diese Schultüte habe ich in meinem kleinen Koffer von Deutschland nach Kanada mitgebracht. Mein Sohn war begeistert und erzählte seinen Freunden stolz, dass diese Tradition aus Deutschland kommt. Ich kaufte ihm auch ein paar Bücher auf Deutsch, Schokolade und Gummibärchen. Wir haben hier in Montreal sogar Läden, die Kasseler, Würstchen, Vollkornbrot und solche typisch deutschen Dinge verkaufen.

Sie haben bereits erwähnt, dass Sie Deutschland vermissen und jedes Jahr wieder hierherkommen. Könnten Sie sich vorstellen, nach Deutschland zu ziehen?

Ich war 1994 für drei Monate in einem deutschen Studio als Script Supervisor tätig. Wir drehten also in Deutschland und ich dachte: „Oh, vielleicht sollte ich einfach hierbleiben!“ Aber ich war relativ neu in diesem Geschäft und hatte viele attraktive Angebote aus Montreal bekommen, also bin ich wieder zurück nach Kanada gegangen. Später habe ich noch einmal einen ganzen Monat in Deutschland bei der Berlinale gearbeitet. Da kam mir wieder der Gedanke: „Oh, ich will hierbleiben, ich muss hierbleiben!“ Allerdings musste ich diesmal wegen eines anderen Films nach Frankreich reisen und im Anschluss bin ich direkt wieder zurück nach Kanada geflogen. Aber ich denke oft daran, nach Deutschland zu ziehen. Ich habe diesen Traum, dass mein Sohn, sobald er etwas älter ist, eine Schule in Deutschland oder Frankreich besuchen wird. Denn dann hätte ich einen sehr guten Grund, zurück nach Europa zu gehen (lacht).

Zur Person

Catherine Veaux-Logeat wuchs zweisprachig auf: Ihre Mutter ist Deutsche, ihr Vater Franzose. Catherine selbst wurde in Frankreich geboren. Im Alter von sieben Jahren wanderte ihre Familie nach Québec, Kanada aus. Bevor sie in das Filmbusiness einstieg, fing sie 1989 an zu studieren und absolvierte ihren Bachelor in Communication/Cinéma.

Lina Rößler (23) und Lea Tautz (21) studieren Medienwissenschaft an der Universität Tübingen. Sie waren sehr beeindruckt von ihrer Interviewpartnerin Catherine Veaux-Logeat, die als eine sehr liebevolle und lebenslustige Person das erste Interview der beiden zu einer tollen Erfahrung machte.

Quelle des Fotos: Französische Filmtage Tübingen