Konstruktiver Journalismus in der Praxis – bei der Wüsten Welle Tübingen
Von Chrissi Maierhöfer
Dass Konstruktiver Journalismus und medienpraktisches Engagement zusammenhängen, liegt mittlerweile auf der Hand. Doch wie sehen das die „konstruktiven Journalist*innen“ selbst und was halten sie überhaupt von diesem Konzept? Und wie geht man mit den Kritikern um? Für Teil 4 der Reihe zu Medienpraxis und sozialem Engagement haben wir bei der Wüsten Welle in Tübingen nachgefragt.
Öffentlich-rechtlich oder privat, staatlich oder kommerziell? Nicht nur im Fernsehen herrscht diese Dichotomie vor, auch die meisten Radiosender sind entweder durch Rundfunkgebühren oder durch das Schalten von Werbung finanziert. Was viele nicht wissen: Es gibt noch eine dritte Säule in der Radiolandschaft neben den zwei großen Gruppen der Rundfunkveranstalter – die Freien Radios.
Freies Radio? Was soll das denn sein?
Als offene, selbstbestimmte und nicht-kommerzielle Sender haben die freien Radios das Ziel Gesellschaftsrundfunk zu betreiben und damit das Prinzip der freien Meinungsäußerung weiter zu unterstützen. Sie werden daher auch als dritte Säule der deutschen Medienlandschaft bezeichnet. Dabei sind Freie Radios besonders auf eine Vielzahl von ehrenamtlichen Mitarbeiter*innen und Sendungsmachenden angewiesen. Teilweise finanzieren sich Freie Radios als Vereine zumindest in Stücken durch Mitgliedsbeiträge. In dem Konzept der Freien Radios werden somit ehrenamtliches Engagement und Medienpraxis nahezu perfekt verwoben, wie es in sonst kaum einer Institution geschieht. Auch hier spielt die Idee des Konstruktiven Journalismus (mehr dazu hier) eine bedeutende Rolle. Aus diesem Grund ist es naheliegend, direkt bei einem Freien Radio nachzufragen – und glücklicherweise haben wir mit der Wüsten Welle in Tübingen direkt eines vor unserer Haustür!
Beantwortet hat uns unsere Fragen Matthias Xander, oder besser: Matzel. Er ist seit 1997 ehrenamtlicher Sendungsmacher und seit 2008 hauptamtlich in den Bereichen Projektarbeit, Verwaltung, Öffentlichkeitsarbeit und Medienpädagogik bei der Wüsten Welle in Tübingen tätig.
Das Freie Radio in Tübingen und Umgebung – die Wüste Welle
Was die Wüste Welle ausmacht, ihre Ziele und Prinzipien, kann Matzel am besten selbst beschreiben:
„Die Wüste Welle ist das einzige Freie Radio für die Region Tübingen, Reutlingen und Rottenburg. Wir bieten eine inhaltliche Alternative zum Mainstream im Rundfunk. Bei uns gibt es Musik und Themen, die bei den öffentlich-rechtlichen und den privat-kommerziellen Sendern vernachlässigt werden.“
Seit 1995 gibt es die Wüste Welle in Tübingen. Den Prinzipien der freien Radios folgend versteht sie sich als selbstbestimmtes und offenes Medium mit dem Ziel der Verwirrklichung des Grundrechts auf freie Meinungsäußerung – für alle. Hauptsächlich werden die Sendungen von Freiwilligen gemacht, die alle Facetten unserer Gesellschaft wiederspiegeln, jede*r kann sich in dem Angebot der Wüsten Welle selbst verwirklichen. Wie Matzel sagt:
„Die Wüste Welle steht für Offenheit und Unabhängigkeit im Äther. Wir wollen ein Treffpunkt für Menschen aus der Region sein, die sonst vielleicht nicht zueinander gefunden hätten. Die Wüste Welle steht für Ehrenamt und freiwillige Arbeit. Ohne diese würde das Radio so nicht existieren (…) Tübinger*innen und Reutlinger*innen machen hier ehrenamtlich Radio, das nicht wie die Privatradios dem Streben nach Profit unterworfen ist.“
Dabei wird nicht nur ehrenamtliches Engagement, sondern auch eine medienpädagogische Ausbildung, sowie Jugend- und Integrationsarbeit gefördert.
Von den Tücken und den Vorteilen des Konstruktiven Journalismus in der Praxis
Trotz der vielen positiven Aspekte, die Konstruktiver Journalismus in der Theorie mitbringt, ist er doch auch immer wieder vereinzelt Kritik ausgesetzt. Einer der Vorwürfe ist, dass durch diese Art der Berichterstattung die Objektivität der Berichterstattung verloren geht und „Meinungsmache“ betrieben wird. Wie sieht Matzel das?
„Wenn man positive Berichterstattung in seinem nahen Umfeld sucht und dabei mit Menschen spricht, mit denen man persönlich verbunden ist, ist die Gefahr zu großer Nähe bis hin zum Gefälligkeitsinterview vorhanden.“
Konstruktiven Journalismus zu betreiben, hat also durchaus seine Tücken und erfordert aktives Mitdenken der Medienschaffenden. Dennoch sagt Matzel zu dem konkreten Vorwurf der fehlenden Objektivität und der Meinungsmache:
„Der Vorwurf ist nicht gerechtfertigt. Ich halte diese Art von Journalismus für positiv, denn er zeigt Haltung. Diese Haltung kann Vorbildfunktion haben und Lösungsansätze aufzeigen, Utopien darstellen und das Zusammenleben in einer offenen Gesellschaft als erstrebenswert darstellen. Unsere lokal verankerten Strukturen sind für Konstruktiven Journalismus besser geeignet, als ständig dem nächsten Skandal hinterherzujagen. Mir persönlich ist zudem ein weniger konfrontativer Umgang mit Gesprächspartnern insgesamt lieber als aggressives und hektisches Bohren. Gerade was die Berichterstattung zum Thema Flucht und Migration angeht, halte ich es für enorm wichtig, nicht über die Betroffenen zu sprechen, sondern sie selbst zu Wort kommen zu lassen.“
Diese Art der Berichterstattung und die Haltung die dahintersteht, ebenso wie der Einbezug zahlreicher Ehrenamtlicher aus der Region ist auch das, was die Hörer*innen der Wüsten Welle an den Beiträgen zu begeistern scheint:
„Der positive Tenor der Rückmeldungen bezieht sich besonders auf ein hohes Maß an Authentizität im Zusammenhang mit den vielen ehrenamtlichen Sendungsmachenden aus der Region. Die regionale Komponente ist auch inhaltlich eine Stärke, die ankommt, sowohl bei Menschen, die niederschwellig ihre Inhalte ins Radio bringen können, als auch bei den Hörenden, die Themen aus ihrem Umfeld erfrischend anders erfahren.“
Selbst aktiv werden!
Wer nun richtig Lust auf Konstruktiven Journalismus im Bereich Hörfunk bekommen hat, oder das Konzept der Wüsten Welle begeistert, kann in Raum Tübingen immer auf der 96,6 Mhz reinhören oder weiter spannende Infos auf der Website finden.
Ehrenamtliche Sendungsmacher*innen mit kreativen, neuen Ideen sind immer gerne gesehen. Wer mehr Zeit hat und sich gerne mal im Bereich Hörfunk ausprobieren will, kann vielleicht sogar einen Praktikumsplatz ergattern. Auch durch eine Mitgliedschaft kann man das weitere Bestehen der Wüsten Welle unterstützen!
Um dem Konzept des Konstruktiven Journalismus treu zu bleiben, beziehen wir uns in unserer Berichterstattung natürlich auch nicht nur auf eine Quelle, in diesem Fall die Wüste Welle. Für den kommenden Beitrag haben wir unsere Fragen an Konstruktive Journalist*innen der „World Citizen School“ in Tübingen gestellt. Was wir dort für Antworten bekommen haben, erfahrt ihr bald. An dieser Stelle noch einmal herzlichen Dank an Matzel und die Wüste Welle, für ihre Bereitschaft, unsere Fragen zu beantworten und ihr Engagement!