Akzeptieren wir Überwachung aus Bequemlichkeit? Ein Interview über die gesellschaftliche Entwicklung der Überwachung

Von Dilara Erkem

Dank Prof. Dr. Klaus Sachs-Hombach feierte Tübingen am 13. Mai schon zum achten Jahr in Folge das Kurzfilm-Festival „Tübinale“. Er gilt als Experte in Medien- und Kommunikationstheorien in historischer und systematischer Ausrichtung. In diesem Jahr drehte sich bei der Tübinale alles rund ums Thema Überwachung. Als Verantwortlicher der Vorlesung „Medienwandel und Medienkonvergenz“ hat er sich unseren Fragen gestellt und regt zur kritischen Auseinandersetzung mit dem Thema Überwachung und den daraus resultierenden gesellschaftlichen Folgen an. 

Dilara Erkem: Die Berichtserstattung hat in letzter Zeit in vielen Menschen die Sorge entstehen lassen, durch ihre Mediennutzung der Kontrolle und Überwachung ausgeliefert zu sein. Aktuell wurde dieses Thema stark mit Facebook in Verbindung gebracht. Das Unternehmen reagierte und wirbt seit kurzem um das Vertrauen seiner Nutzer, indem es verspricht, in Sachen Datenschutz und Nutzerrechten nachzurüsten.  Wie glaubhaft sind solche Versprechen aus Ihrer Sicht?

Prof. Dr. Sachs-Hombach: Ich halte solche Versprechen für wenig glaubhaft. Facebook muss natürlich sicherstellen, dass ein Missbrauch der Daten verhindert wird. Der entscheidende Punkt ist jedoch, dass Facebook eine gigantische Werbefirma ist. Die Nutzung von Facebook ist daher nicht umsonst, vielmehr bezahlen die Nutzer damit, dass sie ihre Daten freiwillig verfügbar machen, so dass aufgrund spezifischer Algorithmen personalisierte Werbebotschaften bereitgestellt werden können. Das ist die Grundidee, damit verdient Facebook sein Geld. Eine gezielte Überwachung der Nutzer mag nicht das Ziel von Facebook sein. Insofern ist „Überwachung“ in diesem Kontext ein schwieriger Ausdruck. Jeder sollte sich aber darüber im Klaren sein, dass durch die umfangreiche Erfassung und Auswertung der Nutzerdaten eine Überwachung jederzeit möglich wäre.

Für wirtschaftliche Unternehmen ermöglicht die Überwachung der Kunden und deren Nutzungsverhalten den Einsatz gezielter Werbemaßnahmen. Dieses Phänomen ist bekannt und trotzdem lassen sich viele Konsumenten auf eine solche Überwachung freiwillig ein, beispielsweise durch Kundenkarten. Hat die Überwachungsgesellschaft hier ihre Bedrohlichkeit verloren?

Ich glaube, dass solche Kundenbindungsprogramme oft nicht als Überwachung empfunden werden. Hier überwiegt bei den meisten Nutzern der Bequemlichkeitseffekt. Als Kunde erhält man für seine Treue zudem einen gewissen, sicherlich eher geringen Vorteil beim Einkauf. Hier müsste ein Umdenken angestoßen werden und ein Bewusstsein dafür entstehen, dass sich das individuelle Verhalten auf die Gesamtgesellschaft auswirkt. Der einzelne Konsument stellt zwar nur die eigenen Daten zur Verfügung, was sein gutes Recht ist. Der Irrtum liegt aber im Glauben, dass dies keine gesamtgesellschaftlichen Konsequenzen zeitigt. In ihrer Summe wirken sich die vielen Einzeldaten durchaus auf die Gesamtgesellschaft aus, indem sie etwa bestimmte Formen des Konsums fördern. Es fehlt also eine hinreichende Aufklärung über die negativen Folgen der Personalisierung aller Konsumangebote.

Wie könnte, ihrer Meinung nach, ein besseres Bewusstsein über die gesellschaftlichen Konsequenzen massenhafter Datenhaltung erreicht werden?

In den 70er und 80er Jahren gab es durchaus eine kritische Haltung und teilweise auch Proteste gegen Datenerhebungen. Ich vermute, dass viele Menschen heute unpolitischer geworden sind. Das betrifft insbesondere auch jüngere Menschen, die ihre persönlichen Karrieren verfolgen, aber das Interesse an einem politischen Zugang zur Gesellschaft verloren zu haben scheinen. Vielleicht empfinden viele Menschen auch ein Ohnmachtsgefühl und sehen sich nicht in der Lage, gesellschaftlich etwas zu ändern. Es wäre sicherlich hilfreich, wenn mehr Menschen die gesellschaftlichen Implikationen des eigenes Verhalten reflektieren und sich um eine gemeinsame Abstimmung ihrer Interessen bemühen würden.

Überwachung bedeutet für viele Menschen nicht Angst vor Kontrolle, sondern die Suche nach Sicherheit. Seit 9/11 befürworten viele eine ständige Videoüberwachung, um mögliche terroristische Anschläge zu verhindern. Der heimliche Zugriff und die Speicherung unserer Daten, Webcams und Bilder wird aufgrund vorherrschender Angst und dem Wunsch nach Sicherheit akzeptiert. Ist eine Überwachungsgesellschaft die einzige Möglichkeit einer sicheren Zukunft?

Der Wunsch nach Sicherheit ist natürlich legitim – niemand möchte in Angst leben. Die Videoüberwachung erfüllt den Wunsch jedoch nur sehr eingeschränkt. Ohne eine Auswertung des umfangreichen Materials kann mit Kameras ohnehin keine Sicherheit hergestellt werden. Untersuchungen zu diesem Thema zeigen zudem, dass Videoüberwachung, wie sie zum Beispiel in großem Maße in England betrieben wird, an der Anzahl der Straftaten nichts ändert. Zuweilen ist sogar die Qualität der Videoaufnahmen nicht ausreichend, um Täter zu identifizieren. Letztlich lässt sich hier fragen, ob der Aufwand in einem angemessenen Verhältnis zum Ertrag steht. Vor allem glaube ich nicht, dass mit einer flächendeckenden Videoüberwachung die grundsätzlichen Probleme der Gesellschaft gelöst werden können. Bestenfalls verlagert sie das Problem. Um Gewalt und Kriminalität zu verhindern, müsste man die Ursachen bekämpfen. Daher scheint es mir aussichtsreicher, zumindest einen Teil des Geldes, das in die technische Aufrüstung investiert wird, eher zur Klärung der Problemursache zu verwenden.

Homeland, Person of Interest oder Black Mirror. Bilder der Überwachung werden in Serienproduktionen in Szene gesetzt. Oft wird eine düstere Welt der umfassenden Überwachung und Spionage inszeniert. Für viele wirkt es besonders dann unheimlich, wenn die in der Serie dargestellte Welt der Realität erschreckend nahekommt. Für wie realistisch halten Sie die Zukunftsvisionen solcher Serien?

Überwachung wird auf sehr unterschiedliche Art und Weise dargestellt. Manche Serienproduktionen versuchen mit einer positiven Darstellung der Überwachung das Thema für die Gesellschaft akzeptabel zu machen. Dementsprechend kann die Darstellung von Überwachung als eine Maßnahme verstanden werden, um die Menschen an den Gedanken, überwacht zu werden, zu gewöhnen. Auch wenn viele der dargestellten technischen Mittel in den bekannten Serien realistisch scheinen, vermitteln sie doch eine affirmative, ideologisch aufgeladene Sicht der Überwachung. Es gibt aber auch Produktionen, die das emotionale Empfinden der Überwachten stärker in den Mittelpunkt rücken. Siehe etwa „Citizenfour“ von Laura Poitras. Ich halte diese kritischen Darstellungen für sehr wichtig.

Kann man sich in unserer Gesellschaft überhaupt noch vor Überwachung schützen? Und wenn ja, wie?

Das ist eine sehr schwierige Frage und hängt letztlich auch davon ab, wie sehr man selbst an den gesellschaftlichen Angeboten weiterhin teilnehmen möchte. Beispielsweise ist heute ja vieles ohne einen Internetzugang gar nicht mehr möglich. Sicherlich kann man darauf achten, welche Daten man wem zur Verfügung stellt. Vor allem halte ich es für wichtig, ein Bewusstsein für die Folgen und die gesellschaftliche Entwicklung zu schaffen.

Tübinale und Surveillance 2.0: alles im Zeichen der Überwachung

Auch die Tübinale 2019 hat sich mit den Folgen und den aktuellen sowie historischen Entwicklungen der Überwachung beschäftigt. Am Montag, dem 13. Mai, fand zunächst eine Tagung in der Alten Aula der Universität Tübingen statt, sie wurde von Studierenden des Masterstudiengangs Medienwissenschaft organisiert. Unter dem Titel „Surveillance 2.0 – Zwischen Kontrolle und Komfort“ gab es vier spannende Vorträge von Dr. Dietmar Kammerer von der Universität Marburg, Dr. Nils Zurawski von der Universität Hamburg, Maria Wilhelm von der Stiftung Datenschutz (Referentin der Stabstelle Europa) und Gene Engler (Marketing und Werbung), die sich alle wissenschaftlich oder praktisch mit dem Phänomen der Überwachung beschäftigt haben.

Zudem durften sich die Besucher über eine öffentliche Debatte zu den Folgen der Überwachungsgesellschaft freuen. Auch hier waren es Studierende aus dem Masterstudiengang, die miteinander diskutierten, ob man künftig die Beiträge von Versicherungen an gesundheitliche Daten koppeln sollte, die über eine Smartwatch generiert werden.

Doch damit war der aufregende Tag noch lange nicht vorbei: Am Abend ging es dann thematisch  passend weiter mit der Tübinale, die dieses Jahr schon zum achten Mal stattfand. Die Bachelor-Student*innen haben das Phänomen Überwachung von ganz verschiedenen Seiten betrachtet und konnten beweisen, dass sie ihr theoretisches Wissen aus den Seminaren auch praktisch super anwenden können. Welche einzigartigen Werke auf dem Kurzfilm-Festival gezeigt wurden und welche Teams die Preise „Beste Kamera“, „Beste Idee“, „Bester Film“ und den Publikumspreis abgeräumt haben, könnt ihr euch in diesem Video ansehen: